Ausgabe November 1995

Chronik des Monats September 1995

1.9. - J u g o s l a w i e n. Das Hauptquartier der NATO in Brüssel dementiert Meldungen über die Einstellung der Luftangriffe auf Stellungen der bosnischen Serben (vgl. "Blätter", 10/1995, S. 1156 f.). Die Aktion werde fortgesetzt, bis die militärischen Ziele erreicht seien. In Bonn teilt das Bundesverteidigungsministerium ergänzend mit, Tornados der Bundesluftwaffe seien zur Luftaufklärung über Bosnien eingesetzt worden. - Am 2.9. unterrichtet der amerikanische Bosnien-Vermittler Richard Holbrooke den NATO-Rat in der belgischen Hauptstadt über den Stand seiner Mission. Anschließend werden vier Hauptforderungen an die bosnischen Serben genannt: Rückzug der schweren Waffen aus der Umgebung von Sarajewo, Garantie vollständiger Bewegungsfreiheit für das Personal der Vereinten Nationen; Öffnung des Flughafens und der Versorgungsrouten von Sarajewo; Einstellung aller Angriffe auf die vier UN-Schutzzonen. In Presseberichten heißt es, die NATO habe den Serben eine Frist gesetzt. Am 4.9. kündigt der bosnische Serbenführer Karadzic in einem Telefongespräch mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Carter den Rückzug der schweren Waffen aus der Schutzzone um Sarajewo an. Man habe bereits damit begonnen, die Versorgungsrouten zu öffnen. Die NATO bezeichnet die Antwort der bosnischen Serben als insgesamt widersprüchlich und nicht akzeptabel und nimmt am 5.9. nach einer Unterbrechung von vier Tagen die Luftangriffe auf serbische Stellungen wieder auf. Im Verlauf der Attacken werden auch amerikanische Marschflugkörper (Cruise Missiles) eingesetzt. - Am 8.9. einigen sich die Außenminister Bosnien-Herzegowinas, Kroatiens und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) durch Vermittlung der Bosnien-Kontaktgruppe in Genf auf "Grundprinzipien" ("Agreed Basic Principles") für eine Lösung ihrer Territorialprobleme. Das Dokument (Text in "Blätter", 10/1995, S. 1278) sieht einen einheitlichen Staat Bosnien vor, der aus einer kroatisch-muslimischen Föderation (Bosnien-Herzegowina) sowie aus einer Republik Serbien bestehen soll. - Am 14.9. setzt das NATOHauptquartier die Luftangriffe in Bosnien zunächst für 72 Stunden aus, eine Frist, die später verlängert wird. Das "Ultimatum" solle der bosnisch-serbischen Seite Gelegenheit zum Einlenken geben. Vermittler Holbrooke bemüht sich in Sarajewo und Zagreb, Bosnien und Kroatien zur Beendigung ihrer neuen Offensive in Nordwest-Bosnien zu bewegen. In Presseberichten aus "NATOKreisen" in Brüssel heißt es am 21.9., die Bedingungen von UN und NATO seien durch die bosnischen Serben erfüllt. Die Operation "Deliberate Force" werde vorderhand "auf Eis gelegt". Auswertungsarbeiten und Aufklärungsflüge gingen weiter. Auf Angriffe auf Schutzzonen oder verdächtige Bewegungen innerhalb der Schutzzonen werde die NATO auch künftig sofort reagieren, die Eingreiftruppe der Vereinten Nationen bleibe einsatzbereit. - Am 26.9. setzt die Kontaktgruppe ihre Beratungen mit den Außenministern Bosniens, Kroatiens und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) in New York fort. Vereinbart werden weitere Grundprinzipien ("Further Agreed Basic Principles"; Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"). Der amerikanische Außenminister Christopher erklärt, die USA würden sich jeder Abmachung entgegenstellen, die eine Abspaltung der bosnischen Serben und deren Anschluß an Serbien vorsehe. Christopher fordert als nächsten Schritt einen landesweiten Waffenstillstand in Bosnien. - Am 29.9. nimmt US-Vermittler Holbrooke in Sarajewo Verhandlungen überein Waffenstillstandsabkommen auf.

2.-3.9. - R u ß l a n d / B R D. Bundeskanzler Helmut Kohl hält sich zu einem kurzen Arbeitsbesuch in der russischen Hauptstadt auf. Die Gespräche mit Präsident Jelzin, in deren Mittelpunkt die Lage im früheren Jugoslawien steht, finden in Sawidowo nördlich von Moskau statt. Der Bundeskanzler erklärt vor seiner Rückreise nach Bonn, bei der Beurteilung des militärischen Vorgehens der NATO in Bosnien habe es keine Übereinstimmung mit der russischen Seite gegeben. Kohl kündigt einen Staatsbesuch in Rußland für 1996 an.

4.-15.9. - U N O. In der chinesischen Hauptstadt findet die 4. Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen statt. Zum Abschluß werden eine "Erklärung von Peking" ("Beijing Declaration") sowie ein umfangreiches Aktionsprogramm ("Platform for Action") verabschiedet. - Am 19.9. wird in New York die 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen eröffnet. Die Delegationen aus den 185 Mitgliedstaaten wählen Diogo Freitas da Amaral (Portugal) zum Präsidenten. Wie im vergangenen Jahr entscheidet der Lenkungsausschuß, die von einigen Staaten beantragte Aufnahme Taiwans ("Republic of China") nicht auf die Tagesordnung zu setzen (vgl. "Blätter", 11/1994, S. 1289). Die Außenminister Frankreichs und Chinas, de Charette und Qian Qichen, bekräftigen vor der Versammlung am 27.9. das Recht ihrer Staaten, bis zu einem weltweiten Atomteststopp ihre Versuche mit Kernwaffen fortzusetzen. - Am 22.9. weist der Internationale Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen in Den Haag den Antrag Neuseelands auf Erlaß von "Einstweiligen Maßnahmen" ("Provisional Measures") gegen die französischen Kernwaffenversuche zurück (vgl. "Blätter", 10/1995, S. 1158). Die Entscheidung fällt mit zwölf gegen drei Stimmen.

5.9. - F r a n k r e i c h. Trotz massiver internationaler Kritik beginnt Frankreich eine neue Testserie mit Kernwaffen (zur Ankündigung vgl. "Blätter", 8/1995, S. 901 ff.). Die unterirdische Explosion findet im Atoll von Mururoa statt. Premierminister Juppé erklärt, die weltweiten Proteste hätten die Grenze der Hysterie erreicht. Die Regierung von Neuseeland ruft ihren Botschafter aus Paris zurück. Auf Tahiti, der Hauptinsel von Französisch-Polynesien, setzt die Territorialverwaltung Polizei gegen Demonstranten ein.

6.9. - R u ß l a n d. Das Parlament (Duma) übt scharfe Kritik an der russischen Balkanpolitik und fordert Präsident Jelzin auf, Außenminister Kosyrew zu entlassen und das vereinbarte Programm zur "Partnerschaft für den Frieden" angesichts der NATO-Militäraktion in Bosnien auszusetzen. Jelzin empfängt am 7.9. den gegenwärtigen Ratspräsidenten der Europäischen Union, den spanischen Ministerpräsidenten Gonzalez, der sich zusammen mit EU-Kommissionspräsident Santer in Moskau aufhält. Der russische Präsident verurteilt bei dieser Gelegenheit das Vorgehen der NATO und warnt vor einem Rückfall in den Kalten Krieg. - Am 8.9. bekräftigt Präsident Jelzin auf einer Pressekonferenz erneut seine ablehnende Haltung gegenüber einer NATO-Erweiterung. Die Ausdehnung der westlichen Allianz bis an die Grenzen Rußlands wäre ein "großer politischer Fehler" und könne "die Flammen des Krieges in ganz Europa entfachen". - Am 11.9. bezeichnet Außenminister Kosyrew in einem Fernsehinterview die Kritik der Duma als "Überreaktion". Eine neue Konfrontation mit dem Westen liege keinesfalls im Interesse Rußlands.

7.9. - B a l t i k u m. Die Präsidenten Estlands, Lettlands und Litauens bekunden auf einer Zusammenkunft in der estnischen Hauptstadt Tallinn ihr gemeinsames Interesse an einer Mitgliedschaft in der NATO. Der Beitritt solle zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen.

13.9. - G r i e c h e n l a n d / M a z e d o n i e n. Vertreter beider Regierungen schließen nach längeren Verhandlungen ein Interimsabkommen über die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen. An der Unterzeichnung durch die Außenminister in New York nimmt auch UN-Generalsekretär Boutros Ghali teil. Griechenland verpflichtet sich zur Aufhebung seines umstrittenen Handelsembargos (vgl. "Blätter", 4/1994, S. 394), Mazedonien verpflichtet sich im Gegenzug zur Änderung seines Staatswappens ("Stern von Vergina"). Ungelöst bleibt der Konflikt um die Staatsbezeichnung "Mazedonien".

14.9. - N A T O. Der ukrainische Außenminister Udowertko trifft in Brüssel mit dem NATO-Rat zusammen, um das "Individuelle Partnerschaftsprogramm" (IPP) im Rahmen der "Partnerschaft für den Frieden" zu vereinbaren. In Presseberichten heißt es, die Ukraine strebe eine besondere Beziehung ("special relationship") mit der NATO nach dem Vorbild Rußlands an. Generalsekretär Claes erklärt dazu, er schätze das Wort "special" nicht, die Zusammenarbeit mit der Ukraine sei aber innerhalb und außerhalb der "Partnerschaft für den Frieden" besonders intensiv. - Am 28.9. erläutert Claes den osteuropäischen Teilnehmern der "Partnerschaft für den Frieden" eine umfangreiche Studie über die Erweiterung der Allianz ("Study an NATO Enlargement"). Das Dokument (Auszüge in "Dokumente zum Zeitgeschehen") formuliert Bedingungen für die Aufnahme neuer Mitglieder in die Organisation, ohne jedoch Zeitpunkte und Namen zu nennen.

20.9. - E U. Das Europäische Parlament richtet von Straßburg aus mit 281 gegen 232 Stimmen einen dringenden Appell an die französische Regierung, auf die weiteren geplanten Kernwaffentests zu verzichten. Die EU-Kommission wird aufgefordert, die Tests als besonders gefährliche Versuche im Sinne von Artikel 34 des EURATOM-Vertrages anzusehen. - Vom 22.-23.9. treffen sich auf Einladung des spanischen Regierungschefs Gonzalez, amtierender Ratspräsident der Europäischen Union, die Regierungschefs der Mitgliedstaaten auf Mallorca zu einem vertraulichen Meinungsaustausch. Ebenso wie auf einem vorangegangenen Außenministertreffen in Santander (9.9.) wird zum Teil heftige Kritik an der neuen Kernwaffen-Testserie Frankreichs geübt. Zur Debatte steht auch ein "Fahrplan" für die weitere Entwicklung der Union. Die Regierungskonterenz zur Reform des Maastrichter Vertrages solle Anfang 1997 abgeschlossen werden, so daß noch im gleichen Jahr die Beitrittsverhandlungen mit Malta, Zypern und einigen osteuropäischen Ländern beginnen könnten.

21.9. - B u n d e s t a g. Das Parlament beschließt mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit eine Änderung des Grundgesetzes, die die automatische Ankoppelung der Abgeordnetenbezüge (Diäten) an die Besoldung "eines Richters an einem obersten Bundesgericht" (Besoldungsgruppe R6) ermöglichen soll. Das gemeinsam von CDU/CSU und SPD eingebrachte Gesetz wird in namentlicher Abstimmung mit 506 von 651 abgegebenen Stimmen angenommen. Abgelehnt wird die Vorlage von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und PDS. Aus den Reihen des Bundesrates, der der Grundgesetzänderung ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit zustimmen muß, werden verfassungspolitische Bedenken angemeldet. Mit der Neuregelung und Erhöhung der Diäten soll eine Parlamentsreform verbunden werden, die u.a. die Verkleinerung des Bundestages (frühestens ab dem Jahre 2002) vorsieht.

25.9. - A b r ü s t u n g. In der Wiener UNO-City beginnt eine Konferenz zur Überprüfung der "Konvention über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können" (VN-Waffenübereinkommen (vgl. "Blätter", 11/1980, S. 1283). Von einem Teil der bisher erst rund 50 Vertragsstaaten wird dabei ein weltweites Verbot der Herstellung, Lagerung und Weitergabe von handverlegten Tretminen (Anti-Personen-Minen) gefordert.

26.9. - E u r o p a r a t. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bezeichnet in einem Urteil den "Radikalenerlaß" der Bundesregierung aus dem Jahre 1972 als einen Verstoß gegen die Menschenrechte. Das Gericht gibt damit der Klage einer Lehrerin statt, die im Jahre 1986 wegen einer Kandidatur für die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) aus dem Schuldienst entlassen worden war. Das Recht auf Meinungs- und Vereingungsfreiheit gelte auch für Beamte. Am 28.9. setzt sich Bundeskanzler Kohl vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats für eine schnelle Aufnahme Rußlands ein. Ohne die Unterstützung der demokratischen Kräfte von außen werde der russische Weg zur Demokratie und zum Rechtsstaat scheitern. Die Versammlung hatte dem Ministerrat am 26.9. die Aufnahme der Ukraine in den Rat empfohlen.

28.9. - N a h e r O s t e n. Der israelische Ministerpräsident Rabin und der PLO-Vorsitzende Arafat setzen im Weißen Haus in Washington ihre Unterschrift unter ein umfangreiches Vertragswerk über eine erweiterte Autonomie der Palästinenser im Westjordanland ("Oslo B"). An der feierlichen Zeremonie nehmen neben dem amerikanischen Präsidenten Clinton der ägyptische Präsident Mubarak sowie König Hussein von Jordanien teil. Das Abkommen sieht u.a. Fristen für den vollständigen israelischen Abzug aus sechs palästinensischen Städten sowie für die Freilassung palästinensischer Gefangener aus israelischen Gefängnissen vor. Das autonome Gebiet Jericho soll erweitert werden. Zuvor hatten das PLO-Exekutivkomitee in Tunis (am 26.9.) und das israelische Kabinett in Jerusalem (am 27.9.) nach kontroversen Debatte den Vereinbarungen zugestimmt. Der israelische Außenminister Peres vertritt am 29.9. im Fernsehen die Ansicht, das Abkommen über das Westjordanland werde zur Gründung einer jordanisch-palästinensischen Konföderation, nicht aber zur Bildung eines palästinensischen Staates führen.

- C h i n a. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas beendet in Peking eine Plenartagung. Zu den Ergebnissen gehört ein" Vorschlag des ZK über die Formulierung des 9. Fünfjahrplans (1996-2000) und der an en Ziele für das Jahr 2010".

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