Ausgabe Februar 1992

Normalität als Utopie

Immer weniger habe sie, sagt die Kinderärztin, mit wirklichen physischen Kinderkrankheiten zu tun: Drogensucht, Liebeskummer, Elternhaß, Lebensmüdigkeit seien die heute immer häufiger auftretenden Beschwerden ihrer Patienten. Und der Lehrer Dr. Specht dürfte bald einsehen, daß auch sein Problem, den Dichter Goethe, den er durch einen unkonventionellen Einstieg („er hat gesoffen") „von seinem Sockel geholt hat", wieder auf denselben „raufzukriegen", nur ein marginales ist. Dem Gesetz der Serie folgend, wird seine Berufsfunktion, obwohl sie die dramaturgische Struktur bestimmt, kaum als normale Arbeit gezeigt: wetten, daß wir nicht mehr sehen werden, wie das mit dem Goethe weiterging!

Denn längst wird, in der alltäglichen Fernseh-Fiktion, ernstgenommen, was wirkliche Pfarrer, Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Psychologen, Jugendämter etc. längst erkannt haben: daß ihre normale berufliche Tätigkeit, die darauf angelegt ist, Pannen in einer im Grunde auf Selbstheilung angelegten Gesellschaft in Ordnung zu bringen, längst zur Sisyphos-Strampelei geworden ist. Immer mehr Krankheiten sind nur noch Symptome, deren Ursachen gegen Medikamente immun sind, Sozialarbeiter finden für ihre Umpflanztätigkeit keinen Humus mehr. Den kulturellen Reparaturbrigaden sind die Schaltpläne abhanden gekommen, Rat und Tat sind geschiedene Leute.

Februar 1992

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