Ausgabe September 1994

Chronik vom 6. Juli bis 5. August 1994

6.7. - J u g o s l a w i e n. Die im April d.J. eingesetzte Kontaktgruppe (zur Zusammensetzung vgl. "Blätter", 6/1994, S. 648 f.) legt in Genf den Konfliktparteien einen von ihr ausgearbeiteten Plan mit Landkarte über die Aufteilung Bosniens vor. Danach soll die Muslimisch-Kroatische Föderation über 51% des Staatsgebietes verfügen, die Serben, die gegenwärtig 70% des Territoriums kontrollieren, sollen 49% erhalten. Die Außenminister der Kontaktgruppe fordern eine Zustimmung der Konfliktparteien innerhalb von zwei Wochen (bis zum 19.7.). Der russische Außenminister Kosyrew spricht von einem friedlichen Ultimatum, eine Ablehnung des Planes werde ernste Konsequenzen haben. Während die bosnischkroatische Seite am 19.7. ohne Vorbehalte zustimmt, wird die Entschließung der "Versammlung der Serbischen Republik" in Pale (18.-19.7.), die Serbenführer Karadzic am 20.7. in Genf übergibt, als Ablehnung des Planes bewertet. - Am 24.7. unterbreitet UN-Generalsekretär Boutros Ghali dem Sicherheitsrat seine Überlegungen über die Zukunft der Schutztruppe der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien (UNPROFOR) und stellt verschiedene Optionen zur Diskussion (Text des Briefes in "Dokumente zum Zeitgeschehen", S. 1144 ff.). - Am 28.7. verlangen die bosnischen Serben Korrekturen an der vorliegenden Landkarte sowie das volle Recht auf Selbstbestimmung, das auch das Recht auf einen Zusammenschluß mit dem benachbarten Serbien einschließt. - Am 30.7. beraten die Außenminister der Kontaktgruppe in Genf über die nächsten Schütte. Im Gespräch ist eine Verschärfung der gegen Serbien verhängten Wirtschaftssanktionen. Im Falle der Annahme des Friedensplans wird die allmähliche Lockerung dieser Sanktionen in Aussicht gestellt. Der russische Außenminister Kosyrew lehnt weitere Verhandlungen mit Karadzic ab und reist von Genf aus direkt nach Belgrad, um sich mit dem serbischen Präsidenten Milosevic zu treffen. - Am 2.8. richtet die Führung Serbiens an die bosnischen Serben die dringende Aufforderung, den internationalen Fiiedensplan für Bosnien-Herzegowina anzunehmen. - Am 3.8. bekräftigt die Versammlung in Pale nochmals ihre ablehnende Haltung zum Friedensplan und setzt ein Referendum für den 27. und 28. August d.J. an; die Versammlung werde sich am 31. August d.J. mit dem Ergebnis beschäftigen. - Am 4.8. verurteilt der serbische Präsident Milosevic in einer über Radio Belgrad verbreiteten Erklärung den Beschluß von Pale. Gleichzeitig gibt die Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) den Abbruch der politischen und wirtschaftlich- Beziehungen zu den bosnischen Serben sowie die Schließung der gemeinsamen Grenze bekannt. Ausgenommen seien nur Lieferungen von Nahrungsmitteln, Kleidung und Medikamenten. - Am 5.8. bombardieren Flugzeuge der NATO auf Anforderung des UNPROFOR-Kommandos eine Stellung der bosnischen Serben in der "Sperrzone" von Sarajewo. Die Serben hatten zuvor schwere Waffen aus einem Depot der vereinten Nationen abtransportiert und einen Hubschrauber der UN-Blauhelme abgeschossen. 

K S Z E. Die Parlamentarische Versammlung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa setzt ihre am Vortag begonnene dritte Tagung in der österreichischen Hauptstadt fort. In einer zum Abschluß (8.7.) verabschiedeten "Wiener Erklärung" stellt die Versammlung "mit tiefem Bedauern... die fortgesetzte Verletzung von KSZE-Prinzipien und Verpflichtungen in verschiedenen Regionen der KSZE" fest.

6.-7.7. - N a h e r O s t e n. Der israelische Ministerpräsident Rabin und Außenminister Peres einigen sich mit dem PLO-Vorsitzenden Arafat in Paris auf die Einleitung einer zweiten Phase für die palästinensische Teilautonomie. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Peres kündigt Arafat eine baldige Änderung der PLO-Charta durch den Palästinensischen Nationalrat an. Die gegen Israel gerichteten Formulierungen sollten gestrichen werden. - Am 12.7. trifft Arafat aus Tunis kommend in Gaza ein, um dort seinen ständigen Wohnsitz zu nehmen. Teile der PLO verbleiben jedoch in der tunesischen Hauptstadt. - Am 14.7. deutet Außenminister Peres auf einer Versammlung der Arbeiterpartei die Bereitschaft Israels an, die syrische Souveränität über das gesamte Golangebiet anzuerkennen. Peres verweist auf einen bisher geheimgehaltenen Kabinettsbeschluß, dessen Durchführung einen Frieden mit Syrien, eine Demilitarisierung der Golanhöhen und die Sicherstellung der Wasserreserven voraussetze. - Am 21.7. besucht der amerikanische Außenminister Christopher in Gaza den PLOVorsitzenden Arafat. Christopher, der sich auf einer Pendelmission zwischen Israel und Syrien befindet, konferiert am 22.7. in Damaskus mit Präsident Asad. In Presseberichten heißt es, Syrien fordere von Israel zunächst eine Annullierung des KnessetGesetzes vom Dezember 1981 über die Annexion des Golan. - Am 25.7. unterzeichnen König Hussein von Jordanien und der israelische Premierminister Rabin in Washington eine Erklärung, die den seit 46 Jahren bestehenden Kriegszustand zwischen beiden Ländern beendet (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen", S. 1149 ff.). Der amerikanische Präsident C. Clinton unterzeichnet das Dokument als Gastgeber und Zeuge. Die in der "Erklärung von Washington" enthaltene Formulierung, Israel respektiere "die derzeitige Sonderrolle des Haschemitischen Königreichs Jordanien in den moslemischen heiligen Stätten Jerusalems", stößt auf heftige Kritik der PLO.

7.7. - J e m e n. Truppen des Nordens erobern die südjemenitische Hafenstadt Aden (vgl. "Blätter", 7/1994, S. 776). Die Führer des Südens, unter ihnen Präsident al-Beidh, verlassen das Land und kündigen aus dem die Fortsetzung des politischen und militärischen Kampfes gegen den Norden an. - Am 28.7. führen Vertreter beider Landesteile unter Vermittlung der Vereinten Nationen in Genf ein Gespräch, das jedoch nach wenigen Stunden ergebnislos abgebrochen wird.

8.7. - K o r e a. Vertreter der Demokratischen Republik Korea (Nordkorea) und der USA nehmen in Genf erneut einen Dialog auf, in dem es vor allem um das umstrittene Atomprogranim Nordkoreas (vgl. "Blätter", 8/1994, S. 905) sowie um die Verbesserung der diplomatischen und wirtschaftlichen Kontakte zwischen beiden Regierungen geht. Nach dem Eintreffen der Nachricht vom plötzlichen Tod des Präsidenten Kim Il Sung am 9.7. werden die Verhandlungen ausgesetzt. Zu den mehrtägigen Trauerfeierlichkeiten für das nordkoreanische Staatsoberhaupt sind ausländische Staatsgäste nicht zugelassen. Anschließend heißt es in der Hauptstadt Pjöngjang, die Führung des Landes habe Kim. Il Jong, der Sohn Kim Il Sungs, übernommen. Eine offizielle Bestätigung für diese Nachricht gibt es jedoch zunächst nicht. Das für Ende Juli d.J. geplante Gipfeltreffen der Präsidenten Süd- und Nordkoreas wird abgesagt. - Am 5.8. werden die amerikanisch-nordkoreanischen Verhandlungen in Genf fortgesetzt.

8.-9.7. - W i r t s c h a f t s g i p f e l. Die Staats- und Regierungschefs von sieben westlichen Industrieländern (G-7) treffen sich auf Castel dell'Ovo in Neapel zu ihrem 20. Weltwirtschaftsgipfel. An den politischen Gesprächen am zweiten Konferenztag nimmt erstmals der russische Präsident Jelzin teil.

10.-12.7. - B R D / U S A. Der amerikanische Präsident Clinton hält sich im Rahmen einer Europareise in der Bundesrepublik auf. Clinton besucht auch Berlin, wo er vor dem Brandenburger Tor eine Rede hält (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen", S. 1152 ff.).

12.7. - B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet in einem in Karlsruhe verkündeten Urteil die Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen außerhalb des Bundesgebietes im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit gemäß Artikel 24 Absatz 2 des Grundgesetzes als zulässig. Vorbedingung sei jedoch die vorherige "konstitutive" Zustimmung des Bundestages. Insoweit habe die Bundesregierung beim Adria-Einsatz wie auch bei den Awacs-Flügen der Bundeswehr gegen die Verfassung verstoßen (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen", S. 1135 ff.). 

U N O. Generalsekretär Boutros Ghali begrüßt in New York verbreiteten Erklärung des Bundesverfassungsgerichts über die Teilnahme der Bundeswehr an friedenserhaltenden Einsätzen der UNO.

14.7. - F r a n k r e i c h. An der jährlichen Militärparade zum französischen Nationalfeiertag nimmt erstmals eine Einheit des Eurokorps teil, zu der auch deutsche Soldaten gehören. Präsident Mitterrand hatte die Einladung ausgesprochen und gegen zahlreiche Kritiker im eigenen Land verteidigt. 15.7. - E U. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs nominiert auf einer Sondersitzung unter Vorsitz von Bundeskanzler Kohl in Brüssel den bisherigen luxemburgischen Premierminister Jacques Santer (Christdemokrat) als neuen Kommissionspräsident. Santer soll das Amt als Nachfolger des französischen Sozialisten Jacques Delors an der Spitze einer neuformierten Kommission im Januar 1995 antreten. - Am 19.7. konstituiert sich in Straßburg das neugewählte Europäische Parlament (vgl. "Blätter", 8/1994, S. 904 f.) und wählt den deutschen Sozialdemokraten Klaus Hänsch mit 365 von 542 Stimmen zu seinem Präsidenten. Über die Zusammensetzung der einzelnen Fraktionen werden folgende vorläufige Angaben gemacht: Sozialisten und Sozialdemokraten 198, Europäische Volkspartei 197, Liberale und Demokraten 43, Bund der Vereinten Europäischen Linken 28, Forza Europa 27, Sammlungsbewegung der Europäischen Demokraten 26, Grüne 23, Radikale Europäische Allianz 19, Europa der Nationen 19 Mitglieder; 27 Abgeordnete sind fraktionslos. Das Parlament billigt am 21.7. mit 260 gegen 238 Stimmen bei 23 Enthaltungen die Ernennung Santers zum Kommissionspräsidenten.

19.7. - U k r a i n e. Vor dem Parlament in Kiew legt der frühere Ministerpräsident Leonid Kutschma den Amtseid als neues Staatsoberhaupt ab. Kutschma hatte bei den Wahlen Anfang Juli d. J. erfolgreich gegen den bisherigen Präsidenten Leonid Krawtschuk kandidiert.

21.7. - S a c h s e n - A n h a l t. Der Landtag (zur Zusammensetzung vgl. "Blätter", 8/1994, S. 906) wählt auf seiner konstituierenden Sitzung in Magdeburg den SPD-Politiker Reinhard Höppner zum neuen Ministerpräsidenten. Höppner erhält im dritten Wahlgang 48 von 95 gültigen Stimmen. Auf seinen Gegenkandidaten, den bisherigen Regierungschef Christoph Bergner (CDU; vgl. "Blätter", 1/1994, S. 6), entfallen 37 Stimmen, bei 10 Enthaltungen. Ministerpräsident Höppner steht an der Spitze einer Minderheitsregierung, auf deren Bildung sich Sozialdemokraten und Grüne geeinigt hatten.

22.7. - B u n d e s t a g. Das Parlament erörtert auf einer Sondersitzung in Bonn die Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. d.M. und stimmt rückwirkend dem Bundeswehreinsatz in der Adria und der Beteiligung an den Awacs-Missionen zu. Für eine entsprechende von Bundesaußenminister Kinkel eingebrachte Regierungsvorlage votieren 424 der 488 anwesenden Abgeordneten, bei 48 Gegenstimmen und 16 Enthaltungen.

24.7. - I r l a n d / G r o ß b r i t a n n i e n. Die der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) nahestehende Partei Sinn Fein formuliert auf einer Zusammenkunft in Letterkenny (Republik Irland) eine erste Stellungnahme zu dem britisch-irischen Gesprächsangebot an die Bürgerkriegsparteien vom Dezember V.J. (vgl. "Blätter", 2/1994, S. 136). Der Parteivorsitzende Gerry Adams erklärt nach den Beratungen der 800 Delegierten, das Angebot aus London und Dublin sei keine tragfähige Grundlage für eine Friedenslösung. Solange der britische Souveränitätsanspruch auf Nordirland fortbestehe, könne Sinn Fein der IRA keinen Gewaltverzicht empfehlen.

31.7. - H a i t i. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ermächtigt in New York die Mitgliedstaaten zur Bildung einer multinationalen Streitkraft unter einem einheitlichen Kommando und zum Einsatz "aller notwendigen Mittel", um "den Abzug der Militärmachthaber in Haiti zu erleichtern". Für die entsprechende Resolution 940 (1994) stimmen zwölf der 15 Ratsmitglieder bei Stimmenthaltung von China und Brasilien; der Ratssitz Ruandas ist wegen des Bürgerkrieges vakant.

1.8. - P o l e n / B R D. Bundespräsident Herzog nimmt an den Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes teil und hält am Denkmal für die Opfer eine Rede (Vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen", S. 1153 f.). Die Einladung des Bundespräsidenten durch Präsident Walesa hatte in der polnischen Öffentlichkeit zu einer Kontroverse geführt.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo