Ausgabe Dezember 1993

Chronik vom 6. Oktober bis 5. November 1993

6.10. - R u ß l a n d. Präsident Jelzin ordnet Staatstrauer für die Opfer der bewaffneten Auseinandersetzungen in der Hauptstadt an (vgl. 'Blätter', 11/1993, S. 1292); die Zahl der Todesopfer wird amtlich mit mehr als 140 angegeben. In einer Fernsehansprache plädiert der Präsident für eine rasche Versöhnung: "Unabhängig von den Überzeugungen: Es sind alles Kinder Rußlands. Das war unsere gemeinsame Tragödie, es ist unser gemeinsamer Schmerz." Es gehe nicht an, die Bürger nun einzuteilen in solche, die gewonnen, und solche, die verloren hätten. - Am 9.10. verfügt Jelzin per Dekret die Auflösung der Sowjets auf lokaler und regionaler Ebene. Ausgenommen sind nur die gesetzgebenden Versammlungen der 21 autonomen Republiken. - Am 15.10. setzt Jelzin für den 12. Dezember d.J. ein Verfassungsreferendum zeitgleich mit den Parlamentswahlen an. Die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau erhebt am gleichen Tag Anklage gegen den ehemaligen Vizepräsidenten Ruzkoi, gegen den ehemaligen Parlamentspräsidenten Chasbulatow sowie gegen drei Minister der "Gegenregierung". - Am 18.10. wird der am 3.10. über Moskau verhängte Ausnahmezustand aufgehoben. - Am 2.11. erläutert Verteidigungsminister Gratschow in Moskau eine am Vortag vom Nationalen Sicherheitsrat verabschiedete neue russische Militärdoktrin, deren Text jedoch nicht veröffentlicht wird. Auf entsprechende Fragen antwortete Gratschow u.a., Rußland werde keine Atomwaffen gegen nichtnukleare Staaten einsetzen, die den Kernwaffensperrvertrag unterzeichnet hätten. In Presseberichten heißt es, der Minister habe einen atomaren Ersteinsatz unter bestimmten Bedingungen nicht ausgeschlossen. 

N a h e r O s t e n. Der israelische Ministerpräsident Rabin und der PLO-Vorsitzende Arafat treffen sich in Kairo, um die Vorbereitungen für eine palästinensische Selbstverwaltung auf der Westbank und im Gazastreifen zu erörtern (vgl. "Blätter", 11/1993, S. 1292 f.). Zur Durchführung der israelisch-palästinensischen Vereinbarungen vom 19. September d.J. (Text in "Blätter", 10/1993, S. 1261 ff.) werden verschiedene Ausschüsse und Arbeitsgruppen eingesetzt. - Am 11.10. stimmt der PLO-Zentralrat den Vereinbarungen mit Israel mit 63 gegen acht Stimmen zu. An der Sitzung in Tunis hatten nur 80 der 107 Mitglieder des Rates teilgenommen. - Am 21.-22.10. besucht Arafat Paris, wo er von Präsident Mitterrand empfangen wird. Das französische Protokoll bezeichnet den PLO-Vorsitzenden als Repräsentant der neuen territorialen Einheit von Gaza und Jericho. - Am 24.10. kündigt Israel die schrittweise Entlassung von zunächst 760 palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen an. Am 5.11. berichtet die jordanische Zeitung "Davar" überein geheimes Treffen von König Hussein mit dem israelischen Außenminister Peres. Bei der Unterredung sei es um den Abschluß eines Friedensvertrages zwischen beiden Ländern gegangen.

7.10. - J u g o s l a w i e n. Der bosnische Präsident Izetbegovic bezeichnet vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York den Plan zur Dreiteilung Bosniens als eine Form der Rassentrennung. Apartheid sei die Grundlage für ethnische Säuberungen und Völkermord. Der UN-Sicherheitsrat habe nicht das Recht, seine Regierung zur Annahme eines Diktatfriedens zu zwingen. - Am 18.10. teilt der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Ghali, in einem Interview mit der französischen Tageszeitung 'Le Monde' mit, er habe mit den beiden Vermittlern Stoltenberg (UN) und Owen (EG) die Ausarbeitung eines neuen, umfassenderen Friedensplan für das ehemalige Jugoslawien besprochen. In Presseberichten heißt es, der Plan solle die Probleme in ihrer Gesamtheit lösen und an die Stelle des Friedensplans für Bosnien treten. Am 20.10. löst der serbische Präsident Milosevic das erst am 20. Dezember d.J. gewählte Parlament auf (vgl. "Blätter", 2/1993, S. 134) und setzt Neuwahlen für den 19. Dezember d.J. an. In Presseberichten heißt es, Milosevic sei damit einem möglichen Sturz der von ihm eingesetzten Regierung zuvorgekommen. 

U N O. Präsident Clinton nennt in einer Fernsehansprache den 31. März 1994 als Termin für den Rückzug aller amerikanischen Truppen aus Somalia. Zunächst solle jedoch das vor allem in der Hauptstadt Mogadischu stationierte US-Kontingent erheblich verstärkt werden. Clinton beauftragt Botschafter Robert Oakley mit Sondierungen für eine politische Lösung des Konflikts am Horn von Afrika. UN-Generalsekretär Boutros Ghali kommentiert die Ankündigung des amerikanischen Präsidenten mit dem Hinweis, das Mandat der Blauhelme in Somalia sei vom Sicherheitsrat definiert und beschlossen worden. - Am 14.10. räumt die in New York tagende 48. Generalversammlung (zur Eröffnung vgl. "Blätter", 11/1993, S. 1294) der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) einen ständigen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen ein. Ein entsprechender Resolutionsentwurf der KSZE-Präsidentschaft (Schweden) wird ohne Abstimmung angenommen.

8.10. - S ü d a f r i k a. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hebt die Wirtschaftssanktionen gegen Südafrika auf und folgt damit einer Aufforderung des ANC-Vorsitzenden Mandela (vgl. "Blätter", 11/1993, S. 1292). Das vom Sicherheitsrat verhängte Waffenembargo bleibt in Kraft.

8.-9.10. - E u r o p a r a t. Erstmals in seiner Geschichte hält der Europarat (gegründet am 5. Mai 1949 mit Sitz in Straßburg) eine Gipfelkonferenz ab. Die Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der 32 Mitgliedstaaten, die in der österreichischen Hauptstadt stattfindet, endet mit einer "Wiener Erklärung", der als Anhang der, Entwurf einer Erklärung und eines Aktionsplans zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz beigegeben ist.

9.10. - R u ß l a n d / G e o r g i e n. Die Generalstabschefs Kolesnikow (Rußland) und Zkitischwili (Georgien) unterzeichnen in Moskau einen Vertrag über den rechtlichen Status der Truppen der Russischen Föderation, die sich zeitweise im Gebiet der Republik Georgien befinden. Das Abkommen räumt dem russischen Militär das Recht zur Benutzung des Luftstützpunktes Bambora und des georgischen Hafens Poti ein.

12.10. - B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t. Der zweite Senat weist in Karlsruhe mehrere Verfassungsbeschwerden gegen den von der Bundesrepublik unterzeichneten Vertrag von Maastricht vom Februar 1992 zurück. In dem umfangreichen Urteil (Auszüge in "Blätter", 11/1993, S. 1404 ff.) formuliert das Gericht jedoch zugleich bestimmte Anforderungen an die künftige Entwicklung der Europäischen Union. Der Bundestag müsse bei wesentlichen Änderungen des Integrationsprogramms in die Entscheidungen einbezogen werden.

13.10. - G r i e c h e n l a n d. Der frühere Ministerpräsident Andreas Papandreou (zur Ablösung vgl. "Blätter", 8/1989, S. 907) kehrt an die Spitze der Regierung zurück. Die von Papandreou geführte Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) hatte bei den Wahlen am 10.10. mit 170 der 300 Parlamentssitze eine Mehrheit gewonnen und die bisher regierende Neue Demokratie (ND) unter Ministerpräsident Kostas Mitsotakis (111 Sitze) in die Minderheit versetzt. - Am 19.10. erklärt ein Sprecher der neuen Regierung in Athen, Griechenland werde einen Staat mit dem Namen Mazedonien oder irgendwelchen Ableitungen... nicht anerkennen". Man befürchte, daß mit dem Namen Mazedonien territoriale Ansprüche auf die gleichnamige nordgriechische Provinz verknüpft sein könnten. 

R u ß l a n d / J a p a n. Der russische Präsident Jelzin und der japanische Ministerpräsident Hosokawa unterzeichnen in Tokio eine Deklaration zu den beiderseitigen Beziehungen. Dazu heißt es, Rußland übernehme als Rechtsnachfolgerin der ehemaligen UdSSR alle Verpflichtungen aus früher mit Japan geschlossenen Verträgen. Beide Seiten strebten den Abschluß eines Friedensvertrages an, um den Zweiten Weltkrieg formell zu beenden.

15.10. - N o r w e g e n. Das Nobelkomitee des Parlaments verleiht dem südafrikanischen Präsidenten Frederik de Klerk und dem Präsidenten des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), Nelson Mandela, den Friedensnobelpreis. Die Auszeichnung wird mit dem Einsatz der beiden Politiker für ein friedliches Ende der weißen Rassenherrschaft in Südafrika begründet.

18.10. - P o l e n. Präsident Walesa beauftragt den Vorsitzenden der Bauernpartei (PSL), Waldemar Pawlak, mit der Regierungsbildung. Pawlak übernimmt das Amt von Ministerpräsidentin Hanna Suchocka, deren Regierungskoalition bei den Parlamentswahlen die Mehrheit verloren hatte (vgl. "Blätter", 11/1993, S. 1293).

19.10. - P a k i s t a n. Die Nationalversammlung wählt in Islamabad die frühere Ministerpräsidentin Benazir Bhutto (zur Entlassung vgl. "Blätter", 10/1990, S. 1157) mit 121 gegen 72 Stimmen bei acht Enthaltungen erneut zur Regierungschefin. Frau Bhutto steht an der Spitze der Volkspartei (Pakistan Peoples Party/PPP), die nach den landesweiten Wahlen vom 6.10. mit 86 von 237 Sitzen die stärkste Fraktion im Parlament stellt, jedoch nicht über eine eigene Mehrheit verfügt. Zweitstärkste Partei ist die Muslimliga (Pakistan Muslim Liga/PML) mit 72 Sitzen. 20.-21.10. - N A T O. Die Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten treffen sich zu einem Meinungsaustausch im Ostseebad Travemünde. Bundesverteidigungsminister Rühe (CDU) nennt vor der Presse vier Themen: Rolle des Bündnisses bei friedenserhaltenden Maßnahmen, NATO-Reform und europäische Integration, Kooperation mit dem Osten sowie Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Der amerikanische Verteidigungsminister Aspin erklärt am Rande der Beratungen, an eine baldige Ausdehnung der Bündnisverpflichtungen sei nicht zu denken.

21.10. - K u b a. Außenminister Robaina bezeichnet in einem Fernsehinterview Gespräche mit "gemäßigten und konservativen" kubanischen Exilpolitikern während seiner Teilnahme an der UNGeneralversammlung in New York als äußerst positiv. Die Kontakte sollten bei einem weiteren Treffen in Havanna im Frühjahr 1994 fortgesetzt werden.

T s c h e c h i s c h e R e p u b l i k. Nach Gesprächen mit Präsident Walesa in Warschau erklärt der tschechische Präsident Havel auf einer Pressekonferenz, sein Land strebe, ebenso wie Polen, eine Vollmitgliedschaft in der NATO an. Eine Assoziierung betrachte man als die Vorstufe zu einer gleichberechtigten Mitgliedschaft in den Verteidigungsstrukturen des Westens.

24.10. - K a s a c h s t a n. Präsident Nasarbajew erklärt in Alma Ata, sein Land werde bis Jahresende den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen unterzeichnen. Dies sei das Ergebnis von Gesprächen mit US-Außenminister Christopher, der finanzielle Hilfe bei der Vernichtung der Atomsprengköpfe zugesagt habe.

25.10. - K a n a d a. Die von Jean Chretien geführte Liberale Partei kann bei den Parlamentswahlen die seit neun Jahren regierenden Konservativen unter Premierministerin Kim Campbell ablösen (vgl. S. 1437 ff. im vorliegenden Heft). Die Presse spricht von einem "Erdrutschsieg". Die Liberalen sind im künftigen Parlament (295 Abgeordnete) mit 177 Abgeordneten vertreten, die bisher mit Mehrheit (169 Abgeordnete) regierenden Konservativen erhalten nur zwei Mandate. Stärkste Oppositionspartei ist der frankophone" Bloc Quebecois, mit 54 Abgeordneten,

28.10. - V e r f a s s u n g s k o m m i s s i o n. Die von Bundestag und Bundesrat eingesetzte Gemeinsame Verfassungskommission (vgl. "Blätter", 11/1992, S. 6 und 31/1992, S. 261) verabschiedet in Bonn einstimmig ihren Abschlußbericht. Der Bericht enthält Empfehlungen zur Änderung des Grundgesetzes.

1.11. - E G. Nach Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde durch die Bundesrepublik Deutschland tritt der "Vertrag über die Europäische Union" (Vertrag von Maastricht) vom 7. Februar 1992 (vgl. "Blätter", 4/1992, S. 388) in Kraft. Auf einem Sondergipfel in Brüssel hatten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten am 29.10. den weiteren Terminplan für die am 1. Januar 1994 beginnende zweite Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion und den Sitz neuer EG-Institutionen festgelegt. Zu den Themen gehörte auch die formelle Umbenennung der Organe der "Europäischen Gemeinschaft" in "Europäische Union"

. 2.11. - B a y e r n. Ministerpräsident Stoiber (CSU) setzt sich in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" für eine Verlangsamung des europäischen Integrationsprozesses ein. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands könne es dabei nur noch um einen Staatenbund mit Austrittsmöglichkeiten seiner Mitglieder gehen. Die CSU habe das Fernziel eines europäischen Bundesstaates aufgegeben.

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