Ausgabe März 1990

Chronik vom 6. Januar 1990 bis 5. Februar 1990

6.1. - D D R / B R D. Vor dem Parteivorstand der SED-PDS legt der Parteivorsitzende Gysi ein "Sicherheitsmodell 2000" für die beiden deutschen Staaten vor (Text in "Blätter", 2/1990, S. 237 f.). Auf dem Dreikönigstreffen der FDP in Stuttgart befürwortet Bundesaußenminister Genscher am gleichen Tag eine gemeinsame Erklärung von Bundestag und Volkskammer über die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Wer "die deutsche Haltung zur polnischen Westgrenze offen halten" wolle, der schlage "das Tor zu zur deutschen Einheit". - Am 16.1. besucht Ministerpräsident Modrow den Regierenden Bürgermeister Momper; es handelt sich um den ersten offiziellen Besuch eines DDR-Regierungschefs in Berlin (West). An der Begegnung nimmt auch Staatssekretär Bertele teil, der Ständige Vertreter der Bundesrepublik bei der DDR-Regierung. - Am 1.2. legt Modrow einen Stufenplan zur "Vereinigung der beiden deutschen Staaten" vor (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"). Als eine der "notwendigen Voraussetzungen für diese Entwicklung" bezeichnet der Plan u.a. die "militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Weg zur Föderation". - Am 4.2. erläutert Bundeskanzler Kohl auf einem Wirtschaftsforum in Davos (Schweiz) seinen Zehn-Punkte-Plan vom November v.J. (Text in "Blätter", 1/1990, S. 119 ff.). Der Bundeskanzler lehnt die Neutralisierung eines künftigen Deutschland ab und wendet sich gegen ein gesamteuropäisches Plebiszit über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten; eine entsprechende Anregung hatte der sowjetische Außenminister Schewardnadse am 2.2. in einem Interview mit der Nachrichtenagentur TASS gemacht, um die öffentliche Meinung in dieser Frage in Europa, den USA und Kanada zu erkunden. Am Rande des Forums trifft Kohl mit Ministerpräsident Modrow zusammen. - Am 5.2. erklärt Modrow vor der Volkskammer, der Weg zur deutschen Einheit dürfe nicht den Interessen der europäischen Länder zuwiderlaufen, sondern müsse ein "Weg in und für Europa" sein. Dabei sei die Achtung der Nachkriegsgrenzen unabdingbar. Wirtschaftsministerin Luft spricht sich gegen eine sofortige Währungsunion mit der Bundesrepublik aus, weil die DDR damit ihre währungspolitische Souveränität verliere. Frau Luft fordert einen umgehenden "Lastenausgleich" durch die Bundesrepublik in Höhe von 10 bis 15 Mrd. DM.

- R u m ä n i e n / U d S S R. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse konferiert in Bukarest mit der neuen rumänischen Führung (vgl. "Blätter", 2/1990, S. 134). Anschließend erklärt Schewardnadse auf einer Pressekonferenz, die Entscheidung über die künftige Regierungsform sei allein Sache des rumänischen Volkes. Nur eine Diktatur sei nicht akzeptabel, "weder eine kommunistische, noch eine bürgerliche."

10.1. - C h i n a. Die Regierung hebt das im Mai 1989 verhängte Kriegsrecht auf (vgl. "Blätter", 7/1989, S. 779). Zur Begründung erklärt Ministerpräsident Li Peng, "die Lage in der Hauptstadt und im ganzen Land" habe sich "stabilisiert", bei "der Niederschlagung der konterrevolutionären Rebellion" sei "ein bedeutender Sieg errungen worden". Mit der Aufhebung des Kriegsrechts treten verschärfte Bestimmungen für Demonstrationen und Versammlungen in Kraft.

12.1.-5.2. - K S Z E. Im Rahmen der Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa findet in Wien ein Seminar über Sicherheitskonzepte und Militärdoktrinen statt (vgl. "Blätter", 12/1989, S. 1419 f.). Die informelle Veranstaltung, an der die höchsten Militärs der KSZE-Staaten teilnehmen, dient dem Informationsaustausch.

13.-14.1. - D D R. Auf einer Landesdelegiertenkonferenz in Berlin beschließt die Sozialdemokratische Partei (SDP) in der DDR (Text des Gründungsdokuments in "Blätter", 11/1989, S. 1407) die Umbenennung in "Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (SPD). In einer Erklärung bekennt sich die Partei zur "Einheit der deutschen Nation". An der Konferenz nimmt als Gast aus der Bundesrepublik auch der SPD-Vorsitzende Vogel teil, der bei dieser Gelegenheit mit DDR-Ministerpräsident Modrow zusammentrifft. - Am 20.1. verläßt einer der stellvertretenden Parteivorsitzenden der SED-PDS, der Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, zusammen mit 39 weiteren führenden Mitgliedern aus dem Bezirk Dresden die Partei. Die Schiedskommission der SED-PDS schließt am gleichen Tag den zeitweiligen Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz sowie 13 weitere Mitglieder und Kandidaten des ehemaligen Politbüros aus der Partei aus. - Am 28.1. einigen sich die am "Runden Tisch" beteiligten Parteien und Organisationen auf die Bildung einer "Regierung der nationalen Verantwortung"; Vertreter der Opposition, darunter auch der SPD, treten als Minister ohne Geschäftsbereich in das Kabinett unter Ministerpräsident Modrow ein. Gleichzeitig wird beschlossen, die Wahlen zur Volkskammer vom 6. Mai auf den 18. März d.J. vorzuverlegen; am 6. Mai d.J. sollen Kommunalwahlen stattfinden. - Am 4.2. legt die SED-PDS den früheren Namen Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ab (vgl. "Blätter", 2/1990, S. 132). Laut Beschluß des Parteivorstandes, der noch von einem Parteitag bestätigt werden muß, lautet der Name künftig: "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS). - Am 5.2. begründet Modrow vor der Volkskammer die Erweiterung des Kabinetts mit der Feststellung, die DDR könne anders nicht mehr regiert werden. Hauptziel sei, bis zur Neuwahl des Parlaments die dringend erforderliche Stabilität der DDR zu fördern und weitere Reformschritte einzuleiten. Die Volkskammer faßt einen Beschluß über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit und fordert das Innenministerium auf, die Tätigkeit der Republikaner in der DDR zu unterbinden. Die zunehmende Aktivität "rechtsextremer und neofaschistischer Kräfte" mache rasche Maßnahmen erforderlich.

15.1. - U d S S R. Das Präsidium des Obersten Sowjets, das unter Vorsitz von Generalsekretär Gorbatschow tagt, beschließt den Ausnahmezustand über das autonome Gebiet Nagorny Karabach und die Entsendung zusätzlicher Truppen in Stärke von 11 000 Mann. Anlaß der Maßnahmen sind bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sowjetrepubliken Aserbeidschan und Armenien. Gorbatschow erklärt dazu am 19.1., Gegner der Perestroika benutzten den ethnischen Konflikt in der Kaukasusregion für ihre Ziele. In Aserbeidschan gebe es Kräfte, die die Abtrennung von der UdSSR und die Bildung einer islamischen Republik wünschten. Truppen der Zentralregierung greifen in die Kämpfe ein und verhindern u.a. eine Blockade des Hafens der aserbeidschanischen Hauptstadt Baku.

- B u l g a r i e n. Das Parlament streicht den Verfassungsartikel, der die Kommunistische Partei als "leitende Kraft der Gesellschaft und des Staates" (Art. 1 Abs. 2) bezeichnet. Eine Kontaktgruppe wird mit der Vorbereitung weiterer verfassungsrechtlicher Änderungen beauftragt. - Am 31.1. beginnt in Sofia ein außerodentlicher Kongreß der Kommunistischen Partei. Staatspräsident und KP-Generalsekretär Mladenow (zur Amtsübernahme vgl. "Blätter", 1/1990, S. 5) teilt in seinem Eröffnungsreferat mit, er werde im Zuge der Entflechtung von Staat und Partei auf eines seiner Ämter, das des Generalsekretärs der Partei, verzichten. Mladenow wendet sich gegen den Versuch "gewisser Kräfte", den Kapitalismus wiederherzustellen oder zu den alten Methoden zurückzukehren.

15.-16.1. - U N O. Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (China, Frankreich, Großbritannien, UdSSR und USA) beraten in Paris über Vorschläge zur Beilegung des Kambodscha-Konflikts. Den fünf Delegationen liegt ein Plan des australischen Außenministers Evans vor, der mit verschiedenen Varianten eine UNO-Verwaltung für Kambodscha bis zu freien Wahlen vorsieht. Der "Evans-Plan" wird grundsätzlich akzeptiert, die Verhandlungen darüber sollen fortgesetzt werden.

18.1. - T s c h e c h o s l o w a k e i. Die Presse des Landes meldet den Austritt von Ministerpräsident Calfa aus der Kommunistischen Partei. Calfa hatte das Amt im Dezember v.J. im Rahmen eines umfangreichen Revirements der Staats- und Parteiführung übernommen (vgl. "Blätter", 2/1990, S. 132 f.).

22.1. - J u g o s l a w i e n. Auf dem Parteitag des regierenden Bundes der Kommunisten Jugoslawiens erklärt Parteitagspräsident Bulatovic, der Bund werde künftig "auf seine in der Verfassung garantierte Führungsrolle in der Gesellschaft" verzichten. Das Parlament sei aufgefordert, die Voraussetzungen für ein Mehrparteiensystem zu schaffen. Ein Antrag der slowenischen Delegierten, die Partei zu dezentralisieren, wird mit 1156 gegen 169 Stimmen abgelehnt

27.-29.1. - P o l e n. Der 11. Kongreß der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei beschließt mit 1228 gegen 32 Stimmen bei 36 Enthaltungen die Auflösung der PVAP und die Gründung einer neuen Partei mit dem Namen "Sozialdemokratie der Republik Polen". Eine Minderheitsgruppe bildet eine "Union der Sozialdemokratie".

28.1. - S a a r l a n d. Bei den Wahlen zum Landtag können die alleinregierenden Sozialdemokraten unter Ministerpräsident Oskar Lafontaine ihre absolute Mehrheit weiter ausbauen. CDU und FDP verzeichnen Stimmenverluste, Grüne und Republikaner scheitern an der Fünf Prozent-Klausel. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis entfallen (Angaben in %) auf SPD 54,4 (1985: 49,2), CDU 33,4 (37,3), FDP 5,6 (10,0), Grüne 2,7 (2,5), Republikaner 3,3 (-). Zusammensetzung des neuen Landtags (51 Abgeordnete): SPD 30 (26), CDU 18 (20), FDP 3 (5). (Zu den Ergebnissen der Wahlen vom 10. März 1985 vgl. "Blätter", 1/1986, S. 127.)

30.1. - U d S S R / D D R. Ministerpräsident Modrow führt im Kreml ein Gespräch mit Generalsekretär Gorbatschow, an dem von sowjetischer Seite auch Ministerpräsident Ryschkow, Außenminister Schewardnadse sowie ZK-Abteilungsleiter Falin teilnehmen. In Anwesenheit Modrows erklärt Gorbatschow anschließend vor Journalisten, "die Vereinigung der Deutschen" werde "niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen". Diese wichtige Frage betreffe das Schicksal der Deutschen und "das anderer Völker in Europa". Es gebe zwei deutsche Staaten, es gebe die Verpflichtungen der vier Mächte und es gebe den europäischen Prozeß. Das alles müsse in Einklang gebracht werden. - Am 2.2. äußert der PDS-Vorsitzende Gysi nach einer Unterredung mit Generalsekretär Gorbatschow in Moskau die Ansicht, die "frühere SED" habe in den letzten fünf Jahren die Beziehungen zur KPdSU vernachlässigt und diesbezügliche Probleme negiert.

30.1. - E u r o p a r a t. Der polnische Ministerpräsident Mazowiecki legt der Parlamentarischen Versammlung in Straßburg den Antrag seiner Regierung auf Vollmitgliedschaft im Europarat vor. Polen folgt als zweites osteuropäisches Land dem Beispiel Ungarns (vgl. "Blätter", 1/1990, S. 5).

31.1. - U S A. In seinem jährlichen "Bericht zur Lage der Nation" schlägt Präsident Bush vor, die in Mittel- und Osteuropa stationierten Truppen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auf je 195 000 Mann zu reduzieren. Diese Zahl stütze sich "auf Empfehlungen unserer hochrangigen Militärberater". Der Präsident betont, die militärische Präsenz der USA in Europa sei "unabdingbar" und "nicht allein an die sowjetische Militärpräsenz in Osteuropa gekoppelt".

2.2. - S ü d a f r i k a. Präsident de Klerk gibt vor dem Parlamentin Kapstadt die Aufhebung des Verbots des Afrikanischen Nationalkongresses (African National Congress/ANC) und des PanAfrikanischen Kongresses (Pan Africanist Congress/PAC) aus dem Jahre 1960 sowie der Kommunistischen Partei Südafrikas aus dem Jahre 1950 bekannt. Verurteilte Personen, die Haftstrafen wegen ihrer bloßen Mitgliedschaft in diesen Organisationen verbüßen, sollen unverzüglich auf freien Fuß gesetzt werden. De Klerk kündigt die baldige Freilassung von ANC-Führer Mandela an.

- U S A / B R D. Bundesaußenminister Genscher kommt zu einem kurzfristig angesetzten Meinungsaustausch mit Außenminister Baker nach Washington. Genscher erklärt anschließend vor der Presse, er sei sich mit seinem amerikanischen Kollegen darüber einig, daß eine Ausdehnung des NATO-Gebiets in östlicher Richtung nicht im Interesse des Westens liege. Die Neutralisierung Gesamtdeutschlands werde von der Bundesregierung abgelehnt.

5.2. - E G. Der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften billigt in Brüssel eine Empfehlung für den Abschluß von Assoziierungsabkommen mit den osteuropäischen Staaten nach entsprechenden Verhandlungen. In Presseberichten heißt es, die Kommission betrachte dabei die UdSSR wegen ihrer wirtschaftlichen Größe als einen "Sonderfall". Für die DDR gebe es die Möglichkeit einer Assoziierung, den Beitritt als 13. Mitglied oder die Integration über die Vereinigung mit der Bundesrepublik.

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