Thüringer Tagebuch Anfang 1990
I
Wie im Laufe der Jahre schon dreißig Male zuvor: unter der Obhut des (bis vor kurzem FDJ-eigenen) J u g e n d t o u r i s t mit amerikanischen Studenten im WestBus unterwegs, gewappnet mit reichlichem Intershop-Proviant und knapp drei Tagen Geduld. Diesmal nach Thüringen. Eine Studienreise mit historischen und zeitgeschichtlichen Erkenntnisinteressen, eine Entdeckungsfahrt in den Schoß der deutschen Klassik im ersten Arbeiter und Bauernstaat auf deutschem Boden, eine Fahrt ins Damals und Jetzt. Bei dieser Reise aber, unserer ersten seit Öffnung der Grenze, kommt ein neuer Aspekt hinzu: die Zukunft, die in der Form eines drängenden Fragezeichens in jedes Standbild einbricht, jede Darstellung unverbindlich macht. Viele Deutschlandfahnen im Lande, wieder eine, da... im Vorbeifahren sehen wir, daß sie über einem Müllhaufen weht.
II
E r f u r t, 2 5. J a n u a r 1 9 9 0. Die Stadt wirkt in mancher Hinsicht verändert. Die Krämerbrücke, die einzige bebaute Brückenstraße nördlich der Alpen, ist hübsch renoviert. Viele der netten kleinen Läden und Handwerksbetriebe in dieser Gasse sind freilich ganz oder teilweise geschlossen, Symptom der Massenflucht. Das gleiche gilt für die Fußgängerzone "Am Anger". Am Domplatz, mit dem gotischen Ensemble von Mariendom und St.