Ausgabe Juli 2013

Fassadenpolitik

Ganz Europa ächzt unter der Krise. Ganz Europa? Nein, das kleine nordirische Belcoo stemmt sich gegen den Abschwung. Während andernorts Tausende gegen sozialen Kahlschlag protestieren, herrschen in dem 500-Seelen-Dorf geradezu schlaraffenlandähnliche Zustände.

Die Auslagen der Dorfläden platzen aus allen Nähten: Ein Delikatessengeschäft bietet feinsten Käse und hausgemachte Antipasti feil, beim Fleischer nebenan hängen gewaltige Serrano-Schinken von der Decke, und im Restaurant Cellini – „Geöffnet 7 Tage die Woche“ – herrscht Hochbetrieb: Kellner eilen durch die engen Tischreihen und schenken Wein aus.

Doch der Eindruck täuscht – und das soll er auch. Denn nahe Belcoo liegt das luxuriöse Lough Erne Golf Resort. Hier tagte Mitte Juni der G8-Gipfel. Und damit den Regierungschefs auf dem Weg zum Tagungsort nicht die Laune verging, hat die Grafschaft Fermanagh mehr als 100 leerstehende Läden mit Fototapeten verziert.

Derartige Fassadenkosmetik kannte man bislang nur aus dem real existierenden Sozialismus – wenn sie auch damals noch antiquiert aufgetragen werden musste, nämlich mit Pinsel und Farbe. Vor allem in der DDR übertünchte man so die Folgen der eigenen Fehlplanwirtschaft.

Besonders herausgeputzt war die sogenannte Protokollstrecke. Auf ihr fuhr die SED-Führung tagtäglich von der Wandlitzer Funktionärssiedlung ins Regierungsviertel nach Berlin. Der angeordnete Hausschmuck reichte dabei allerdings nur bis zum ersten Stockwerk – mehr konnten die Genossen aus ihren Staatskarossen heraus ohnehin nicht sehen.

Es dauerte bekanntlich nicht allzu lange, bis die Potemkinschen Dörfer der DDR in sich zusammenbrachen. Dass nun aber der Krisenkapitalismus unserer Tage ausgerechnet zu den Mitteln des geschlagenen Klassenfeindes greift, lässt aufhorchen: Ist er womöglich so auf den Hund gekommen, dass er sich nicht mehr anders zu helfen weiß? Folgt also dem Ende des Sozialismus jetzt das Ende des Kapitalismus?

Freuen wir uns nicht zu früh. Denn der Kapitalismus ist so zäh wie listig – und wusste sich bisher noch immer am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

So will Gipfelgastgeber David Cameron mit den geschönten Bildern vor allem eins – Touristen und Investoren in das vom Bürgerkrieg gezeichnete Nordirland locken. Dann, so seine Hoffnung, findet sich endlich auch ein Käufer für das Golfresort. Denn dieses ist – wie die nordirischen Dorfläden – seit zwei Jahren pleite und steht für gerade einmal 10 Mio. Pfund zum Verkauf.

Ein günstiger Preis, mag sich der eine oder andere da denken. Tatsächlich aber ist auch das vermeintliche Schnäppchen bloßer Schwindel.

Denn unsichtbar unter der friedlichen Seenlandschaft Nordirlands lagern riesige Erdgasvorkommen. Diese sollen nun mittels Fracking zutage gefördert werden – ungeachtet der Risiken für Gesundheit, Umwelt und die Tourismusbranche.

Dies dürfte dann allerdings auch das endgültige Aus für das Golfresort bedeuten. Denn beim Fracking führt unkontrolliert ausströmendes Erdgas immer wieder zu Mini-Erdbeben, verseuchtem Grundwasser und Spontanexplosionen.

Seien wir also realistisch: Der Kapitalismus wird nicht eher in sich zusammenbrechen, bevor er sich nicht selbst völlig unterminiert hat – und bevor nicht auch die letzte seiner vielen Fassaden gefallen ist.

Aktuelle Ausgabe Januar 2026

In der Januar-Ausgabe skizziert der Journalist David Brooks, wie die so dringend nötige Massenbewegung gegen den Trumpismus entstehen könnte. Der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies erörtert, ob die Demokratie in den USA in ihrem 250. Jubiläumsjahr noch gesichert ist – und wie sie in Deutschland geschützt werden kann. Der Politikwissenschaftler Sven Altenburger beleuchtet die aktuelle Debatte um die Wehrpflicht – und deren bürgerlich-demokratische Grundlagen. Der Sinologe Lucas Brang analysiert Pekings neue Friedensdiplomatie und erörtert, welche Antwort Europa darauf finden sollte. Die Journalistinnen Susanne Götze und Annika Joeres erläutern, warum die Abhängigkeit von Öl und Gas Europas Sicherheit gefährdet und wie wir ihr entkommen. Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski erklärt, wie wir im Umgang mit Künstlicher Intelligenz unsere Fähigkeit zum kritischen Denken bewahren können. Und die Soziologin Judith Kohlenberger plädiert für eine »Politik der Empathie« – als ein Schlüssel zur Bekämpfung autoritärer, illiberaler Tendenzen in unserer Gesellschaft.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Ukraine: Zwischen Korruption und Diktatfrieden

von Yelizaveta Landenberger

Anfang Dezember herrschte rege Pendeldiplomatie, während die Bombardierung ukrainischer Städte und die russischen Vorstöße an der Front unvermindert weitergingen. Völlig unklar ist, ob der im November bekannt gewordene US-»Friedensplan« auch nur zu einem Waffenstillstand führen kann.

Vom Einsturz zum Aufbruch: Die Protestbewegung in Serbien

von Krsto Lazarević

Rund 110 000 Menschen füllen am 1. November die Fläche vor dem Hauptbahnhof in Novi Sad, um der Opfer zu gedenken, die ein Jahr zuvor unter dem einstürzenden Vordach starben. Für die seit Monaten Protestierenden steht der Einsturz nicht für ein bauliches, sondern für ein politisches und gesellschaftliches Versagen: ein sichtbares Symbol für Korruption und ein zunehmend autokratisches System.

Der Kampf um Grönland: Versöhnung als Geopolitik

von Ebbe Volquardsen

Die Stadt Karlsruhe könnte schon bald vor einem Dilemma stehen. Im Januar 2025 zeichnete sie ihren langjährigen Stadtvertreter Tom Høyem (FDP) mit der Ehrenmedaille aus. In den 1980er Jahren war der gebürtige Däne, mittlerweile auch deutscher Staatsbürger, Dänemarks letzter Minister für Grönland – ein Amt aus der Kolonialzeit.