Ausgabe März 1993

Chronik vom 6. Januar bis 5. Februar 1993

6.1. - N a h e r O s t e n. Die USA, Großbritannien und Frankreich fordern den Irak erneut ultimativ auf, die südlich des 32. Breitengrades stationierten Raketenbatterien abzubauen (vgl. "Blätter", 2/1993, S. 133). Die irakische Regierung, die die von den westlichen Alliierten errichteten Flugverbotszonen nicht anerkennt, bezeichnet die eigenen militärischen Aktivitäten als rein defensiv. Auf Anordnung des amerikanischen Präsidenten Bush beginnen am 13.1. "selektive Luftangriffe" auf Ziele im Südirak. An der Aktion, die mit Verletzungen der UN-Waffenstillstandsbedingungen durch den Irak begründet wird, beteiligen sich auch britische und französische Maschinen. Tieffliegende radargesteuerte Marschflugkörper zerstören am 17.1. von Schiffen im Persischen Golf aus eine Fabrik am Rande der irakischen Hauptstadt. Der Revolutionäre Kommandorat kündigt am 19.1. in Bagdad überraschend eine einseitige Feuerpause ab 20.1. an. Diese Geste des guten Willens gegenüber dem künftigen amerikanischen Präsidenten Clinton solle "der neuen Regierung in den USA Zeit geben, die Flugverbotszonen im Norden und Süden zu studieren". - Am 19.1. hebt das israelische Parlament ein seit langem umstrittenes Gesetz auf, das Kontakte mit "feindlichen Organisationen", darunter die Palästinensische Befreiungs-Organistion (PLO), unter Strafe stellt. Die Entscheidung in der Knesset fällt mit 39 gegen 20 Stimmen. Der PLO-Vorsitzende Arafat schlägt am 21.1. in einem in Israel ausgestrahlten Fernsehinterview ein Treffen mit Premierminister Rabin vor. Eine solche Begegnung könne ein Schritt auf dem Weg zum Frieden sein. Arafat erinnert an das Schicksal der von Israel ausgewiesenen Palästinenser (vgl. "Blätter", 2/1993, S. 133) und fordert die Regierung in Tel Aviv auf, "den Fehler wieder gutzumachen". Rabin erklärt in einer ersten Stellungnahme am 22.1., er werde keine direkten Verhandlungen mit der PLO führen. Der Oberste Gerichtshof Israels lehnt am 28.1. die Aufhebung des Deportationsbeschlusses vom Dezember v.J. ab. Jedem der Betroffenen stehe jedoch das Recht auf Widerspruch gegen seine Ausweisung zu. Das Kabinett erörtert auf einer Sondersitzung am 1.2. verschiedene Kompromißformeln. In die Überlegungen schaltet sich nach Instruktionen aus Washington auch die amerikanische Botschaft ein. - Am 31.1. deutet der stellvertretende Ministerpräsident Tarik Aziz im Fernsehen die Bereitschaft der irakischen Regierung an, mit dem Westen über die Meinungsverschiedenheiten bei der Auslegung von Beschlüssen der Vereinten Nationen zu sprechen. Nach dem Amtsantritt von Präsident Clinton wolle man jetzt "ein neues Kapitel" in den Beziehungen zu den USA aufschlagen. Der Irak beabsichtige nicht, das benachbarte Kuwait noch einmal anzugreifen. - Am 2.2. beantragt Ägypten bei den Vereinten Nationen in New York eine Sitzung des Sicherheitsrats zur Durchführung der Ratsresolution 799 (1992), in der die unverzügliche Rückführung aller ausgewiesenen Palästinenser verlangt wird. Die für Mitte Februar d.J. geplante Fortsetzung der multilateralen Gespräche zwischen Israel und den arabischen Delegationen wird am 4.2. vorläufig abgesagt.

11.1. - U N O. Generalsekretär Boutros Ghali spricht sich während eines offiziellen Besuches in Bonn für die uneingeschränkte Mitwirkung Deutschlands an friedenserhaltenden und friedensschaffenden Operationen der Vereinten Nationen aus. Der Generalsekretär konferiert über dieses Thema mit Bundeskanzler Kohl, Bundesaußenminister Kinkel sowie mit Vertretern der Bundestagsparteien und hält einen Vortrag zum Thema "Globalisierung und Nationalismus". - Am 19.1. nimmt die Generalversammlung in New York die beiden Nachfolgestaaten der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (CSFR; vgl. "Blätter", 2/1993, S. 134) als neue Mitglieder in die Weltorganisation auf, der damit 180 Staaten angehören. Die Tschechoslowakei war im Jahre 1945 eines der Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen.

- J u g o s l a w i e n. Die Internationale Jugoslawien-Konferenz beginnt in Genf mit einer weiteren Sitzungsperiode, an der erstmals auch der serbische Präsident Milosevic teilnimmt. Einziger Punkt der Tagesordnung ist der von den beiden Vorsitzenden Owen (EG) und Vance (UNO) ausgearbeitete "Verfassungsrahmen für Bosnien und Herzegowina" (vgl. "Blätter", 2/1993, S. 134. Nach mehreren Unterbrechungen und internen Beratungen der beteiligten Seiten stimmen die drei Konfliktparteien (Muslime, Serben, Kroaten am 23.1. dem Verfassungsrahmen grundsätzlich zu, erheben jedoch Einwände zum Grenzverlauf der einzelnen Provinzen. Die Konferenz wird überschattet von einer neuen kroatischen Offensive in der von Serben kontrollierten Krajina sowie von einer verstärkten Kampftätigkeit um die bosnische Hauptstadt Sarajewo. Die Regierung der "Bundesrepublik Jugoslawien" (Serbien-Montenegro) droht mit einer Intervention der Bundesarmee. Die Genfer Verhandlungen werden am 30.1. ohne konkretes Ergebnis vertagt; Owen und Vance unterrichten den EG-Ministerrat sowie den UN-Sicherheitsrat und begeben sich nach New York, um ihre Vermittlertätigkeit von dort aus fortzusetzen. - Am 3.2. appelliert der bosnische Präsident Izetbegovic in einem Interview mit der "New York Times" an Präsident Clinton, den Plan von Owen und Vance nicht zu unterstützen. Izetbegovic hatte am 25.1. vor der Presse in Genf erklärt, die von den beiden Vermittlern vorgeschlagene territoriale Neugliederung belohne die "ethnischen Säuberungen" der Serben.

13.1. - B R D / C h i l e. Der seit Juli v.J. in Berlin inhaftierte ehemalige DDR-Staatsratsvorsitzende und SED- Generalsekretär Erich Honecker (vgl. "Blätter", 9/1992, S. 1030) wird aus der Untersuchungshaft entlassen, erhält mit Zustimmung des Bundesinnenministeriums einen Reisepaß und kann zu seiner Familie nach Chile ausreisen. Nach einem von den Anwälten Honeckers erwirkten Urteil des Landesverfassungsgerichts hatte das zuständige Landgericht die Haftbefehle aufgehoben und das Verfahren gegen Honecker aus Gesundheitsgründen eingestellt. Über die verschiedenen gerichtlichen Entscheidungen kommt es zu einer Kontroverse innerhalb der Berliner Justiz.

13.-15.1. - A b r ü s t u n g. Vertreter von 130 Staaten, darunter die Bundesrepublik, unterzeichnen in Paris das "Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen" (Convention on the Prohibition of the Development, Production, Stockpiling and Use of Chemical Weapons and Their Destruction). Das umfangreiche Vertragswerk, das im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz ausgearbeitet wurde (vgl. "Blätter", 10/1992, S. 1158), soll "180 Tage nach Hinterlegung der 65. Ratifikationsurkunde, keinesfalls jedoch früher als vor Ablauf von zwei Jahren" (Art. XXI) in Kraft treten.

15.1. - B u n d e s w e h r. Der Bundestag debattiert in 1. Lesung einen Gesetzentwurf der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP über künftige Bundeswehreinsätze außerhalb des Bündnisgebietes ("out of area"). Der Entwurf sieht Einsätze auch ohne Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vor. Die Fraktion der SPD kündigt an, sie werde dem Gesetz, das einer Zwei-DrittelMehrheit bedarf, in der vorliegenden Form nicht zustimmen.

17.1. - B ü n d n i s 9 0 / D i e G r ü n e n. Die Partei der Grünen und die ostdeutsche Bürgerbewegung Bündnis 90 schließen sich auf parallel stattfindenden Parteitagen in Hannover zur Partei "Bündnis 90/Die Grünen" zusammen. Die Fusion muß von den Mitgliedern in Urabstimmungen gebilligt werden.

19.1. - B u n d e s r e g i e r u n g. Nach dem Rücktritt von zwei Bundesministern (vgl. "Blätter", 2/1993, S. 132) nimmt Bundeskanzler Kohl eine Neubesetzung der Ressorts Wirtschaft, Landwirtschaft, Post und Forschung vor. An die Spitze des Wirtschaftsministeriums tritt Günter Rexrodt (FDP), das Amt des Vizekanzlers übernimmt Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP). Im Rahmen der Regierungsumbildung wird die Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre von 33 auf 26 reduziert.

- T ü r k e i. Ministerpräsident Demirel warnt auf einer Pressekonferenz in Damaskus vor der Gründung eines Kurdenstaates im Norden des Irak. Ein solcher Staat bedrohe die Stabilität im Nahen Osten und deshalb müsse eine Teilung des Irak verhindert werden. Demirel hatte zuvor mit dem syrischen Präsidenten Asad konferiert.

20.1. - U S A. Der Gouverneur des Staates Arkansas, William (Bill) Jefferson Clinton, wird 42. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Clinton und seine Vizepräsidentin Al Gore (zur Wahl vgl. "Blätter", 12/1992, S. 1414) leisten auf den Stufen des Capitols in Washington den Eid auf die Verfassung; Clinton hält eine Antrittsrede (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"). Der bisherige Präsident George Bush und sein Vizepräsident Dan Quayle verlassen das Weiße Haus nach einer Amtsperiode von vier Jahren (vgl. "Blätter", 3/1989, S. 262).

25.1. - B R D / P o l e n. Verteidigungsminister Rühe und sein polnischer Amtskollege Onyszkiewicz unterzeichnen in Bonn eine Vereinbarung über Zusammenarbeit und Informationsaustausch zwischen den Streitkräften beider Länder. Rühe erklärt bei dieser Gelegenheit, er könne sich die gemeinsame Teilnahme deutscher und polnischer Soldaten an UN-Blauhelm-Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen vorstellen. Die Bundesregierung werde Polen bei dem Bestreben unterstützen, die volle Einbindung in die europäisch-atlantische Sicherheitsstruktur zu erreichen.

26.1. - T s c h e c h i e n. Das Parlament der neuen Tschechischen Republik wählt in Prag Vaclav Havel zum ersten Staatsoberhaupt. Havel, bis Juli v.J. Präsident der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (vgl. "Blätter", 9/1992, S. 1030), liegt mit 109 Stimmen nur acht Stimmen über der vorgeschriebenen Mehrheit.

27.-29.1. - I n d i e n / R u ß l a n d. Der russische Präsident Jelzin hält sich zu einem Staatsbesuch in Indien auf. Während seines Aufenthalts in Delhi wird ein Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern abgeschlossen, der einen indisch-sowjetischen Vertrag vom August 1971 (Text in "Blätter", 11/1971, S. 1214 ff.) ablöst. - Jelzin setzt sich am 28.1. in einer Rede vor dem Parlament in Delhi für ein gemeinsames Handeln Rußlands, Indiens und Chinas ein.

29.-31.1. - P D S. Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) verabschiedet auf einem Parteitag in Berlin ein neues Parteiprogramm und wählt eine neue Führungsspitze. Der scheidende Vorsitzende Gregor Gysi (zur Wahl vgl. "Blätter", 2/1990, S. 132) erklärt, er wolle sich künftig auf den Fraktionsvorsitz im Bundestag und auf die Arbeit in den alten Bundesländern konzentrieren. Zum Nachfolger Gysis wird mit 92% der Delegiertenstimmen der Vorsitzende der PDS-Fraktion im Brandenburgischen Landtag, Lothar Bisky, gewählt.

1.2. - N A T O. Während eines Besuches des Hauptquartiers der Nordatlantischen Allianz in Brüssel äußert der kasachische Präsident Nasarbajew Bedenken gegen die Vorherrschaft eines einzigen militärpolitischen Bündnisses. Nasarbajew regt die Einberufung einer regelmäßigen Konferenz der Staaten Zentralasiens an, um Frieden und Stabilität in dieser Region zu sichern.

2.2. - R u ß l a n d / B R D. In Botschaften aus Anlaß des 50. Jahrestages des Endes der Schlacht von Stalingrad (2. Februar 1943) sprechen sich Bundeskanzler Kohl und der russische Präsident Jelzin für eine Politik der "Aussöhnung und Freundschaft zwischen unseren Völkern" (Kohl) aus. Jelzin schreibt u.a.: "Die Schlacht führte zu einem gerechten Sieg derer, die die Unabhängigkeit ihrer Heimat verteidigten, und zu einer schweren Niederlage für die, die sie angegriffen hatten." Stalingrad sei "eine Tragödie für beide Seiten" gewesen.

2.-4.2. - K S Z E. Der Ausschuß Hoher Beamter (AHB) befaßt sich am Sitz des Sekretariats der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Prag mit den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien und den Krisengebieten der ehemaligen Sowjetunion. Der Ausschuß bereitet außerdem die erste Sitzung des KSZE-Wirtschaftsforums vor, die Mitte März d.J. ebenfalls in der tschechischen Hauptstadt stattfinden soll.

3.2. - B e l a r u s. Das Parlament in der weißrussischen Hauptstadt Minsk hebt das nach dem Putschversuch in der ehemaligen Sowjetunion (August 1991) verhängte Verbot der Kommunistischen Partei auf. Das eingezogene Vermögen soll jedoch im Staatsbesitz bleiben. Das Parlament ratifiziert am 4.2. den Vertrag über die Reduzierung strategischer Atomwaffen (START 1) aus dem Jahre 1991, in dem die Übergabe der 81 in Weißrußland stationierten Raketen vom Typ SS-25 der ehemaligen Sowjetstreitkräfte an Rußland vorgesehen ist.

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