Ausgabe November 1995

Rede von Premierminister Alain Juppé am Institut des Hautes Études de Défense Nationale in Paris am 7. September 1995 (Auszug)

Es wird Sie wohl nicht überraschen, wenn ich den Hauptteil meiner Ausführungen ganz bewußt der nuklearen Abschreckung widme. Diese Frage steht seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Brennpunkt der internationalen Diskussion. Sie ist auch in Frankreich hochaktuell, denn wir beschäftigen uns zur Zeit ganz intensiv mit unserer Verteidigungspolitik, und aufgrund unserer letzten Atomversuche stehen wir im Mittelpunkt einer internationalen Diskussion.

1. Lassen Sie uns erstens feststellen, daß die Geschichte die von Frankreich im Laufe der letzten 50 Jahre getroffenen Entscheidungen voll bestätigt hat.
a) Die Tatsache, daß wir über die Atomwaffe verfügen, hat Frankreich zunächst auf der Weltbühne eine bedeutendere Rolle zugewiesen, als unserem Land rein rechnerisch zugestanden hätte. Unser Einfluß als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat ist ein Beispiel dafür, wenn auch die Wahl der fünf Mitglieder ursprünglich, und aus gutem Grund, nicht nach dem Nuklearkriterium getroffen wurde. Die Zeiten haben sich jedoch geändert. Die Tatsache, daß man seit einigen Jahren mit dem Gedanken spielt, Länder wie Deutschland und Japan in den Sicherheitsrat aufzunehmen, weist nicht nur darauf hin, daß die Nachkriegszeit endgültig vorbei ist. Sie bringt auch zum Ausdruck, daß Großmacht- und Nuklearstatus nicht mehr unbedingt zusammenhängen. Frankreich hat sich übrigens öffentlich für die Aufnahme dieser beiden großen Länder als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat ausgesprochen.
b) Zweitens hat uns die Atomwaffe eine Entscheidungsfreiheit gewährt, die wir sonst kaum gehabt hätten. Die Suez-Ereignisse im Jahre 1956 haben für die Notwendigkeit einer größeren politischen Eigenständigkeit der französischen Politik einen eindeutigen Beweis erbracht. Die nationale Abschreckungswaffe hat zweifelsohne diese Rolle gespielt. Wir müssen uns jedoch bewußt sein, daß wir nun in einer Welt leben, in der Interdependenz, die großen geistigen Strömungen und die Öffnung der Grenzen ebenso starke Antriebskräfte darstellen wie das nationale Interesse und die Souveränität. Die Zukunft der Nation wird immer stärker im Zusammenwirken mit allen europäischen Ländern entschieden werden, und die Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten werden jetzt partnerschaftlicher ausfallen als in Zeiten der Konfrontation zwischen den beiden Supermächten: Dies erweitert zwangsläufig unsere Perspektiven.
c) Schließlich hat die französische Abschreckungsstreitmacht einen Unsicherheitsfaktor in das Kalkül der sowjetischen Militärstrategen hineingetragen. Sie war ein eigenständiger Faktor, der zweifelsohne die Ausarbeitung der Militärstrategie des ehemaligen kommunistischen Regimes erschwert hat. Wenn es auch schwierig ist, schlüssig zu beweisen, daß das fünfzig-jährige Ausbleiben eines Kriegs in Europa allein auf die nukleare Abschreckung zurückzuführen ist, so kann man doch behaupten, daß die französischen Atomwaffen im Rahmen der westlichen Abschreckung eine Sonderrolle gespielt und dazu beigetragen haben, das westliche Abschreckungspotential zugunsten des Friedens in Europa zu stärken. Der Zusammenbruch der Sowjetunion scheint aber dieser Wahrheit jetzt historischen Charakter zu geben. [...]

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