Ausgabe November 1992

Chronik vom 6. September bis 5. Oktober 1992

6.9. - J u g o s l a w i e n. Die Vermittler der Vereinten Nationen, Cyrus Vance (USA), und der Europäischen Gemeinschaften, Lord Owen (Großbritannien), fordern die serbischen Verbände im Gebiet von Sarajewo, Gorasde, Bihac und Jajce auf, entsprechend vorheriger Beschlüsse ihre schweren Waffen internationaler Kontrolle zu unterstellen. Vance und Owen hatten zuvor mit dem Leiter der UN-Friedensoperationen Marrack Goulding (Großbritannien) konferiert. - Am 8.9. spricht sich UN-Generalsekretär Boutros Ghali gegenüber einem französischen Rundfunksender für eine Luftsicherung der Hilfsflüge in das belagerte Sarajewo aus. Eine solche Operation müsse unter der Kontrolle der Vereinten Nationen stattfinden und ein entsprechendes Mandat des Sicherheitsrates erhalten. - Am 9.9. beschuldigt ein Sprecher der Vereinten Nationen die muslimischen Verbände in Bosnien eines vorsätzlichen Angriffs auf UN-Soldaten in Sarajewo, bei dem zwei französische Militärs ums Leben kamen.

7.9. - E G. Der Vorsitzen de des EG-Ministerrats, der britische Premierminister Major, bezeichnet in einer Rede in London den Vertrag von Maastricht als einen guten Kompromiß für die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft. Der Einigungsprozeß werde auch dann fortgesetzt, falls sich Frankreich in dem bevorstehenden Referendum gegen das Vertragswerk entscheiden sollte. - Am 16.9. scheiden nach Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten das britische Pfund und die italienische Lira aus dem Europäischen Währungssystem (EWS) fester Wechselkurse aus. In London und Rom wird die Entscheidung als vorübergehend bezeichnet. - Am 17.9. entläßt der deutsche Vizepräsident der EG-Kommission Martin Bangemann seinen langjährigen Kabinettschef Manfred Brunner. Zur Begründung werden in einer in Brüssel verbreiteten Erklärung "unüberbrückbare Differenzen in der politischen Beurteilung der Maastrichter Verträge" genannt. In Presseberichten heißt es, Brunner habe sich insbesondere für eine Volksabstimmung über das Vertragswerk in der Bundesrepublik eingesetzt. - Am 20.9. beruft Major unmittelbar nach Bekanntwerden des Ergebnisses des französischen Referendums über die Verträge von Maastricht einen EGSondergipfel für den 16. Oktober d.J. nach Birmingham ein. - Am 21.9. heißt es nach einer Zusammenkunft der EG-Außenminister am Rande der UN-Generalversammlung in New York, der rasche und erfolgreiche Abschluß des Ratifizierungsprozesses der Verträge von Maastricht habe jetzt "hohe Priorität". Eine Revision der vorliegenden Vertragstexte komme nicht in Frage. Man wolle sich jedoch um "klärende Interpretationen" bemühen.

8.9. - T a i w a n / R u ß l a n d. Die Behörden der "Republik China" (Taiwan) und die Regierung der Russischen Föderation einigen sich auf die Einrichtung von Verbindungsbüros. Der stellvertretende Außenminister Taiwans John Chang teilt dazu mit, das Personal der Büros in Moskau, St. Petersburg und Wladiwostok bzw. in Taipeh und Kaohsiung werde diplomatische Privilegien erhalten.

10.-11.9. - A b r ü s t u n g. Hochrangige Vertreter der USA, Großbritanniens und Rußlands konferieren in Moskau über eine engere Zusammenarbeit bei der Durchführung der "Konvention über das Verbot der Entwicklung, Produktion und Lagerung bakteriologischer (biologischer) und toxischer Waffen und deren Vernichtung" vom 10. April 1972 (Text in "Blätter", 5/1972, S. 553 ff.). Es werden Expertengruppen eingesetzt, um die Modalitäten für die gegenseitige Inspektion aller militärisch biologischen Einrichtungen auszuarbeiten. Solche Besichtigungen sollen den ungehinderten Zugang, die Sammlung von Proben, Gespräche mit den Beschäftigten sowie die Auswertung von Audio- und Videoaufzeichnungen einschließen. Die drei Regierungen vereinbaren, ihren gesetzgebenden Körperschaften regelmäßig Berichte über den Stand der biologischen Forschung und entsprechender Entwicklungsaktivitäten vorzulegen.

14.9. - S ü d a f r i k a. UN-Generalsekretär Boutros Ghali ernennt den ehemaligen Untergeneralsekretär Virendra Dayal (Indien) zum Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen für Südafrika. Dayal erhält den Auftrag, mit Vertretern der weißen Minderheitsregierung und den Repräsentanten der schwarzen Bevölkerungsmehrheit über die Durchführung der vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen Auflagen zu verhandeln. - Am 26.9. einigen sich Präsident de Klerk und der ANC-Vorsitzende Mandela in der Nähe von Johannesburg auf die Wiederaufnahme der Verhandlungen über eine neue Verfassung. Die Regierung sagt zu, bis zum 15. November d.J. weitere politische Häftlinge freizulassen.

14.-24.9. - N a h e r O s t e n. Nach einer kurzen Unterbrechung (vgl. "Blätter", 10/1992, S. 1157) wird die Friedenskonferenz über den Nahen Osten mit einer weiteren Runde in Washington fortgesetzt. Sprecher der Delegationen Syriens und Israels äußern am 16.9. übereinstimmend, man habe sich auf verschiedene Elemente einer Prinzipienerklärung über die künftige Gestaltung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern verständigt. Am 2.10. ordnet der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Beschlagnahmung eines Teils des irakischen Auslandsvermögens an. Die Mittel sollen der Finanzierung humanitärer Lieferungen und der Begleichung von Kriegsschulden des Irak dienen. Die Resolution wird auf einer Ratssitzung in New York mit 14 Stimmen bei Stimmenthaltung Chinas angenommen.

15.9. - U N O. Mit der Wahl des bulgarischen Außenministers Stojan Ganew zum Präsidenten beginnt in New York die 47. Generalversammlung der Vereinten Nationen. - Am 19.9. befaßt sich der Sicherheitsrat mit der weiteren UN-Mitgliedschaft Jugoslawiens, das zu den Gründungsmitgliedern der Weltorganisation gehört. In der Resolution 777, die mit zwölf Stimmen bei drei Enthaltungen (China, Indien und Simbabwe) angenommen wird, heißt es, die "Föderative Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro)" könne den Sitz der früheren "Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens" nicht automatisch für sich beanspruchen, sondern müsse einen Aufnahmeantrag stellen. Der Rat empfiehlt, die jugoslawische Delegation von der Teilnahme an der laufenden Sitzungsperiode auszuschließen. Der Vertreter der VR China erklärt, der Beschluß des Sicherheitsrates bedeute nicht, daß die Bundesrepublik Jugoslawien nicht an den Aktivitäten der Vereinten Nationen teilnehmen könne. Es handele sich nur um eine Übergangslösung. Die Generalversammlung folgt der Empfehlung des Sicherheitsrates; eine entsprechende Resolution wird am 23.9. mit 127 gegen 6 Stimmen (Jugoslawien, Kenia, Sambia, Simbabwe, Swasiland und Tansania) bei 27 Enthaltungen angenommen. Weitere 20 Delegationen bleiben der Abstimmung fern. - Am 23.9. erklärt Bundesaußenminister Kinkel vor der Generalversammlung, die Bundesrepublik wolle "die verfassungsmäßigen Voraussetzungen dafür schaffen, daß unsere Streitkräfte, nach Zustimmung des Bundestages, den Vereinten Nationen für friedensbewahrende und friedensschaffende Einsätze zur Verfügung gestellt werden können". Als "wiedervereinigtes und souveränes Land" wolle Deutschland "alle Rechte und Pflichten eines Mitgliedes der Vereinten Nationen übernehmen". Der Bundesaußenminister äußert sich auch zu einer Reform des Sicherheitsrates: "Wir ergreifen hier keine Initiative. Wenn aber eine Änderung der jetzigen Zusammensetzung des Rates konkret ins Auge gefaßt wird, werden auch wir unseren Wunsch nach einem ständigen Sitz vorbringen." 15.-17.9. - S I. Die Sozialistische Internationale (SI) hält im Berliner Reichstag den 19. Kongreß ab, an dem rund 700 Vertreter von 180 sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien aus 130 Ländern teilnehmen. Zu den drei neu aufgenommenen Vollmitgliedern gehört die Partei der demokratischen Linken (Partito Democratico della Sinistra/PDS), die aus der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) hervorgegangen ist. Der spanische Ministerpräsident Felipe Gonzalez würdigt vor den Delegierten die Verdienste des nach 16 Jahren aus dem Amt scheidenden SI-Präsidenten Willy Brandt, der wegen einer schweren Erkrankung dem Kongreß fernbleiben muß. Zum neuen SI-Präsidenten wird der frühere französische Ministerpräsident Pierre Mauroy gewählt. Der als Gast anwesende ehemalige sowjetische Präsident Gorbatschow bedauert in seiner Ansprache den Zerfall der UdSSR. Er habe sich "für eine tiefgreifende Reformierung des Staates" und "für dessen Umwandlung in eine demokratische Föderation bzw. Konföderation von einem neuen Typus" eingesetzt.

16.9. - K u b a / R u ß l a n d. Beide Regierungen verabreden einen Zeitplan für den vollständigen Rückzug der seit 1963 auf Kuba stationierten Truppen der ehemaligen Sowjetunion. In Havanna wird dazu mitgeteilt, die etwa 2800 Mann starke Brigade solle das Land in mehreren Etappen bis Anfang 1993 verlassen. Zu Beginn der Verhandlungen hatte Kuba die USA aufgefordert, ihren Marinestützpunkt Guantanamo ebenfalls aufzugeben (vgl. "Blätter", 11/1991, S. 1145).

20.9. - F r a n k r e i c h. Die Bevölkerung stimmt in einem Referendum mit äußerst knapper Mehrheit (51,05% gegen 44,95%) den Verträgen von Maastricht zu. Premierminister Beregovoy bezeichnet das Ergebnis als "Warnung" für die Regierung, die nun alles tun müsse, um die europäische Integration demokratischer und sozialer zu gestalten.

22.9. - K S Z E. Das im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) neugeschaffene "Forum für Sicherheitskooperation" (FSK) konstituiert sich in Wien. Das Forum, das auf einen Beschluß des KSZE-Folgetreffens von Helsinki zurückgeht (vgl. "Blätter", 9/1992, S. 1024), ist eine ständige Einrichtung für Verhandlungen über Rüstungskontrolle, Abrüstung sowie über weitere vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den Teilnehmerstaaten.

24.9. - G r o ß b r i t a n n i e n. Premierminister Major verteidigt auf einer Sondersitzung des Unterhauses das Ausscheiden aus dem Europäischen Währungssystem (EWS). Diese Entscheidung sei der Regierung aufgezwungen worden und Großbritannien werde erst nach einer Reform des FWS in den Währungsverband zurückkehren.

27.9. - R u m ä n i e n. Die Demokratische Front zur Nationalen Rettung (FDSN) des amtierenden Präsidenten Ion Iliescu geht aus den Parlamentswahlen als stärkste Partei in beiden Kammern des Parlaments hervor. Das amtliche Endergebnis gibt den Stimmenanteil der FDSN mit 27,7% (Deputiertenkammer) und 24,3% (Senat) an; an zweiter Stelle liegt das Oppositionsbündnis Demokratische Konvention (CD) mit 20,0 bzw. 20,2%. Im gleichzeitig stattfinden den ersten Wahlgang für die Präsidentschaft kann keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreichen. Auf Iliescu entfallen 47,3%, der erfolgreichste Gegenkandidat ist Emil Constantinescu (CD) mit 31,2%.

24.9. - C h i n a / K o r e a. Präsident Yang Shangkun empfängt in Peking den südkoreanischen Präsidenten Roh Tae Woo, der während seines Aufenthalts in der chinesischen Hauptstadt auch mit Ministerpräsident Li Peng und Parteichef Jiang Zemin zusammentrifft. Roh bezeichnet am 29.9. auf einer Pressekonferenz in der Großen Halle des Volkes seinen Besuch, den ersten eines südkoreanischen Staatsoberhaupts in der Volksrepublik China, als Wendepunkt der Geschichte, der die Überwindung der nordostasiatischen Erbschaft des Kalten Krieges signalisiere. Die VR China und Südkorea hatten im August d.J. diplomatische Beziehungen aufgenommen (vgl. "Blätter", 10/1992, S. 1157 f.).

29.9. - B r a s i l i e n. Das Abgeordnetenhaus in Brasilia beschließt mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit die Amtsenthebung von Staatspräsident Collor de Mello, der der Korruption im Amt beschuldigt wird. Der bisherige Vizepräsident Itamar Tranco übernimmt am 2.10. für zunächst sechs Monate die Präsidentschaft.

1.10. - U S A / G U S. Der Senat in Washington billigt mit 93 gegen 6 Stimmen den von den Präsidenten Bush und Gorbatschow am 31. Juli v.J. in Moskau unterzeichneten amerikanisch-sowjetischen Vertrag über die Reduzierung von strategischen Rüstungen (Strategic Arms Reduction Treaty/START; vgl. "Blätter", 9/1991, S. 1030). Nach der Auflösung der UdSSR muß das Vertragswerk noch von der Russischen Föderation sowie von den Republiken Belarus (Weißrußland), Kasachstan und Ukraine ratifiziert werden, auf deren Territorien die zu reduzierenden Rüstungen stationiert sind.

2.10. - N A T O. Die erste Einheit der "schnellen Eingreiftruppe" der Atlantischen Allianz (Allied Command Europe Rapid Reaction Corps) wird in Bielefeld in Dienst gestellt. Bei dem militärischen Zeremoniell erklärt NATO-Oberbefehlshaber General John Shalikashvili (USA), die neuen Einheiten seien primär zum Einsatz auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten bestimmt. An der Aufstellung der Truppe, die im Jahre 1995 zehn Divisionen mit etwa 80 000 Mann umfassen soll, beteiligen sich 12 der 16 NATO-Mitglieder: Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kanada, Niederlande, Portugal, Spanien, Türkei und USA.

4.10. - M o s a m b i k. Präsident Joaquim Chissano und der Chef der Nationalen Widerstandsbewegung (RENAMO) Afonso Dhlakama vereinbaren in Rom einen Waffenstillstands- und Friedensvertrag, der den seit 16 Jahren andauernden Bürgerkrieg beenden soll und gesamtnationale Wahlen für das Jahr 1993 vorsieht.

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