Ausgabe Mai 1995

Chronik des Monats März 1995

1.3. - P o l e n. Mit einem "konstruktiven Mißtrauensvotum" enthebt das Abgeordnetenhaus (Sejm) den bisherigen Ministerpräsidenten Waldemar Pawlak (Baueinpartei/PSL) seines Amtes und wählt mit 285 gegen fünf Stimmen den Sejm-Vorsitzenden Jozef Oleksy (Linksbündnis/SLD) zum Regierungschef (vgl. "Blätter", 4/1995, S. 389). Die drei Oppositionsparteien enthalten sich der Stimme. Neuer Außenminister wird Wladyslaw Bartoszewski (parteilos), bisher Botschafter in Wien.

- B e l g i e n. Der Beschluß über die vollständige Abschaffung der Wehrpflicht (vgl. "Blätter", 8/1992, S. 902) tritt in Kraft. Verteidigungsminister Karel Pinxten hatte am 9. Februar d.J. eine Kampagne für die Anwerbung von Freiwilligen zum Dienst in den Streitkräften angekündigt.

3.3. - R u ß l a n d / Ö s t e r r e i c h. Die Botschaft der Russischen Föderation in Wien teilt mit, Präsident Jelzin werde wegen Arbeitsüberlastung nicht an der 50-Jahr-Feier der Zweiten Republik teilnehmen. Die Regierung der Großen Koalition hatte es zuvor abgelehnt, aus Anlaß des Jubiläums dem Text einer gemeinsamen Erklärung mit ausdrücklichem Bezug auf den mit Frankreich, Großbritannien, der Sowjetunion und den USA abgeschlossenen "Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich" vom Mai 1955 zustimmen.

5.-18.3. - C h i n a. In der "Großen Halle des Volkes" in Peking findet die Plenarversammlung des Nationalen Volkskongresses (Parlament) statt. Ministerpräsident Li Peng verliest vor den 2811 Abgeordneten einen umfangreichen Rechenschaftsbericht, in dem er die eingeleiteten Reformen des vergangenen Jahres als entscheidenden Schritt vorwärts bei der Errichtung einer sozialistischen Marktwirtschaft bezeichnet. Das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr müsse auf ein gesundes Tempo von acht bis neun Prozent gebremst und damit die Inflationsrate von mehr als 21 auf 15% gedrückt werden. Personalvorschläge der Regierung und einige Gesetzesvorhaben werden von einer starken Minderheit der Abgeordneten abgelehnt.

6.3. - E U. Die Außenminister der Europäischen Union einigen sich in Basel auf die Errichtung einer Zollunion mit der Türkei. Der Vertrag muß vor Inkrafttreten (vorgesehen ist Anfang 1996) vom Europäischen Parlament mit absoluter Mehrheit ratifiziert werden. - Am 19.3. erörtern die Außenminister auf einer informellen Zusammenkunft im französischen Carcassonne einen Vorschlag von Außenminister Juppé zum Abschluß eines Sicherheitspakts zwischen der NATO und Rußland. Der Pakt solle Mechanismen zur gegenseitigen Konsultation über alle gemeinsamen Sicherheitsprobleme vorsehen und beiderseitige Nichtangriffserklärungen enthalten. In Presseberichten heißt es, Frankreich, das gegenwärtig die EU-Präsidentschaft stellt, wolle mit seinem Vorschlag den blockierten Dialog der NATO mit Rußland wiederbeleben.

6.-12.3. - U N O. Die Vereinten Nationen halten in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen den ersten Weltgipfel für soziale Entwicklung ("World Summit for Social Development") ab, an dem Regierungsvertreter aus über 180 Staaten teilnehmen. Generalsekretär Boutros Ghali fordert in seiner Eröffnungsansprache einen neuen Sozialkontrakt zwischen den Mitgliedern der Weltgemeinschaft. Der Gipfel verabschiedet eine Erklärung ("Declaration") sowie ein Aktionsprogramm ("Program of Action"). In der Erklärung verpflichten sich die Regierungen, ein wirtschaftliches, politisches, soziales, kulturelles und gesetzliches Umfeld zu schaffen, das den Menschen ermöglicht, sozialen Fortschritt zu erreichen". Der Kampf gegen die Armut müsse "als ethisches, soziales, politisches und wirtschaftliches Gebot für die Menschheit betrachtet werden. Die Vertreter vieler Entwicklungsländer kritisieren das Schlußdokument, weil es kaum konkrete Vepflichtungen für die Industriestaaten beinhalte. - Am 8.3. scheitert in Genf der Versuch, die Volksrepublik China vor dem Menschenrechtsausschuß wegen ihrer Menschenrechtspolitik zu verurteilen. Eine entsprechende Resolution wird mit 21 gegen 20 Stimmen abgelehnt.

7.3. - N a h e r O s t e n. Die Außenminister Ägyptens, Israels und Jordaniens sowie ein Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde führen in der jordanischen Hauptstadt Amman Gespräche über die Rückkehr während des Sechstagekrieges von 1967 vertriebener Palästinenser. Israel gibt deren Zahl mit 200 000 an, hingegen ist in jordanischen Unterlagen von 700 000 Palästinensern die Rede. Von arabischer Seite heißt es, den Betroffenen stehe ein Rechtsanspruch auf Rückkehr zu. - Am 8.3. kommt der amerikanische Außenminister Christopher erneut in die Region (vgl. "Blätter", 4/1995, S. 388). Christopher, der am 10.3. mit Palästinenserführer Arafatin dessen Hauptquartierin Gaza zusammentrifft, teilt am 14.3. in Damaskus mit, Israel und Syrien würden die im Dezember v.J. abgebrochenen Verhandlungen in Kürze in Washington wieder aufnehmen. - Am 9.3. heißt es nach einem Treffen des israelischen Außenministers Peres mit dem Palästinenserführer Arafat am Grenzübergang Erez, ein Abkommen über die zweite Phase der palästinensischen Autonomie solle wie geplant bis Ende Juni d.J. unterzeichnet werden. Am 14.3. besucht der britische Premierminister Major die Palästinensische Autonomiebehörde im Gazastreifen und führt ein Gespräch mit Arafat.

8.3. - G r o ß b r i t a n n i e n. Innenminister Howard kündigt die Lockerung der im Zusammenhang mit dem Konflikt um Nordirland verhängten "Antiterror-Maßnahmen" an (vgl. "Blätter", 4/1995, S. 390). Die Regierung wolle jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vollständig auf diese Maßnahmen verzichten. 9.3. - R u ß l a n d. Präsident Jelzin erklärt in Moskau gegenüber den Außenministern Kinkel (Bundesrepublik), Juppé (Frankreich) und Madariaga (Spanien), die russische Führung sei entschlossen, die "Krise" in Tschetschenien mit politischen Mitteln beizulegen und in dieser Republik freie und demokratische Wahlen abzuhalten. Jelzin kritisiert gleichzeitig die Entscheidung der Europäischen Union, das geplante Abkommen mit Rußland über wirtschaftliche und handelspolitische Erleichterungen auf Eis zu legen. - Am 16.4. unterzeichnen Präsident Jelzin und sein armenischer Amtskollege Petrosjan in Moskau ein Abkommen, das den Verbleib russischer Truppen in Armenien für weitere 25 Jahre erlaubt. Stationierungsort ist der Stützpunkt Gjumri in der Nähe der türkischen Grenze. - Am 22.3. stimmt auch Georgien der Stationierung russischer Truppen zu. Als Stützpunkte werden u.a. der Schwarzmeerhafen Batu sowie Gudauta in Abchasien genannt. Präsident Schewardnadse bezeichnet das entsprechende Abkommen mit Rußland, das ebenfalls eine Laufzeit von 25 Jahren hat, als eine neue Stufe in den gegenseitigen Beziehungen.

12.3. - J u g o s l a w i e n. Die kroatische Regierung nimmt die Forderung nach einem vollständigen Abzug der Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR) zurück (vgl. "Blätter", 3/1995, S. 260) und erklärt sich bereit, dem Verbleib eines verringerten Kontingents der UN-Blauhelme auf ihrem Staatsgebiet zuzustimmen. Eine entsprechende Mitteilung macht Präsident Tudjman nach einem Treffen mit dem amerikanischen Vizepräsidenten Gore am Rande des UN-Sozialgipfels in Kopenhagen. Das Blauhelm-Kontingent müsse von derzeit 15 000 auf 5000 Mann reduziert werden und ein neues Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erhalten. - AM 13.3. unternehmen NATO-Kampfflugzeuge demonstrative Aufklärungsflüge über der bosnischen Hauptstadt Sarajewo. Das UN-Kommando erklärt dazu, man habe die NATO gebeten, serbische Artilleriestellungen zu lokalisieren und festzustellen, wie viele schwere Waffen in die 20-km-Zone um den Stadtkern zurückgebracht worden seien. Berichterstatter melden die bisher schwersten Verletzungen der seit Jahresbeginn geltenden Waffenruhe um Sarajewo. - Am 31.3, verlängert der UN-Sicherheitsratin New York das bisherige UNPROFOR-Mandat für weitere acht Monate, beschließt aber gleichzeitig eine Reorganisation und Umbenennungen. Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sollen künftig drei getrennt geführte Kontingente operieren für Bosnien (United Nation Protection Force/UNPROFOR), für Kroatien (U.N. Confidence Restoration Operation in Croatia/UNCRO), für Mazedonien (U.N. Preventive Deployment Force/UNPREDEP).

17.3. - U k r a i n e. Das Parlament in Kiew setzt mit 246 gegen 55 Stimmen die Verfassung der autonomen Krimregion außer Kraft, Präsident Kutschma hatte den Behörden der mehrheitlich von Russen bewohnten Region zuvor Separatismus und eine grobe Verletzung der Gesetze der Ukraine vorgeworfen.

20.3. - T ü r k e i. Türkische Truppen stoßen in den Nordirak vor in ein von Kurden verwaltetes Gebiet, das nach dem Ende des Golfkrieges im Jahre 1991 von den Vereinten Nationen als Sicherheitszone für kurdische Flüchtlinge eingerichtet worden war. Nach der Invasion auf Zypern (vgl. "Blätter", 8/1974, S. 766) handelt es sich um die bisher massivste Militäroperation der Türkei auf fremdem Territorium, an der 35 000 Mann, unterste von Kampfflugzeugen, Helikoptern und Panzern, beteiligt sind. Der Generalstab in Ankara begründet das türkische Vorgehen mit einem "Machtvakuum" in der Grenzregion. Aus Washington wird gemeldet, die türkische Ministeipräsidentin Ciller habe Präsident Clinton telefonisch versichert, die Offensive sei von begrenzter Dauer und echte sich gegen die bewaffneten Verbände der Kurden, vor allem der Kurdisch en Arbeiterpartei (PKK); Clinton habe "Verständnis" geäußert. Im Namen der Europäischen Union erklärt der Ratsvorsitzende, der französische Außenminister Juppé, die Türkei verstoße gegen Prinzipien des internationalen Rechts. Dies gelte ungeachtet der Tatsache, daß die EU die PKK als terroristische Organisation betrachte. Der Irak protestiert am 22.3. gegen die Verletzung seiner Souveränität und territorialen Integrität, Rußland fordert am 23.3. den Rückzug der türkischen Truppen aus dem Nordirak. Beobachter aus dem Kampfgebiet sprechen von Massenverhaftungen in kurdischen Flüchtlingslagern und hohen Verlusten unter der Zvilbevölkerung.

20.-21.3. - E U / O S Z E. Die "Konferenz für die Stabilität in Europa" verabschiedet in Paris einen "Stabilitätspakt" (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"). Der Pakt, der auf eine von Frankreich angeregte Initiative der Europäischen Union zurückgeht (vgl. "Blätter", 7/1994, S. 778), besteht aus einer Erklärung sowie einer Liste von Abkommen und Vereinbarungen über gutnachbarliche Beziehungen und Zusammenarbeit. Die Durchführung der Vereinbarungen und Projekte soll durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überwacht werden. Der russische Außenminister Kosyrew warnt auf der Pariser Konferenz erneut vor einer Osterweiterung der NATO. Diese militärische Allianz solle durch ein neues, umfassendes Sicherheitsmodell ersetzt werden.

22.-23.3. - R u ß l a n d / U S A. Der amerikanische Außenminister Christopher und sein russischer Kollege Kosyrew bereiten in Genf das für Mai d. J. in Moskau geplante Gipfeltreffen der Präsidenten Clinton und Jelzin vor. Beide Minister befürworten vor der Presse die baldige Ratifizierung des START-II-Vertrages durch Senat und Staatsduma. In einer gemeinsamen Erklärung werden die Bemühungen um eine Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen als "eine Angelegenheit von höchster Priorität" bezeichnet. - Am 28.3. setzen die USA die anstehende Verlängerung eines Vertrages mit Rußland über die friedliche Nutzung der Kernenergie aus. Die Entscheidung wird in Washington mit der russischen Unterstützung für ein Reaktorprojekt im Iran begründet.

23.3. - A r a b i s c h e L i g a. Der Ministerrat, der aus Anlaß des 50. Jahrestages der Gründung der Liga (22. März 1945) in Kairo tagt, fordert Israel erneut auf, dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen beizutreten (vgl. "Blätter", 41 1995, S. 389). Eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten müsse außer den arabischen Staaten auch Israel und den Iran umfassen.

25.3. - A b r ü s t u n g. Kuba tritt als letzter Staat der Region dem "Vertrag über das Verbot von Kernwaffen in Lateinamerika und der Karibik" ("Text in Blätter", 9/1967, S. 964 ff.) bei. Außenminister Robaina unterzeichnet die Urkunde in Mexiko.

31.3. - H a i t i. Die im September v.J. auf Haiti gelandeten amerikanischen Einheiten (vgl. "Blätter", 11/1994, S. 1289) werden dem Kommando der Vereinten Nationen unterstellt. An der Zeremonie für die "Blauhelme" in Port-au-Prince nehmen US-Präsident Clinton und UN-Generalsekretär Boutros Ghali teil.

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