Ausgabe Mai 1990

Chronik vom 6. März bis 5. April 1990

6.3. - D D R / B R D. Generalsekretär Gorbatschow führt in Moskau ein Gespräch mit DDR-Ministerpräsident Modrow. Anschließend gibt Gorbatschow den Korrespondenten von ARD und DDR-Fernsehen ein gemeinsames Interview, in dem er sich entschieden gegen die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland in der NATO wendet. Die UdSSR werde einem solchen Schritt auf keinen Fall zustimmen. Der italienische Ministerpräsident Andreotti fordert in Washington Konsultationen über die Vereinigung Deutschlands. Die "ZweiPlus-Vier-Gespräche" sollten sich auf eine Berlin-Lösung konzentrieren, Fragen der Grenzgarantien und andere Aspekte der zukünftigen europäischen Sicherheitsstruktur sollten in den Gremien der KSZE, der EG und der NATO behandelt werden. Der polnische Staatspräsident Jaruzelski warnt gegenüber der Tageszeitung "Die Welt" vor einer "Überstürzung" des deutschen Einigungsprozesses. Er habe den Eindruck, daß es nicht um eine "Vereinigung", sondern um einen "Anschluß" gehe. - Am 8.3. lehnt Bundeskanzler Kohl vor dem Bundestag die Forderung von Ministerpräsident Modrow nach Garantien für die Eigentumsordnung in der DDR ab (vgl. "Blätter", 4/1990, S. 507 f.). - Am 13.3. schließen die zuständigen Fachminister in Leipzig eine Vereinbarung über eine "Postunion" beider deutscher Staaten. Im Einzelnen ist vorgesehen, die Telekommunikations- und Postsysteme bis zum Ende des Jahrzehnts einander anzugleichen. - Am 14.3. beginnen entsprechend einem Beschluß vom Februar d.J. vorbereitende Gespräche für Verhandlungen über "die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit" (vgl. "Blätter", 4/1990, S. 388 und S. 505 f.). Die erste Zusammenkunft auf Expertenebene findet in Bonn statt und ist Verfahrensfragen gewidmet; weitere Treffen sollen abwechselnd in Berlin und Bonn stattfinden. Vertreten sind nach der Formel "zwei plus vier" die Bundesrepublik und die DDR sowie Frankreich, Großbritannien, die UdSSR und die USA. - Am 5.4. berät in Bonn eine Ministerrunde unter Vorsitz von Bundeskanzler Kohl über den Entwurf eines Vertrages zur Schaffung einer Währungsunion sowie einer Wirtschaftsund Sozialgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen").

- A f g h a n i s t a n. In der Hauptstadt Kabul wird ein Putsch gegen die Regierung von Präsident Najibullah niedergeschlagen. Der staatliche Rundfunk meldet, an der Spitze der Verschwörer stehe der bisherige Verteidigungsminister Shah Nawaz Tenai, der nach Pakistan geflüchtet sei.

7.3. - D D R. Die Volkskammer stimmt auf ihrer letzten Sitzung vor den Wahlen mit großer Mehrheit einer vom "Runden Tisch" ausgearbeiteten Sozialcharta zu (vgl. "Blätter", 4/1990, S. 389 f.) und fordert die Regierung auf, diese Charta in die Verhandlungen mit der Bundesrepublik einzubringen. Das Parlament hatte am Vortag ein Gewerkschaftsgesetz sowie ein Gesetz für die Wahlen der Kommunalparlamente am 6. Mai 1990 verabschiedet. - Am 12.3. beendet der "Runde Tisch" seine Tätigkeit (vgl. "Blätter", 2/1990, S. 132). Auf der Tagesordnung der letzten Sitzung steht u.a. der Entwurf einer neuen Verfassung sowie ein Bericht über die Auflösung des Amts für Nationale Sicherheit, des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit. Die Teilnehmer wenden sich gegen einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. - Am 18.3. findet die Neuwahl der Volkskammer statt. Stärkste Partei wird die Christlich-Demokratische Union (CDU) mit rund 41% der Stimmen. Es folgen die Sozialdemokratische Partei (SPD) mit rund 22% sowie die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) mit rund 16%. Die Wahlbeteiligung liegt bei rund 93%. Zusammensetzung der neuen Volkskammer (400 Mandate): Aktionsbündnis Vereinigte Linke (VL) 1, Bündnis 90, zu dem die Bürgerbewegungen Neues Forum und Demokratie Jetzt gehören, 12, Bund Freier Demokraten (BFD) 21, CDU 163, Demokratische Bauernpartei (DBD) 9, Demokratischer Aufbruch (DA) 4, Demokratischer Frauenbund (DFD) 1, Deutsche Soziale Union (DSU) 25, Grüne Partei 8, National-Demokratische Partei (NDPD) 2, PDS 66, SPD 88 Mandate. Die in der "Allianz für Deutschland" zusammengeschlossenen Parteien (CDU, DSU und DA) verfügen mit 192 Sitzen im Parlament über keine Mehrheit; für jede Verfassungsänderung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit vorgeschrieben. Am 3.4. beginnen in Berlin zwischen den Parteien der "Allianz" dem BFD sowie der SPD Verhandlungen über die Bildung einer "Großen Koalition". - Am 5.4. konstituiert sich die Volkskammer in neuer Zusammensetzung und wählt (im zweiten Wahlgang mit 214 gegen 171 Stimmen) die Abgeordnete Sabine BergmannPohl (CDU) zur Präsidentin. Nach Auflösung des Staatsrats übernimmt Frau Bergmann-Pohl zunächst auch die Funktion des Staatsoberhaupts. Mit der Regierungsbildung wird als Vertreter der stärksten Fraktion der CDU-Vorsitzende Lothar de Maiziere beauftragt.

8.3. - B e l g i e n. Die Nachrichtenagentur Reuter berichtet über einen 14-Punkte-Plan von Außenminister Eyskens, der u.a. den Abschluß eines Nichtangriffspakts zwischen NATO und Warschauer Vertrag vorsieht. Aus einer engeren Zusammenarbeit zwischen beiden Militärblöcken könne dann eine Charta der gemeinsamen Sicherheit hervorgehen.

10.3. - U d S S R / U n g a r n. Die Außenminister Schewardnadse (UdSSR) und Horn (Ungarn) unterzeichnen in Moskau ein Abkommen über den Rückzug der sowjetischen Truppen von ungarischem Territorium. Der Rückzug beginnt bereits am 12.3. und soll bis spätestens 30. Juni 1991 abgeschlossen sein.

11.3. - U d S S R. Der Oberste Sowjet der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik (Neuwahl am 4. März d.J.) verabschiedet in Vilnius eine Erklärung Über die Wiederherstellung des litauischen Staates mit dem Namen "Litauische Republik". Die Entscheidung fällt mit 124 Stimmen ohne Gegenstimme. Das Parlament setzt ein "zeitweiliges Grundgesetz" auf der Grundlage der Vorkriegsverfassung von 1938 in Kraft und wählt Vytautas Landsbergis mit 91 von 133 stimmen zum neuen Vorsitzenden, der die Funktion eines "Staatsoberhaupts" ausübt. Der Kongreß der Volksdeputierten bezeichnet am 15.3. in einem in Moskau gefaßten Beschluß die Unabhängigkeitserklärung Litauens als "ungesetzlich und ungültig". Die später von Präsident Gorbatschow erhobene Forderung nach Rücknahme der Unabhängigkeitserklärung wird in Vilnius zurückgewiesen - Am 13.3. stimmt der Kongreß der Volksdeputierten (2250 Mitglieder) in Moskau mit 1771 gegen 164 Stimmen bei 74 Enthaltungen einer Neufassung von Artikel 6 der Sowjetverfassung zu, nach der künftig die Bildung neuer Parteien und ihre Mitwirkung in Staat und Gesellschaft möglich ist. Nach teilweise kontroverser Debatte beschließt der Kongreß mit 1817 gegen 133 Stimmen bei 61 Enthaltungen die Einführung eines Präsidialsystems mit weitreichenden Vollmachten für das Staatsoberhaupt. In dieses Amt wird am 14.3. mit 1329 gegen 495 Stimmen bei 54 ungültigen Stimmen Generalsekretär Gorbatschow gewählt, der am 15.3. vor dem Kongreß den Amtseid ablegt und mitteilt, er werde weiterhin auch Generalsekretär der KPdSU bleiben. Vorsitzender des Obersten Sowjets wird der bisherige Stellvertreter Gorbatschows in diesem Amt, Anatoli Lukjanow. - C h i l e . Nach 16 Jahren Militärdiktatur (vgl. "Blätter", 10/1973, S. 1030) tritt der Christdemokrat Patricio Aylwin an die Spitze des Staates und der Regierung. Der neue Präsident (zur Wahl vgl. "Blätter", 2/1990, S. 133) löst General Augusto Pinochet Ugarte ab, der jedoch Oberbefehlshaber des Heeres und Mitglied des Senats sowie des Nationalen Sicherheitsrates bleibt.

13.3. - I s r a e l. Ministerpräsident Schamir (Likud-Block) entläßt seinen Stellvertreter Peres (Arbeitspartei). Anschließend verlassen die übrigen Minister der Arbeitspartei das Kabinett. Hintergrund des Auseinanderbrechens der "Großen Koalition" sind Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierung über einen Nahostplan des amerikanischen Außenministers Baker. Schamir wird am 15.3. durch ein Mißtrauensvotum in der Knesset (60 gegen 55 Stimmen) gestürzt.

15.3. - T s c h e c h o s l o w a k e i / B R D. Am 51. Jahrestag der Besetzung der Tschechoslowakei durch die deutsche Wehrmacht (15. März 1939) treffen auf der Prager Burg Bundespräsident v. Weizsäcker und Staatspräsident Havel zusammen. In seiner Begrüßung für den Bundespräsidenten spricht Havel von einem "tausendjährigen tschechisch deutschen Drama". Weizsäcker erklärt u.a.: "Wir Deutschen haben keinerlei Gebietsansprüche gegen über irgendeinem Nachbarn."

- V a t i k a n / U d S S R. Beide Staaten vereinbaren die Ernennung von Sonderbotschaftern zur Pflege der gegenseitigen Kontakte. Im Vatikan heißt es dazu, es handele sich um "vordiplomatische Beziehungen".

17.3. - W a r s c h a u e r V e r t r a g. Die Außenminister der sieben Mitgliedstaaten treffen sich zu Konsultationen in Prag. Der tschechoslowakische Außenminister Dienstbier legt den Plan einer künftigen kollektiven Sicherheitsordnung für Europa vor. In Presseberichten heißt es, über die Bündniszugehörigkeit eines einheitlichen Deutschland habe es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Teilnehmern gegeben.

21.3. - N a m i b i a. UN-Generalsekretär Perez de Cuellar vereidigt in Windhoek Sam Nujoma als ersten Präsidenten von Namibia, eines früheren Mandatsgebietes Südafrikas. Der neue Staat wird das 160. Mitglied der Vereinten Nationen und das 50. Mitglied des Commonwealth. An den Unabhängigkeitsfeiern nehmen auch der südafrikanische Präsident de Klerk und zahlreiche Außenminister, unter ihnen Bundesaußenminister Genscher, teil. Genscher trifft bei dieser Gelegenheit mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse zusammen. 22.3. - W E U. Polens Außenminister Skubiszewski hält als erster Außenminister eines Teilnehmerstaats des Warschauer Vertrages eine Rede vor einem Gremium der Westeuropäischen Union. Skubiszewski referiert vor der Parlementarischen Versammlung der WEU in Luxemburg über das Thema "Wandel in Stabilität" und regt die Bildung einer deutsch-polnischen bzw. einer deutsch-polnischtschechoslowakischen Brigade entsprechend dem Vorbild der bestehenden deutsch-französischen Militäreinheit an. Bundesaußenminister Genscher plädiert am 23.3. vor den Parlamentariern für erste Schritte in Richtung auf "kooperative Sicherheitsstrukturen". In einem zweiten Schritt könne dann die Überführung der beiden Militärbündnisse NATO und Warschauer Vertrag in ein neues System kollektiver Sicherheit erfolgen.

23.-24.3. - E u r o p a r a t. Auf einer Sonderkonferenz in Lissabon befassen sich die Außenminister der 23 Mitgliedstaaten mit den Veränderungen in Osteuropa. An dem Treffen nehmen Vertreter Bulgariens, der Tschechoslowakei, Ungarns, Polens, Jugoslawiens, der Sowjetunion sowie der DDR als Gäste bzw. Beobachter teil. Rumänien, das nicht vertreten ist, beantragt in einem Schreiben an den Rat die Aufnahme in die Organisation.

30.3. - G r o ß b r i t a n n i e n / B R D. Nach vertraulichen Gesprächen in Cambridge und London setzen sich Premierministerin Thatcher und Bundeskanzler Kohl vor der Presse für die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland in der NATO ein. In Presseberichten heißt es, Meinungsverschiedenheiten habe es über die Stationierung atomarer Kurzstreckenraketen auf dem Territorium der Bundesrepublik sowie über die weitere Entwicklung des Prozesses der europäischen Integration gegeben.

3.4. - U S A / U d S S R. Zur Vorbereitung des nächsten amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffens kommt Außenminister Schewardnadse nach Washington. Themen des Meinungsaustausches mit Außenminister Baker und eines Gesprächs mit Präsident Bush sind u.a. Probleme der Abrüstung, die Deutschlandfrage sowie die Lage in Litauen. Als Termin für das Gipfeltreffen nennt das Weiße Haus am 5.4. die Zeit vom 30. Mai bis zum 3. Juni d.J. in den USA.

- B u l g a r i e n. Das Parlament streicht den Begriff "sozialistisch" aus der Verfassung und setzt den Termin für die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung (400 Abgeordnete) auf den 10. und 17. Juni fest. Bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung soll der bisherige Staatsratsvorsitzende Mladenow (vgl. "Blätter", 1/1990, S. 5 und 3/1990, S. 261) das Amt des Präsidenten übernehmen. Mladenow hatte zuvor den Vorsitz der Kommunistischen Partei niedergelegt.

3.-4.4. - L a t e i n a m e r i k a. Die Präsidenten von Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Honduras und Costa Rica fordern auf einer Konferenz in Montelimar (Nicaragua) die Auflösung und Entwaffnung der noch operierenden antisandinistischen "ContraVerbände" spätestens bis zum 25. April d.J. und die Vernichtung der Waffen unter internationaler Kontrolle. Im Rahmen des "Friedensplans von Esquipulas" soll eine Sicherheitskommission Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung in der Region vorbereiten.

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