Ausgabe Mai 2010

Zahlenspieler und Müßiggänger

Leuchtendes Grün, satte Wiesen, entspannte Menschen: Man kann die Sonne spüren und den Frühling förmlich riechen beim Betrachten der ersten Seite des Gesellschaftsteils der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag“ vom 7. März 2010. Das Foto indes zeigt, so die Bildunterschrift, einen „weiteren harten Arbeitstag in Berlin“ – und übersieht dabei geflissentlich, dass die Aufnahme von einem Sonntag im April 2007 stammt.

Doch die Suggestion genügt, um dem Anliegen des Artikels „Hauptstadt der Müßiggänger” gerecht zu werden – die Autorin Carole Koch berichtet von ihrem „Erholungsurlaub in der gemütlichsten Metropole nördlich der Alpen, dort wo das Leben ein bisschen mehr Ponyhof sein kann als anderswo“ und konstatiert schon im Teaser: „Kein Wunder, geht Deutschland das Geld aus. Allein in Berlin leben schätzungsweise siebzig Prozent der Bevölkerung vom Staat.“

Siebzig Prozent ?! Angestachelt von eigener Neugier und durch Anrufe erstaunter Verwandter und Freunde, mache ich mich an die Recherche, die zu einer regelrechten Odyssee werden soll.

Eine Quelle für die zitierte Schätzung nennt die Autorin nicht, und auch auf Nachfrage ist keine Information zu bekommen, die die Zahl zu belegt. Ein erster Hinweis auf den Ursprung der 70 Prozent gibt ein Videokommentar von Roger Köppel, ehemals Chefredakteur der „Welt“ und seither Eigentümer, Verleger, Herausgeber und Chefredakteur der rechtsliberalen Schweizer Wochenzeitung „Weltwoche”. Köppel zitiert eine Studie des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung aus seiner Zeit in Deutschland (2004-2006), die aufzeige, dass 42 Prozent aller Wahlberechtigten mehr als die Hälfte ihres Einkommens von Renten oder Sozialleistungen beziehe. Köppel fügt dann – ohne Quellenangabe – hinzu, dass in Berlin 70 Prozent aller Leute direkt vom Sozialstaat leben würden.

Und tatsächlich findet sich im „Stern“ vom 19. Mai 2004 ein Beitrag von ifo-Chef Hans-Werner Sinn, der im letzten Absatz postuliert: „41 Prozent der erwachsenen Deutschen leben von staatlichen Renten, Pensionen, Arbeitslosengeldern, Sozialhilfeleistungen, Bafög und ähnlichen Transfers.“ Eine wissenschaftliche Studie, um diese Zahlen zu untermauern, findet sich allerdings weder auf den Seiten des ifo-Instituts noch auf Nachfrage. Was auch kein Wunder ist, weil bereits die Subsumtion unter den Transferbegriff an der Sache vorbeigeht. Sinn wirft nämlich Transferleistungen – Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Ausbildungshilfen, Elterngeld, Kindergeld, Wohngeld, Eigenheimzulage – in einen Topf mit Renten, Pensionen, Kranken- und Pflegegeld, obwohl dies keine Transferleistungen sind, sondern dafür Gegenleistungen erbracht wurden.

Dagegen weit und breit kein Hinweis auf die ominösen 70 Prozent, die nach angeblicher Schätzung in Berlin „direkt oder indirekt am Staatsportemonnaie knabbern“. Auch Stadtverwaltung und Stadtpolitik sind keine große Hilfe: Die Berliner Presse- und Informationsämter wissen von nichts, die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales kann nicht weiterhelfen, auch im Ausschuss für Integration, Arbeit, Berufliche Bildung und Soziales herrscht Ratlosigkeit.

Die Zweifel an den 70 Prozent verdichten sich beim Studium des Statistischen Jahrbuchs: Von Berlins 3,416 Millionen Einwohnern sind 52,7 Prozent Erwerbspersonen, es gibt demnach rund 1,8 Millionen Personen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. 2008 gab es in Berlin 1,64 Millionen Erwerbstätige, das entspricht 46 Prozent der Gesamtbevölkerung und 86 Prozent aller Erwerbspersonen. Die Arbeitslosenquote unter den Erwerbspersonen betrug im 2008er Jahresdurchschnitt 13,9 Prozent. Wie sollte man da auf 70 Prozent Staatsalimentierte kommen?

Doch dann tauchen die ominösen 70 Prozent doch noch auf: Das sich selbst als anarchokapitalistisch bezeichnende „Libertäre Institut“ – nach eigener Beschreibung „Deutschlands einziger radikal-liberaler und pro-kapitalistischer Thinktank“ – behauptet ohne Zahlen- oder Quellenangaben im eigenen Magazin „ef – eigentümlich frei“: „Zusammengerechnet stellen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern die Nettostaatsprofiteure bereits über 70 Prozent der Gesamtbevölkerung.“ Von daher ist es für ef-Herausgeber André F. Lichtschlag nur konsequent, in der „Welt“ zu fordern (und zwar just zwei Wochen vor Abgang von Chefredakteur Roger Köppel), allen diesen sogenannten „Nettostaatsprofiteuren” – zu denen offenbar Beamte, Politiker, Richter, Polizisten und Lehrer genauso zählen wie Verwaltungsangestellte, Studenten, Arbeitslose und Rentner – das Wahlrecht zu entziehen. Wofür 70 Prozent doch gut sein können!

In der Weltwoche oder dem Magazin des Libertären Instituts überrascht derart leichtfertiger Umgang mit völlig unbelegten Zahlen kaum. In der altehrwürdigen „NZZ“, die sich stolz einer weltoffenen, liberalen Grundhaltung verpflichtet fühlt, dann allerdings doch. Immerhin: So malerisch-anschaulich liest man selten vom Versagen des Journalismus.

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