Ausgabe November 2009

Die Freiheit droht schäublesweise zu sterben

Laudatio auf Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), gehalten von Rolf Gössner auf der BigBrotherAward-Preisverleihung am 16. Oktober 2009 (Auszüge)

Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble erhält den BigBrotherAward in der Kategorie „Lifetime“ für den Umbau des BKA in ein zentrales deutsches FBI mit geheimpolizeilichen Befugnissen zur präventiven Vorfeldausforschung, für die Legalisierung der heimlichen Online-Durchsuchung von Computern, für die Errichtung einer gemeinsamen Antiterrordatei sowie einer neuen Abhörzentrale für alle Sicherheitsbehörden. Besonders „preiswürdig“ sind Schäubles obsessive Bestrebungen, den demokratischen Rechtsstaat in einen präventiv-autoritären Sicherheitsstaat umzubauen. Dies führte zu einer gefährlichen Entgrenzung von Polizei, Geheimdiensten und Militär und damit zu einer Gefährdung von Bürgerrechten, Datenschutz und Demokratie. [...] Vor einer auch und gerade von ihm stark überzeichneten Bedrohungskulisse versuchte sich Schäuble als Retter in der Not – mit einem wahren Stakkato grundrechtssprengender Denkanschläge, die er fast täglich verübte. In seinem Eifer schreckte der Preisträger selbst vor Ideen aus dem Arsenal von Diktaturen nicht zurück: Internierung islamistischer „Gefährder“, denen keine Straftat nachzuweisen ist, Nutzung erfolterter Aussagen durch deutsche Sicherheitsorgane, gezielte Tötung von Topp-Terroristen – Denkansätze eines Sicherheitsministers im Ausnahmezustand, dem offenbar jegliches Unrechtsbewusstsein, aber auch der Realitätsbezug abhanden gekommen sind. [...] Was der Minister mit seinen menschenrechtswidrigen Vorschlägen erreichte, ist eine gefährliche Enttabuisierung, die an die demokratischen Grundfesten rührt und einer weiteren Entfesselung staatlicher Gewalten den Weg ebnet. Das zeigen seine Überlegungen, Terroristen als Feinde der Rechtsordnung teilweise rechtlos zu stellen; das zeigt aber auch seine provokante Äußerung, bei der Terrorabwehr gebe es nun mal keine Unschuldsvermutung – womit er eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften für weitgehend erledigt erklärt. In Schäubles präventiver Sicherheitskonzeption mutiert der Mensch zum Sicherheitsrisiko und die „Sicherheit“ zum Supergrundrecht, das alle Bürgerrechte – als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates – praktisch in den Schatten stellt. [...] Schäuble ließ selbst zu Ende seiner Ministerzeit nicht locker, wie eine giftige Hinterlassenschaft seines Ministeriums beweist: Eine sicherheitspolitische Horrorliste soll der neuen Regierungskoalition als Agenda dienen, auf der all jene Instrumente stehen, die Schäuble in der großen Koalition nicht durchsetzen konnte – vom erweiterten Bundeswehreinsatz im Innern bis zur „Fortentwicklung des Verfassungsschutzes“ zu einer neuen Geheimpolizei. Wo soll das alles enden? Wo doch schon angesichts der bisherigen Sicherheitsgesetze das Bundesverfassungsgericht kaum noch nachkommt, etliche davon ganz oder teilweise für verfassungswidrig zu erklären. [...] „Alle grundrechtlich geschützten Bereiche“, so Schäuble, „enden irgendwo“ – und er nimmt davon auch die Menschenwürde nicht aus. Damit stellt er ihre Unantastbarkeit in Frage, letztlich den Kernbestand des Grundgesetzes. Der konservative Verfassungsrichter Udo di Fabio warnte – mit Blick auf Schäuble - vor einem „präventionstechnischen Überbietungswettbewerb“ im Kampf gegen den Terror und vor der „intellektuellen Lust am antizipierten Ausnahmezustand“. [...] Auch wenn die Freiheit schäublesweise zu sterben droht – so möchten wir heute auch positiv denken. Denn der Innenminister hat sich ganz nebenbei und durchaus unfreiwillig beachtliche Verdienste um das Datenschutzbewusstsein der Bürger erworben: Ziehen diese doch inzwischen zu Zehntausenden vor das BVerfG, um gegen die Vorratsdatenspeicherung zu klagen [...].

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo