Ausgabe September 1991

Chronik vom 6. Juli 1991 bis 5. August 1991

7.7. - J u g o s l a w i e n. Auf der Adria-Insel Brioni einigt sich eine Delegation der Europäischen Gemeinschaften mit der Regierung und dem Staatsspräsidium auf eine Gemeinsame Erklärung (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"), die u.a. eine Regelung für die umstrittenen Kontrollen der Außengrenzen (vgl. "Blätter", 8/1991, S. 901 f.) sowie die Aufnahme von Verhandlungen "über alle Aspekte der Zukunft Jugoslawiens ohne Vorbedingungen und auf der Basis der Prinzipien der Schlußakte von Helsinki und der Pariser Charta für ein neues Europa" bis zum 1. August d.J. vorsieht. Eine Gruppe von EG-Beobachtern (30 bis 50 Personen) soll die Entwicklung an Ort und Stelle verfolgen und darüber dem KSZESekretariat in Prag regelmäßig berichten. Die auf Brioni gefaßten Beschlüsse werden jedoch durch unterschiedliche Interpretationen und den Ausbruch neuer Kämpfe in Frage gestellt. - Am 4.8. scheitert ein erneuter Vermittlungsversuch der EG-"Troika". Der Vorsitzende, der niederländische Außenminister Van den Broek, spricht nach seiner Rückkehr aus Belgrad von "einer Tragödie", die zu "einer Katastrophe" werden könne. Der luxemburgische Außenminister Poos beschuldigt Serbien, es wolle "sein Territorium ausweiten".

8.7. - K S Z E. Das "Büro für freie Wahlen" der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nimmt in Warschau seine Tätigkeit auf. Das Büro ist neben dem KSZE-Sekretariat in Prag und dem Konfliktverhütungszentrum in Wien die dritte ständige Institution im KSZE-Rahmen. - Am 19.7. wird in Genf das erste KSZEExpertentreffen über nationale Minderheiten (1.-19.7.) abgeschlossen. In einem Schlußbericht heißt es u.a., die "Fragen bezüglich nationaler Minderheiten" könnten "nur in einem demokratischen politischen Rahmen, der auf Rechtsstaatlichkeit beruht, und bei einem funktionierenden unabhängigen Gerichtswesen zufriedenstellend gelöst werden". Das Schicksal von Minoritäten sei "ein berechtigtes internationales Anliegen und daher eine nicht ausschließlich innere Angelegenheit des jeweiligen Staates".

- Ö s t e r r e i c h. Bundeskanzler Vranitzky gibt vor dem Nationalrat (Parlament) eine Regierungserklärung zu den Verbrechen des Naziregimes ab. Viele Österreicher hätten im Jahre 1938 den "Anschluß" begrüßt und das nationalsozialistische Regime gestützt sowie auf vielen Ebenen der Hierarchie mitgetragen. Andererseits sei Österreich seinerzeit das "Opfer einer militärischen Aggression mit furchtbaren Konsequenzen geworden". Über die moralische Mitverantwortung für Taten von Mitbürgern "können wir uns auch heute nicht hinwegesetzen".

8-9.7. - U N O. Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (China, Frankreich, Großbritannien, UdSSR, USA) vereinbaren auf einer Zusammenkunft in Paris, "gemeinsame Leitprinzipien" für Rüstungsexporte auszuarbeiten und sich gegenseitig über Waffenlieferungen in den Nahen Osten zu unterrichten. Die fünf Länder, die nach statistischen Angaben rund 90% des weltweiten Handels mit Waffen und Munition abwickeln, erklären in einem Kommunique, der "unterschiedslose Transfer von Waffen und Militärtechnologien", der "zur regionalen Instabilität" beitrage, müsse gestoppt und der Nahe Osten zu einer "von Massenvernichtungswaffen freien Zone" werden. - Am 15.7. beantragt die Sowjetunion die Vollmitgliedschaft im Internationalen Währungsfonds (IMF) sowie bei der Weltbank (IBRD) und ihren Tochterorganisationen. Ein entsprechendes Schreiben von Präsident Gorbatschow geht am 22.7. am Sitz der beiden UN-Spezialorganisationen in Washington ein. - Am 20.7. fordert der sowjetische Außenminister Bessmertnych in einem Brief an Generalsekretär Perez de Cuellar eine neue Doktrin der "minimalen nuklearen Abschreckung" für die fünf Atommächte. Das Kernwaffenpotential dieser Staaten solle entsprechend reduziert werden.

10.8. - U d S S R. Vor einem außerordentlichen Kongreß der Volksdeputierten der Russischen Föderation wird Boris Jelzin als erster Präsident Rußlands vereidigt (zur Wahl vgl. "Blätter", 8/1991, S. 900). An der Amtseinführung nimmt auch Präsident Gorbatschow teil, der im Namen der Union gratuliert. - Am 2.8. teilt Präsident Gorbatschow in einer Fernsehansprache mit, der neue Unionsvertrag werde vom 20. August d.J. an zur Unterzeichnung aufliegen. Die dann erneuerte Föderation sei "Rechtsnachfolgerin der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" und werde "als eine Großmacht auch weiterhin in der Welt auftreten" und "die auf dem internationalen Schauplatz eroberten Positionen wie auch die Verpflichtungen gegenüber anderen Staaten voll und ganz erhalten". Darüber hinaus sichere der Vertrag den Republiken das Recht zu, "diplomatische, konsularische, kulturelle, handelspolitische und sonstige Beziehungen zu anderen Staaten zu unterhalten".

11.7. - N a h e r O s t e n. Der amerikanische Präsident Bush erörtert in Telefongesprächen mit dem französischen Präsidenten Mitterrand und mit dem britischen Premierminister Major Maßnahmen zur Beseitigung des irakischen Kernwaffenpotentials. In Presseberichten heißt es, Bush habe dabei auch über einen möglichen Militäreinsatz gegen ausgewählte Ziele im Irak gesprochen. Die Palästinensische Befreiungs-Organisation (PLO) beginnt am gleichen Tag in mehreren palästinensischen Flüchtlingslagern im Einzugsgebiet der Stadt Tyrus (Südlibanon) mit der Übergabe ihrer schweren Waffen an die Armee. Es handelt sich um Raketen und Granatwerfer sowie Maschinengewehre. Die PLO beugt sich damit einem Ultimatum der libanesischen Regierung. - Am 12.7. fordern die Botschafter der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates bei einer vertraulichen Zusammenkunft mit dem irakischen UN-Vertreter den Irak auf, innerhalb der nächsten zwei Wochen sein gesamtes Nuklearpotential offenzulegen. Anderenfalls drohten "ernsthafte Konsequenzen". - Am 14.7. stimmt Syrien amerikanischen Vorschlägen zur Einberufung einer Friedenskonferenz für den Nahen Osten zu. - Am 30.7. heißt es in einem Zwischenbericht der UN-Sonderkommission für die irakische Abrüstung an den Sicherheitsrat, der Irak verfüge über viermal so viele Sprengkörper mit chemischer Munition, als er ursprünglich zugegeben habe. Es handele sich zwar um "relativ harmloses" Tränengas, das jedoch eindeutig für militärische Einsätze bestimmt sei. Am 1.8. erklärt Ministerpräsident Schamir gegenüber dem amerikanischen Außenminister Baker die Bereitschaft Israels zur Teilnahme an einer Nahostkonferenz, verbindet die Zustimmung jedoch erneut mit einer Reihe von Bedingungen, darunter dem Ausschluß der PLO von den Verhandlungen. Baker, der sich im Rahmen einer Reise durch die Region in Jerusalem aufhält, trifft auch mit Vertretern der Palästinenser aus den besetzten Gebieten zusammen. - am 5.8. wird am Sitz der Vereinten Nationen in New York bekannt, der Irak habe in den letzten Jahren nicht nur angereichertes Uran, sondern auch kleinere Mengen von Plutonium produziert, diese Tatsache aber bisher verheimlicht. Bestätigt werden auch Meldungen über irakische Laborversuche für die Herstellung biologischer Waffen.

12.7. - G r i e c h e n l a n d. Ministerpräsident Mitsotakis läßt in Ankara und Sofia diplomatische Memoranden übergeben, in denen die Schaffung einer partiell entmilitarisierten Zone im griechisch-türkisch-bulgarischen Grenzgebiet vorgeschlagen wird. Aus diesem Gebiet sollten alle Angriffswaffen wie Panzer, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber entfernt werden.

15.-17.7. - W i r t s c h a f t s g i p f e l. Die Staats- und Regierungschefs der USA, Kanadas, Japans, Frankreichs, Italiens, Großbritanniens und der Bundesrepublik Deutschland (Gruppe der Sieben) treffen sich zu ihrem jährlichen "Wirtschaftsgipfel" in London. Auf der Tagesordnung steht eine Vielzahl wirtschaftlicher und politischer Themen. Zu den Schlußdokumenten gehören eine Politische Erklärung ("Die Stärkung der internationalen Ordnung"; Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"), eine "Erklärung über den Transfer konventioneller Waffen und die Nichtverbreitung von ABCWaffen" sowie eine Wirtschaftserklärung ("Eine weltweite Partnerschaft aufbauen"). Nach dem Ende der Beratungen empfangen die Teilnehmer den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow, der sich auf Einladung von Premierminister Major in der britischen Hauptstadt aufhält. Bei dem Meinungsaustausch geht es vor allem um die Pläne Gorbatschows für den Umbau der sowjetischen Wirtschaft und um mögliche Wirtschaftshilfe für die UdSSR. In einem Gespräch zwischen Gorbatschow und Präsident Bush werden die letzten Hindernisse für den Abschluß des START-Vertrages beseitigt.

18.7. - I A E O. Der Gouverneursrat der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) befaßt sich auf einer Sitzung in Wien erstmals mit einer festgestellten Verletzung des Atomsperrvertrages von 1968 (Text in "Blätter", 7/1968, S. 767 ff.). In einer Resolution stellt der Rat fest, die vorliegenden Berichte ließen keinen Zweifel daran, daß der Irak die Verpflichtungen aus diesem Vertrag sowie aus dem Überwachungsabkommen mit der IAEO nicht eingehalten habe. Die Regierung in Bagdad wird aufgefordert, alle Vertragsauflagen unverzüglich zu erfüllen und seine sämtlichen Nukleareinrichtungen und -bestände offenzulegen. Der Beschluß des Rates (35 Mitglieder) wird mit 29 Stimmen gegen die Stimme des irakischen Vertreters und bei Stimmenthaltung Kubas, Nigerias und Tunesiens angenommen. Zwei Mitglieder bleiben der Abstimmung fern.

18.-19.7. - L a t e i n a m e r i k a. Aus Anlaß des 500. Jahrestages der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus treffen sich auf Einladung des mexikanischen Präsidenten Salinas in Guadalajara die führenden Repräsentanten von 19 lateinamerikanischen Staaten sowie Spaniens und Portugals. Es wird beschlossen, eine "Konferenz Iberoamerikanischer Staats- und Regierungschefs" unter "Teilnahme der souveränen Staaten spanischer und portugiesischer Sprache von Amerika und Europa" zu bilden, die jährlich tagen soll, erstmals 1992 in Spanien. Eine umfangreiche "Erklärung von Guadalajara" formuliert Grundssätze für die künftige Zusammenarbeit.

29.7. - A b r ü s t u n g. Vertreter der USA und der UdSSR paraphieren in Genf nach fast zehn jährigen Verhandlungen (vgl. die Ankündigung in "Blätter", 6/1982, S. 643) den Vertrag über die Reduzierung von strategischen Rüstungen (Strategic Arms Reduction Treaty; START-Vertrag). Das umfangreiche Vertragswerk, das aus einem Abkommen und zehn zusätzlichen Protokollen, Memoranden und vereinbarten Erklärungen besteht, hat zunächst eine Laufzeit von 15 Jahren und kann jeweils um fünf Jahre verlängert werden. In einem komplizierten Zählverfahren werden feste Obergrenzen für beide Seiten festgelegt, u.a. je 1600 strategische Trägersysteme, 6000 zählpflichtige Gefechtsköpfe und 4900 Sprengköpfe von ballistischen Raketen. Überzählige Trägersysteme und Raketen müssen in einem bestimmten Zeitraum vernichtet werden. Die Reduktionsperiode ist in drei Etappen aufgeteilt, die endgültigen Obergrenzen müssen sieben Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages erreicht sein. Zu den Zusatzdokumenten gehört ein besonderes Verifikationsprotokoll (Protocol of Inspection), das auch die Überwachung der Produktionsanlagen mobiler Interkontinentalwaffen (ICBM) durch ständig anwesende Inspektoren in beiden Ländern vorsieht. Eine gemeinsame Kommission (Joint Compliance and Inspection Commission / JCIC) wird mit der Erörterung der Auslegung und der Verwirklichung der Vereinbarungen beauftragt.

30.-31.7. - U d S S R / U S A. Zu einem Meinungsaustausch mit Präsident Gorbatschow und zur Unterzeichnung des Vertrages über die Reduzierung der strategischen Rüstungen (START-Vertrag), die am 31.7. im Kreml stattfindet, kommt der amerikanische Präsident Bush nach Moskau. Bush hält einen Vortrag vor dem Institut für internationale Beziehungen und trifft mit dem russischen Präsidenten Jelzin zusammen. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Gorbatschow am 31.7. teilt Bush mit, die USA und die Sowjetunion seien übereingekommen, für Oktober d.J. zu einer Friedenskonferenz für den Nahen Osten einzuladen. Bei einem anschließenden Besuch in der Ukraine setzt sich der amerikanische Präsident am 1.8. vor dem Parlament in Kiew für den von Gorbatschow angestrebten neuen Unionsvertrag ein und warnt die Republiken vor einem "hoffnungslosen Kurs der Isolation". - Am 2.8. weist der sowjetische Ministerpräsident Pawlow auf einer Pressekonferenz in Moskau die Forderung von Präsident Bush nach Kürzung der Militärhilfe für Kuba zurück. Kein Land habe das Recht, einem anderen souveränen Staat seine Politik zu diktieren.

2.8. - Z y p e r n. Der amerikanische Präsident Bush kündigt vor der Presse in Washington die Einberufung einer internationalen Zypern-Konferenz unter Vorsitz von UN-Generalsekretär Perez de Cuellar für September d.J. an, um den Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen beizulegen und die seit 1974 bestehende Teilung der Mittelmeerinsel zu beenden. Bush hatte zuvor Athen und Ankara besucht und von den dortigen Regierungen die Zustimmung zu einer solchen Konferenz erhalten. Ein positives Echo kommt auch von den Vertretern der griechischen und der türkischen Volksgruppe auf Zypern.

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