Ausgabe Dezember 1996

Chronik des Monats Oktober 1996

1.10. - N a h e r O s t e n. Die Außenminister der Europäischen Union appellieren auf einem Treffen in Luxemburg an Israel und die Palästinenser, "die größte Zurückhaltung wahren zu lassen und von allen Handlungen oder Worten Abstand zu nehmen, die zu weiterer Gewaltanwendung führen könnten". Es könne erheblich zur Wiederherstellung der Ruhe und des Vertrauens beitragen, wenn der Tunnel auf dem Tempelberg in Jerusalem in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werde (vgl. "Blätter", 11/1996, S. 1286 f.). - Vom 1.-2.10. treffen sich auf Einladung und unter Vorsitz des amerikanischen Präsidenten Clinton im Weißen Haus der israelische Ministerpräsident Netanyahu, Palästinenserpräsident Arafat und König Hussein von Jordanien; der ägyptische Präsident Mubarak hatte die Einladung nach Washington ausgeschlagen. Thema des Vierergipfels ist der gefährdete Friedensprozeß im Nahen Osten. In Presseberichten heißt es, Netanyahu habe den vertraglich zugesagten Teilrückzug der israelischen Truppen aus Hebron von umfassenden Sicherheitsgarantien für Israel abhängig gemacht. - Am 3.10. fordert die Europäische Union in einer in Brüssel verbreiteten Erklärung die beiden Konfliktparteien noch einmal nachdrücklich auf, die Resolution 1073 (1996) des UN-Sicherheitsrats (Text in "Blätter" 11/1996, S. 1394 f.) zu befolgen. Die Union "bekräftigt ihre bisherige Politik in Bezug auf den Status von Jerusalem", Ostjerusalem unterstehe "nicht der israelischen Hoheitsgewalt". - Am 7.10. besucht der mit einer Nahostmission der Europäischen Union beauftragte irische Außenminister Spring den palästinensischen Präsidenten Arafat. Der israelische Präsident Weizman empfängt Arafat am 8.10. in seiner Villa in Cäserea im Norden Israels. Weizman erklärt nach dem Treffen, er sei jederzeit bereit, nach Gaza zu fahren; Arafat reagiert sofort mit einer entsprechenden Einladung. - Am 8.10. fordert die israelische Delegation in den Verhandlungen mit den Palästinensern erweiterte Zuständigkeiten für die israelischen Sicherheitskräfte in und um Hebron: Positionen für die Armee rund um das Zentrum, eine demilitarisierte Zone in der Umgebung, eine verminderte Bewaffnung für die palästinensische Polizei und das Recht auf Verfolgung im Hoheitsbereich der Palästinensischen Autonomiebebörde. - Am 14.10. teilt der ägyptische Präsident Mubarak auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Weizman in Kairo mit, er habe in den vorangegangenen Gesprächen die Zusicherung erhalten, daß Israel die Verträge mit den Palästinensern einhalten werde. - Am 15.10. kommt der jordanische König Hussein als erste arabische Führungspersönlichkeit in die palästinensischen Autonomiegebiete, wo er in Jericho mit Arafat zusammentrifft. Am 19.10. beginnt der französische Präsident Chirac eine ausgedehnte Reise in die Region, die ihn nach Syrien, Israel, in die palästinensischen Territorien, nach Jordanien, Libanon und Ägypten führt. In Damaskus weist Chirac auf die "gemeinsame Geschichte" hin und spricht von einer "kontrastreichen Vergangenheit": "Wir haben, auf beiden Seiten dieses Meeres, nicht aufgehört, von einer anderen französisch-arabischen Beziehung zu träumen, von einem politischen Einvernehmen der Beziehungen zwischen großen ebenbürtigen Partnern. "Eine von Chirac vorgeschlagene Vermittlung bei der Friedenssuche im Nahen Osten wird von Israel abgelehnt. - Am 28.10. heißt es in Presseberichten aus dem Nahen Osten, die amerikanische Vermittlung bei den israelisch-palästinensischen Verhandlungen über Hebron sei zunächst gescheitert. Man werde eine "Denkpause" einlegen, US-Vermittler Ross werde zu Beratungen nach Washington zurückkehren. - Am 29.10 beraten König Hussein und Präsident Mubarak auf einem kurzfristig anberaumten Treffen im ägyptischen Scharm el-Scheich die mit der Abreise von Ross entstandene Lage. Beide Politiker äußern die Befürchtung, im Nahen Osten könne eine neue Gewaltexplosion bevorstehen, wenn Ministerpräsident Netanyahu nicht endlich konkrete Beweise für seine Friedensbereitschaft vorlege. - Am 31.10. trifft der russische Außenminister Primakow aus Syrien kommend in Israel ein, um mit Außenminister Levy, Ministerpräsident Netanyahu und Präsident Weizman zu konferieren.

- U N O. Der Sicherheitsrat beschließt in New York die Aufhebung aller gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) und gegen die bosnischen Serben verhängten Sanktionen. Die einstimmig angenommene Resolution enthält einen Passus, der die Möglichkeit neuer Strafmaßnahmen vorsieht, sollten Jugoslawien oder die bosnischen Serben gegen die Auflagen des Friedensabkommens von Dayton verstoßen. Der Rat begrüßt die gegenseitige Anerkennung und Normalisierung der Beziehungen zwischen den Nachfolgestaaten der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien.

3.10. - J u g o s l a w i e n. Der serbische Präsident Milosevic und sein bosnischer Amtskollege Izetbegovic, der gleichzeitig das dreiköpfige bosnische Staatspräsidium vertritt (vgl. "Blätter", 11/1961, S. 1288), vereinbaren auf einer Zusammenkunft in Paris die "vollständige Normalisierung der Beziehungen" und den Austausch von Botschaftern zwischen beiden Staaten. Das erste bilaterale Treffen der beiden Politiker seit Beginn des Krieges in Bosnien im Jahr 1992 war vom französischen Präsidenten Chirac arrangiert worden. - Am 22.10. werden die für den 22. November d.J. geplanten Kommunalwahlen in Bosnien-Herzegowina auf Beschluß der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erneut verschoben (vgl. "Blätter", 10/1996, S. 1156 f.). Eine entsprechende Mitteilung macht in Sarajewo der amerikanische OSZE-Missionschef Frowick und begründet die Entscheidung mit "andauernden politischen Problemen". Die Wahlen sollten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt im kommenden Jahr nachgeholt werden.

4.10. - G U S. Nach einem Krisentreffen der Staatschefs der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in der kasachischen Hauptstadt Almaty erklärt Präsident Nasarbajew (Kasachstan), die Gemeinschaft werde bei einem Übergriff des Afghanistan-Konflikts auf ihr Territorium oder bei der Bedrohung ihrer Grenzen angemessene Gegenmaßnahmen ergreifen. In einer gemeinsamen Erklärung fordern die Teilnehmer alle Konfliktbeteiligten und besonders die Taliban-Milizen auf, die Kämpfe zu beenden und sich an den Verhandlungstisch zu setzen (vgl. "Blätter", 11/1996, S. 1288). Rußland ist in Almaty durch Ministerpräsident Tschernomyrdin vertreten.

5.10. - E U. Die Staats/Regierungschefs der 15 Mitgliedstaaten beraten auf einem informellen Gipfeltreffen in der irischen Hauptstadt Dublin über die geplante Revision des Maastricht-Vertrages. In Presseberichten heißt es, der Revisionsprozeß solle bis Mitte 1997 abgeschlossen werden, um die Europäische Union erweiterungsfähig zu machen.

7.10. - N A T O. Der russische Sicherheitsberater Lebed folgt einer Einladung der Nordatlantischen Allianz zu einem Besuch des NATO-Hauptquartiers in Brüssel. Gesprächspartner sind Generalsekretär Solana, Bundeswehrgeneral Naumann (Vorsitzender des Militärausschusses), US-General Joulwan (Oberbefehlshaber für Europa) sowie die Botschafter der 16 NATO-Staaten. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Solana erklärt Lebed, Rußland und die NATO sollten ein Beziehungssystem errichten, das es erlaube, gewisse Entscheidungen gemeinsam zu treffen, gemeinsam zu verwirklichen und gemeinsam die Verantwortung zu übernehmen. Für diese bilaterale Beziehung sei ein Vertrag über Rechte und Pflichten notwendig, eine Charta genüge nicht. Von einer NATO-Erweiterung befürchteten viele russische Politiker eine grundlegende Veränderung des Machtgleichgewichts. Man könne ein jahrzehntelang gültiges Feindbild nicht über Nacht vergessen, - Am 22.10. nennt der amerikanische Präsident Clinton erstmals einen konkreten Zeitpunkt für die erste Etappe der NATO-Osterweiterung. Während eines Wahlkampfauftritts in Detroit spricht sich Clinton dafür aus, im Jahre 1999 eine erste Gruppe neuer Mitglieder in die Allianz aufzunehmen, ohne jedoch Namen zu nennen.

9.10. - R u ß l a n d. Der Pressedienst des Kreml veröffentlicht ein Papier Präsident Jelzins, das die Sicherung der Souveränität und der Unantastbarkeit des Territoriums sowie der nationalen Interessen des Landes als ein Grundelement russischer Politik bezeichnet. Gleichzeitig wird betont, Rußland erhebe keinerlei territoriale Forderungen gegen andere Staaten, weise aber auch im Ausland erhobene Ansprüche auf russisches Territorium zurück. Am 15.10. kommt es zu einer öffentlichen Kontroverse zwischen Innenminister Kulikow und Sicherheitsberater Lebed. In gegenseitigen Vorwürfen ist von Machtmißbrauch, Korruption und die Rede. Am 17.10. unterzeichnet Präsident Jelzin ein Dekret über die Entlassung seines Sicherheitsberaters Alexander Lebed (zur Ernennung vgl. "Blätter", 8/1996, S. 901). Lebed, der auch seine Funktion als Tschetschenien-Beauftragter verliert, wird von Jelzin der Eigenmächtigkeit beschuldigt: "Er hat eine Reihe von Fehlern gemacht, die Rußland schaden." Neuer Sekretär des Sicherheitsrates (Sicherheitsberater) und Regierungsbeauftragter für Tschetschenien wird Iwan Rybkin.

13.10. - Ö s t e r r e i c h. Bei den ersten Direktwahlen der 21 Abgeordneten für das Europäische Parlament muß die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) von Bundeskanzler Vranitzky empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Der zweite Partner in der Großen Koalition, die Volkspartei (OVP) unter Vizekanzler Schüssel kann dagegen ihre Position verbessern. Stimmengewinne verzeichnen auch die Freiheitlichen (F) unter ihrem Vorsitzenden Haider.

15.10. - R u ß l a n d / U S A. Ein hoher Beamter des russischen Verteidigungsministeriums erklärt in Moskau, der START-II-Abrüstungsvertrag mit den USA (vgl. "Blätter", 2/1993, S. 134) müsse vor seiner Ratifizierung durch die Staatsduma abgeändert werden. Dabei gehe es "sowohl um qualitative als auch um quantitative Aspekte". Dieser Standpunkt solle dem amerikanischen Verteidigungsminister Perry bei seinem bevorstehenden Besuch erläutert werden. Perry trifft am 16.10. mit dem russischen Verteidigungsminister Rodjonow zusammen und spricht am 17.10. vor der Duma. Der amerikanische Senat hatte den Vertrag schon am 26. Januar d.J. ratifiziert.

20.10. - J a p a n. Die regierenden Liberaldemokraten (LDP) können bei den Wahlen zum Unterhaus ihre Position mit 239 von insgesamt 500 Sitzen deutlich aus bauen, verfehlen jedoch knapp die absolute Mehrheit. An zweiter Stelle liegt die Erneuerungspartei (Shinshinto) mit 156 Sitzen. In Presseberichten heißt es, Ministerpräsident Hashimoto werde sich erneut um ein Vertrauensvotum für die Regierungsbildung bemühen.

- N i c a r a g u a. Die Bevölkerung ist zur Wahl eines neuen Präsidenten aufgerufen. Nach Bekanntwerden der ersten Teilresultate erklärt sich der Präsidentschaftskandidat der Liberalen Allianz, Arnoldo Aleman Lacayo, zum Sieger über seinen wichtigsten Konkurrenten, den Sandinisten Daniel Ortega. Aleman bekundet die Absicht, nach seinem Amtsantritt am 10. Januar 1997 eine "nationale Regierung" unter Beteiligung aller "lebendigen Kräfte" zu Landes zu bilden. Angesichts von Differenzen über das vorläufige Wahlergebnis empfiehlt einer der ausländischen Wahlbeobachter, der frühere amerikanische Präsident Jimmy Carter, dem Obersten Wahlrat, eine Zweitauszählung der Stimmen vorzunehmen. Der Stimmenanteil für Aleman wird später mit 51%, der Anteil für Ortega mit rund 38% angegeben.

21.10. - C h i n a / B R D. Bundesaußenminister Kinkel holt seinen im Juni d.J. abgesagten Besuch in der Volksrepublik China nach (vgl. "Blätter", 8/1996, S. 902). Nach Gesprächen mit Außenminister Qian Qichen, Staats- und Parteichef Jiang Zemin und Ministerpräsident Li Peng erklärt Kinkel auf einer Pressekonferenz in Peking am 22.10., die im Sommer durch die Tibet Resolution des Bundestages entstandenen "Mißverständnisse" seien jetzt restlos geklärt und die damals ausgelöste Verstimmung in den deutsch-chinesischen Beziehungen vollständig überwunden.

23.10. - N o r w e g e n. Die langjährige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland kündigt ihren Rücktritt an. Neuer Regierungschef wird Thorbjörn Jagland, seit 1992 Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei.

27.10. - M a l t a. Die oppositionelle Arbeiterpartei unter ihrem Vorsitzenden Alfred Sant kann die Parlamentswahlen für sich entscheiden; die amtierende konservative Regierung unter Ministerpräsident Edward Fenech-Adami wird abgewählt. Die Labour Party (LP) erhält 50,7% der Stimmen, die bisherige Regierungspartei, die Nationalist Party (NP), erhält 47,8%. Sant hatte im Wahlkampf für den Fall eines Wahlsieges den Rückzug Maltas aus der NATO-Partnerschaft für den Frieden und die Rücknahme des Antrags auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union angekündigt.

30.10. - R u a n d a / Z a i r e. Aus dem Grenzgebiet zwischen beiden Staaten werden verstärkte Kämpfe gemeldet. Der ruandische Vizepräsident und Verteidigungsminister Kagame erklärt, ein Krieg mit dem Nachbarland rücke näher. In Genf bleibt ein Krisentreffen unter Beteiligung von UN-Organisationen über den anschwellenden Flüchtlingsstrom aus Ruanda ohne konkretes Ergebnis.

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