Ausgabe Juni 1992

Chronik 6. April bis 5.Mai 1992

6.4. - I t a l i e n. Bei den landesweiten Wahlen (5.-6.4.) kann die regierende Vierer-Koalition aus Christdemokraten (DC), Sozialisten (PSI), Sozialdemokraten (PSDI) und Liberalen (PLI) trotz erheblicher Stimmenverluste ihre parlamentarische Mehrheit behaupten. Die Koalition stellt in der Kammer 331 von 630 und im Senat 163 von 315 Sitzen. - Am 28.4. tritt Staatspräsident Francesco Cossiga (DC) neun Wochen vor Ablauf seiner regulären Amtszeit zurück.

- J u g o s l a w i e n. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften erkennen die Republik Bosnien-Herzegowina als unabhängigen Staat an. Grundlage für den Beschluß sind die "Richtlinien für die Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und in der Sowjetunion" (Text in "Blätter", 2/1992, S. 239 f.). Die USA schließen sich dem Schritt der EG an und anerkennen neben Bosnien-Herzegowina auch Slowenien und Kroatien. - Am 7.4. bewilligt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York die Stationierung einer 14 000 Mann starken UN-Friedenstruppe in verschiedenen Krisengebieten Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten. Die Truppe (vgl. "Blätter", 4/1992, S. 388) soll bis Mitte Mai d.J. an den Stationierungsorten eintreffen. - Am 12.4. bemüht sich EG-Vermittler José Cutilheiro (Portugal in Sarajewo, der Hauptstadt der Republik Bosnien-Herzegowina, um die Beilegung der bewaffneten Auseinandersetzungen. In Presseberichten heißt es, dabei gehe es um die Aufteilung der Republik in "nationale Territorien" für die muslimische, die serbische und die kroatische Volksgruppe. Mehrfach wird ein Waffenstillstand angekündigt, die Kampfhandlungen gehen jedoch weiter. - Am 27.4. proklamiert das (Bundes-Parlament in Belgrad, dem nur noch Abgeordnete der Republiken Serbien und Montenegro angehören, eine neue "Bundesrepublik Jugoslawiens", die sich als Rechtsnachfolger des bisherigen Jugoslawien betrachtet und Anspruch auf den Sitz Jugoslawiens in internationalen Organisationen erhebt. Bei einer Gegenstimme und drei Enthaltungen wird eine Verfassung für die serbisch-montenegrinische Staatengemeinschaft angenommen. Das Präsidium von Bosnien-Herzegowina in Sarajewo erklärt noch - gleichen Tag, nach Gründung der Bundesrepublik Jugoslawien müsse deren Armee andere Republiken unverzüglich verlassen.

7.4. - E G. Das Europäische Parlament fordert die nationalen Parlamente der zwölf Mitgliedstaaten auf, den am 7. Februar d.J. in Maastricht unterzeichneten "Vertrag über die Europäische Union" (vgl. "Blätter", 4/1992, S. 388) trotz der darin enthaltenen Mängel baldmöglichst zu ratifizieren. Eine entsprechende Entschließung wird in Straßburg mit 226 gegen 62 Stimmen bei 31 Enthaltungen angenommen. Die Redner der vorangegangenen Debatte hatten übereinstimmend festgestellt, daß der Vertrag dem Parlament weiterhin keine echte Mitentscheidung in den meisten Bereichen einräume.

9.4. - G r o ß b r i t a n n i e n. Die regierenden Konservativen unter Premierminister John Major müssen bei den Parlamentswahlen Verluste hinnehmen, können jedoch ihre Mehrheit im Unterhaus behaupten. Auf die Konservativen entfallen 336 (bisher 369) Sitze, auf die Labour-Opposition 271 (229), auf die Liberaldemokraten 20 (22) Sitze. Die übrigen Mandate gehen an kleinere Parteien. Labour-Führer Neil Kinnock kündigt nach der Wahlniederlage seinen Rücktritt an.

- A l b a n i e n. Das Parlament wählt mit 96 gegen 34 Stimmen den Vorsitzenden der Demokratischen Partei, Sali Berisha, zum neuen Staatsoberhaupt. Berisha ist Nachfolger von Ramiz Alia, der nach der Niederlage der Sozialisten bei den Parlamentswahlen im März d.J. (vgl. "Blätter", 5/1992, S. 517 f.) zurückgetreten war.

11.4. - A f g h a n i s t a n. Die Regierung erklärt sich bereit, einen Friedensplan der Vereinten Nationen anzunehmen und die Macht einem provisorischen Rat unparteiischer Persönlichkeiten zu übertragen. Eine entsprechende Mitteilung macht Außenminister Wakil in Kabul. In Presseberichten heißt es am 16.4., Präsident Mohammed Najibullah sei abgelöst und wolle das Land verlassen. In der Hauptstadt Kabul sowie in einigen Provinzen des Landes kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Teilen der Regierungstruppen sowie den Einheiten verschiedener Widerstandsorganisationen. Der amtierende Präsident Abdul Rahim Hatef erneuert am 21.4. die Bereitschaft der Regierung zu Verhandlungen: "Unser wichtigstes Ziel ist es, daß der Machtwechsel friedlich geschieht." Die Macht könne nicht einzelnen Gruppen übertragen werden. Im Auftrag von UN-Generalsekretär Boutros Ghali komm dessen Sonderbeauftragter Benon Sevan am 23.4. nach Kabul, um Verhandlungen mit den Führern der sich bekämpfenden Fraktionen aufzunehmen. Sevan appelliert an die verfeindeten Mujahedin-Gruppen, einen Bürgerkrieg zu verhindern und die Kämpfe untereinander einzustellen. Am 24.4. einigen sich die Führungen verschiedener Widerstandsbewegungen auf einer Zusammenkunft in Peshawar (Pakistan) auf die Bildung eines Rates (51 Mitglieder), der Afghanistan für eine Übergangszeit regieren soll. An die Spitze des Mujahedin-Rates tritt Sibghatul-lah Mujaddidi. - Am 25.4. dringen Verbände der Mujahedin in die Hauptstadt ein, denen sich Einheiten der bisherigen Regierungstruppen anschließen. - Am 28.4. trifft der neue Präsident Mujaddidi in der Hauptstadt ein. Die Kämpfe in und außerhalb Kabuls gehen trotz verschiedener Waffenstillstandsvereinbarungen zunächst weiter.

14.4. - N a h e r O s t e n. Der Internationale Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen lehnt in Den Haag einen Antrag Libyens ab, eine Einstweilige Anordnung gegen mögliche militärische Maßnahmen der USA und Großbritannien zu erlassen (vgl. "Blätter", 5/1992, S. 516 f.). Die Entscheidung des Gerichts (15 Richter) fällt mit elf gegen vier Stimmen sowie gegen die Stimme des von Libyen nominierten Ad-hoc Richters El-Kosheri (Ägypten). - Am 15.4. treten die gegen Libyen verhängten Sanktionen in Kraft; der UN-Sicherheitsrat ordnet die Unterbrechung aller Flugverbindungen sowie ein Verbot von Waffenlieferungen an. - Vom 24.-30.4. findet in Washington eine weitere Runde der Friedenskonferenz für den Nahen Osten statt (vgl. "Blätter", 4/1992, S. 389 f.). Die israelische Delegation legt einen Plan für Kommunalwahlen in den besetzten Gebieten vor. Die nächste Verhandlungsrunde soll in Rom stattfinden. - Am 29.4. bringt die Arabische Liga nach einer Ratssitzung in Kairo (28.-29.4.) ihre Beunruhigung über die Boykottbeschlüsse des UN-Sicherheitsrats gegen Libyen zum Ausdruck. Die Liga strebe eine friedliche Lösung des Konflikts an, die alle betroffenen Seiten befriedige.

- B r a n d e n b u r g. Als erstes der ostdeutschen Landesparlamente verabschiedet der Landtag in Potsdam mit Zweidrittelmehrheit eine Verfassung, die einen Katalog individueller Grundrechte und Staatsziele enthält, der über den Grundrechtsteil des Grundgesetzes hinausgeht. Die neue Verfassung soll der Bevölkerung im Juni d.J. zur Abstimmung vorgelegt werden. 18.4. - U S A. Präsident Bush fordert alle Staaten zur wirtschaftlichen Isolierung Kubas auf und kündigt eine Verschärfung des 1961 verhängten Handelsembargos an. Ab sofort dürfen Schiffe mit Passagieren oder Fracht aus Kuba keine amerikanischen Häfen mehr anlaufen. - Am 29.4. kommt es in Los Angeles zu schweren Rassenunruhen, die später auch auf einige andere Städte übergreifen. Unmittelbarer Anlaß ist der Freispruch von vier weißen Polizisten, die vor Jahresfrist einen farbigen Autofahrer mißhandelt hatten. Über Los Angeles wird ein Ausgehverbot verhängt. Zur Unterstützung der Nationalgarde verfügt Präsident Bush die Entsendung von 4000 Soldaten.

21.4. - R u m ä n i e n / B R D. Außenminister Nastase und Bundesaußenminister Genscher unterzeichnen in Bukarest einen "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa". Artikel 15 des Vertrages räumt den "Angehörigen der deutschen Minderheit in Rumänien" das Recht ein, "ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiter zu entwickeln, frei von jeglichen Versuchen, gegen ihren Willen assimiliert zu werden".

22.4. - T s c h e c h o s l o w a k e i. Das Parlament in Prag ratifiziert mit 144 gegen 33 Stimmen bei 47 Enthaltungen den "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit" (vgl. "Blätter", 4/1992, S. 390). An der Abstimmung beteiligen sich nur 224 der 300 Abgeordneten. In der Debatte hatten sich zahlreiche Parlamentarier gegen den in der Präambel verwendeten Begriff "Vertreibung" gewandt, da dieser Eigentumsforderungen begründen könne.

22.-23.4. - G U S. Die Präsidenten der zentralasiatischen Republiken Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan sowie Kasachstan beraten in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek über eine engere Zusammenarbeit innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). In einer gemeinsamen Erklärung betonen die Präsidenten die historischen, geographischen und kulturellen Bindungen ihrer Staaten an das übrige Asien.

23.4. - S ü d a f r i k a. Präsident de Klerk schlägt vor, in der Übergangsphase zur Demokratie einen Regierungsrat einzusetzen, der von allen erwachsenen Südafrikanern ungeachtet ihrer Hautfarbe gewählt werden solle. Dem Rat könne je ein Mitglied der fünf größten Parteien angehören, der Vorsitz solle auf halbjährlicher Basis rotieren. Der ANC-Vorsitzende Mandela erklärt am 25.4. zu den Vorschlägen de Klerks, in einem demokratischen System sei eine "gewählte Übergangsregierung" nicht üblich.

- B R D / R u ß l a n d. Staatssekretär Horst Waffenschmidt und der russische Minderheitenminister Valerij Tischkow paraphieren in Bonn ein "Protokoll über die Zusammenarbeit zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Russischen Föderation zur stufenweisen Wiederherstellung der Staatlichkeit der Rußlanddeutschen" (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"). Darin bekräftigt die Russische Förderation ihre Absicht, "stufenweise die Republik der Wolgadeutschen in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga wieder zu errichten, ohne daß die Belange der jetzt dort ansässigen Bevölkerung geschmälert werden".

24.5. - K S Z E. Die Außenminister der Bundesrepublik, Frankreichs und Polens setzen sich in einer Gemeinsamen Erklärung für die Schaffung eines "Europäischen Schlichtungs- und Schiedsgerichtshofes zur Stärkung der Rolle der KSZE im Bereich der Konfliktverhütung und des Krisenmanagements" ein. In der Erklärung (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"), die nach einem Treffen der Außenminister Genscher, Dumas und Skubiszewski in Bergerac (Frankreich) veröffentlicht wird, heißt es weiter: "Unsere drei Staaten schlagen ferner vor, im Rahmen der KSZE Konsultationen mit dem Ziel einzuleiten, die Rolle der KSZE durch die Erarbeitung eines Verhaltenskodex für die gegenseitigen Beziehungen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Sicherheit zu stärken, der zu gegebener Zeit zu einem KSZE-Sicherheitsvertrag weiter entwickelt werden könnte." - Am 30.4. wird die Republik Bosnien-Herzegowina in Helsinki als 52. Mitglied in die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa aufgenommen. Die Entscheidung über den künftigen Status der "Bundesrepublik Jugoslawien" innerhalb der KSZE wird vertagt.

26.4. - Ö s t e r r e i c h. Im ersten Wahlgang für die Präsidentschaft kann keiner der vier Kandidaten die vorgeschriebene absolute Mehrheit erreichen. Es entfallen auf: Rudolf Streicher (Sozialdemokratische Partei / SPÖ) 40,7%, Thomas Klestil (Volkspartei / ÖVP) 37,2%, Heide Schmidt (Freiheitliche Partei / FPÖ) 16,4%, Robert Jungk (Grüne Alternative / GA) 5,4%. Die Stichwahl soll am 24. Mai d.J. stattfinden.

27.4. - F D P. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher kündigt vor dem Präsidium seiner Partei an, er werde im Mai d.J. nach 23jähriger Mitgliedschaft im Kabinett und nach 18jähriger Tätigkeit an der Spitze des Auswärtigen Amtes aus der Regierung ausscheiden, wolle jedoch sein Abgeordnetenmandat weiter ausüben. Die Ankündigung Genschers löst eine Führungskrise innerhalb der Freien Demokraten aus: Der einstimmige Vorschlag des Parteipräsidiums, die stellvertretende Parteivorsitzende und Bundesbauministerin Irmgard Schwaetzer als Nachfolgerin zu nominieren, findet in Bundesvorstand und Bundestagsfraktion keine Mehrheit. Beide Gremien schlagen auf einer gemeinsamen Sitzung am 28.4. mit 63 gegen 25 Stimmen Bundesjustizminister Klaus Kinkel für das Amt des Außenministers vor.

2.5. - E W R. Die Außenminister der zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (EG) und der sieben Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandels-Assoziation (EFTA) unterzeichnen in Porto (Portugal) den Vertrag über die Errichtung eines Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR). Der Text des Vertrages war schon im Oktober 1991 fertiggestellt (vgl. "Blätter", 12/1991, S. 1414), nach einer rechtlichen Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg jedoch nochmals verändert worden.

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