Ausgabe Juli 1996

Chronik des Monats Mai 1996

1.5. - N a h e r O s t e n. Palästinenserpräsident Arafat, der sich zu seinem ersten offiziellen Besuch in den USA aufhält, wird in Washington von Präsident Clinton zu einem längeren Gespräch empfangen. Clinton würdigt im Rahmen einer vom Fernsehen übertragenen Zeremonie aus dem Weißen Haus die Bemühungen Arafats um die Aussöhnung der Palästinenser mit Israel. Arafat habe "unter schwierigen Umständen" seine auf dem Antiterror-Gipfel von Sharm el-Sheikh (vgl. "Blätter", 5/1996, S. 516 f.) gegebenen Zusagen eingehalten. Vor dem Nationalen Presseclub kritisiert der Palästinenserpräsident, daß von den zugesagten Hilfsgeldern bisher nur ein kleiner Teil ausbezahlt worden sei und warnt vor den möglicherweise fatalen Konsequenzen dieser Verzögerung. Die von Israel erneut vorgenommene Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser füge den Autonomiegebieten einen wirtschaftlichen Schaden von rund 6 Mio. Dollar täglich zu. - Am 23.5. legt Arafat den 88 Abgeordneten des Autonomierates in Gaza ein umfangreiches Regierungsprogramm vor. Arafat spricht von einem noch bevorstehenden "harten und langen" Kampf der Palästinenser für ihre Rechte. Wichtigstes Ziel aller künftigen Verhandlungen sei die Gründung eines Palästinenserstaates mit der Hauptstadt Jerusalem. Die jüdischen Siedlungen in den Palästinensergebieten müßten "verschwinden".

2.5. - N A T O. Generalsekretär Solana führt in Sofia ein Gespräch mit dem bulgarischen Ministerpräsidenten Widenow über die geplante Osterweiterung der Nordatlantischen Allianz. Im Gegensatz zu anderen Staaten Ostmitteleuropas hat Bulgarien bisher nicht den Wunsch nach einer NATO-Mitgliedschaft erkennen lassen. - Am 14.5. erklärt Bundesverteidigungsminister Rühe bei einem Besuch in Warschau, er hoffe, daß die NATO ihren 50. Jahrestag im Mai 1999 bereits mit den ersten neuen Mitgliedern aus Mittel- und Osteuropa feiern könne. In Presseberichten heißt es, Rühe habe seinen polnischen Gesprächspartnern den Beginn der Beitrittsverhandlungen für 1997 in Aussicht gestellt. - Vom 17.-20.5. findet im Seebad Vouliagmeni bei Athen die Nordatlantische Versammlung statt, der Parlamentarier aus den 16 NATO-Mitgliedstaaten angehören. Es kommt zu einer heftigen Kontroverse zwischen den Vertretern Griechenlands und der Türkei über den Territorialkonflikt zwischen beiden Staaten in der Ägäis sowie über die anhaltende türkische Besetzung Nordzyperns. NATO-Generalsekretär Solana appelliert an beide Seiten, den Streit untereinander zu regeln und damit nicht die atlantische Gemeinschaft zu belasten, für die die Osterweiterung ohne gleichzeitige Isolierung Rußlands derzeit Vorrang habe.

3.5 - A b r ü s t u n g. Regierungsvertreter aus den 57 Vertragsstaaten des "Übereinkommens über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können" (UN-Waffenübereinkommen; vgl. "Blätter", 11/1980, S. 1283) einigen sich in Genf auf ein Zusatzprotokoll, das verschärfte Bestimmungen für den Einsatz von Anti-Personen-Minen vorsieht, nicht jedoch ein vollständiges Verbot dieser Waffen. Konferenzpräsident Molander (Schweden) bezeichnet den gefundenen Kompromiß als bescheidenen, aber bedeutsamen Schritt auf dem Weg zur weltweiten Ächtung dieser Minen, UN-Generalsekretär Boutros Ghali und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) äußern Enttäuschung. - Vom 15.-31.5. findet in Wien die erste Überprüfungskonferenz nach Art. XXI des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag, Auszüge in "Blätter", 1/1991, S. 116 ff.) statt. Unter dem Vorsitz der Niederlande beschließen die 30 Teilnehmerstaaten der NATO, des ehemaligen Warschauer Vertrages sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein umfangreiches "Schlußdokument", dem die beteiligten Regierungen bis zum 15. Dezember d.J. noch formell zustimmen müssen. Für die Russische Föderation wird eine neue "Flankenregelung" vereinbart, die der seit Unterzeichnung des Vertrages im November 1990 veränderten Sicherheitslage in der Region St. Petersburg und im Nordkaukasus Rechnung tragen soll. Die in der österreichischen Hauptstadt tagende ständige Beratungspruppe erhält den Auftrag, Vorschläge für die weitere Anpassung des KSE-Vertrages zu prüfen.

4.5. - S p a n i e n. Das Parlament wählt mit 181 von 348 Stimmen den Vorsitzenden der Volkspartei (Partido Popular/PP), José Maria Aznar, zum neuen Regierungschef. Aznar ist Nachfolger von Felipé Gonzolez, dessen Sozialistische Partei (PSOE) bei den Parlamentswahlen vom 3. März d.J. ihre bisherige Mehrheit verloren hatte.

5.5. - B e r l i n / B r a n d e n b u r g. Der von beiden Landesregierungen geschlossene Fusionsvertrag (vgl. "Blätter", 6/1995, S. 646) findet bei einem Referendum nicht die vorgeschriebene Mehrheit. Während in Berlin (Wahlbeteiligung 57,8%) eine Mehrheit der Wähler dem Zusammenschluß zustimmt, wird der Vertrag in Brandenburg (Wahlbeteiligung 66,6%) mit Mehrheit abgelehnt. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis stimmen in Berlin 53,4% der Wähler mit Ja, 45,7% mit Nein. In den Westbezirken stimmen 58,7% für und 40,3% gegen die Fusion, in den Ostbezirken 44,4% dafür, 45,7% dagegen. In Brandenburg werden 36,6% Ja- und 62,7% Nein-Stimmen abgegeben.

7.5. - W E U. Die Außen- und Verteidigungsminister der Westeuropäischen Union (WEU), der zehn Staaten als Vollmitglieder und weitere 17 Staaten als assoziierte Mitglieder oder Beobachter angehören, treffen in der englischen Stadt Birmingham zusammen. Der britische Verteidigungsminister Portillo wendet sich gegen den von einigen Mitgliedern angestrebten Zusammenschluß der WEU mit der Europäischen Union. Eine besonders wichtige Funktion der WEU sei es, den europäischen Arm der NATO zu bilden. WEU und NATO hatten am 6.5. in Brüssel eine Vereinbarung über den Austausch und den Schatz von militärischen Informationen geschlossen.

9.5. - S ü d a f r i k a. Das Exekutivkomitee der von Vizepräsident Willem de Klerk geführten Nationalpartei (NP) beschließt, die Regierung der Nationalen Einheit zu verlassen und in die Opposition zu gehen. De Klerk begründet die Entscheidung mit der am Vortag verabschiedeten neuen Verfassung, die das Mehrheitsprinzip zu stark und das Konsensprinzip zu wenig betone. Nach dem Ausscheiden der Nationalpartei aus der Koalition besteht die Regierung nur noch aus Mitgliedern des Afrikanischen Nationalkongresses und der Zulu-Partei Inkatha.

13.5. - B e l g i e n. Die Regierungsmehrheit im Parlament räumt Premierminister Dehaene (Christdemokrat) befristete Sondervollmachten für die nächsten 18 Monate ein. Der Regierungschef wird ermächtigt, vom Parlament beschlossene "Rahmengesetze" per Verordnung auszufüllen. Die von Dehaene beantragten Vollmachten beziehen sich vor allem auf die Reform der Sozialversicherung sowie auf das Budget für 1997.

- F r a n k r e i c h. Die Regierung stimmt auf einer Sitzung in Paris einer Kürzung des Verteidigungshaushalts von jährlich 20 Mrd. Francs für die Jahre 1997 bis 2002 zu. In Presseberichten heißt es, die Ausgabenkürzungen seien Teil der von Präsident Chirac angekündigten Militärreform (vgl. "Blätter", 4/1996, S. 388). Chirac kündigt am 28.5. in einer Rundfunk- und Fernsehrede die Abschaffung der Wehrpflicht schon zum 1. Januar 1997 an. Die weiterhin vorgeschriebene Musterung für alle jungen Männer ab 18 Jahren solle ab dem Jahr 2002 auch für junge Frauen Pflicht sein. 16.5.

- R u ß l a n d. Präsident Jelzin unterzeichnet in Moskau ein Dekret, das die Abschaffung der Wehrpflicht und die Einführung einer Berufsarmee im Jahr 2000 vorsieht. Ab sofort sollten in Konfliktgebiete nur noch Freiwillige entsandt werden. - Am 27.5. verhandeln Präsident Jelzin und Ministerpräsident Tschernomyrdin in Moskau mit dem neuen Tschetschenenführer Jandarbijew (vgl. "Blätter", 6/1996, S. 647). Beide Seiten vereinbaren einen Waffenstillstand, der am 1. Juni d.J. in Kraft treten soll. Die Verhandlungen finden in Anwesenheit eines Vertreters der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) statt. Jelzin hält sich am 28.5. zu einem vorher nicht angekündigten Kurzbesuch in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny auf.

18.5. - I t a l i e n. Der neue Ministerpräsident Romano Prodi stellt in Rom seine Regierung vor. Dem künftigen Kabinett gehören Vertreter aller Parteien des Bündnisses "Olivenbaum" (Ulivo) an (vgl. "Blätter", S. 648). Prodi setzt sich am 22.5. in seiner Regierungserklärung vor dem Senat für den Abschied von einem übermäßig zentralisierten System des Staates ein. Die Überwindung der Unterentwicklung in Süditalien erfordere in erster Linie moderne Schulen und bessere Berufsausbildung. In die Reformen sollten Regionen und Gemeinden einbezogen werden. Der Senat spricht der Regierung nach zweitägiger Debatte am 24. 5. mit 173 gegen 139 Stimmen bei einer Enthaltung das Vertrauen aus. Neben den Parteien des Bündnisses stimmen auch die Kommunisten für die Regierung.

21.5. - E U. Der britische Premierminister Major löst mit einer Rede im Unterhaus in London eine Krise in der Union aus. Major droht mit einer "Politik des leeren Stuhls in den Gemeinschaftsorganen und fordert ultimativ die Aufhebung des Exportverbots für britisches Rindfleisch, das der Veterinärausschuß der EU nach dem vermehrten Auftreten der Rinderseuche BSE in Großbritannien verhängt hatte; der entsprechende Beschluß war am 25. März d.J. mit 14 Stimmen gegen eine Stimme (Großbritannien) gefallen. Auf Anweisung seiner Regierung blockiert der britische Vertreter am 23. 5. im Rat der Innenministerin Brüssel Entscheidungen über den Zivilschutz und legt ein Veto gegen alle drei Tagesordnungspunkte ein. Der Diplomat erklärt, London werde mit den übrigen EU-Partnern erst dann wieder normal zusammenarbeiten, wenn das Exportverbot für britische Rinderprodukte aufgehoben sei.

21.-23. B R D / S ü d a f r i k a. Der süd-afrikanische Präsident Mandela stattet der Bundesrepublik Deutschland seinen ersten Staatsbesuch ab. Mandela, der Gast von Bundespräsident Herzog ist, trifft mit den Spitzen der Regierung und des Parlaments zusammen und hält eine Rede im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Mandela vergleicht die Lage seines Landes nach dem Ende der Apartheid mit der Lage Deutschlands unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Südafrika brauche zum Aufbau etwas ähnliches wie den Marshall-Plan, internationale Unterstützung und ausländische Investitionen.

22.5. - S c h l e s w i g - H o l s t e i n. Der Landtag bestätigt in Kiel die bisherige Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) für eine weitere Legislaturperiode; Frau Simonis erhält die Stimmen von 41 der 75 Abgeordneten. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit (zum Wahlergebnis vgl. "Blätter", 5/1996, S. 518) hatte sich die SPD mit Bündnis 90/Die Grünen auf die Bildung einer Koalition geeinigt. Landesparteitage der beiden Parteien hatten dieser Koalition mit Mehrheit zugestimmt. Die Grünen übernehmen im Kabinett (10 Mitglieder) zwei Ressorts. Stellvertreter der Ministerpräsidentin wird Umweltminister Rainer Steenblock.

26.5. - A l b a n i e n. Unmittelbar nach Schließung der Stimmlokale erklärt sich die Demokratische Partei von Präsident Bensha zur Siegerin der Parlamentswahlen und gibt ihre Mehrheit mit über 60% der Stimmen an. Die wichtigsten Oppositionsparteien, die zum Wahlboybott aufgerufen hatten, sprechen von massivem Betrug. Die Sozialisten fordern das Verfassungsgericht auf, die Wahlen zu annullieren und eine Wiederholung "unter demokratischen Bedingungen" anzusetzen. In der Stellungnahme einer Delegation von Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) heißt es am 29.5., es seien zahlreiche Verstöße, wie Wahlfälschungen, Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung und Einschüchterung der Opposition, registriert worden.

28.5. - B a l t i k u m. Die Präsidenten Estlands, Lettlands und Litauens treffen in der litauischen Hauptstadt Vilnius zusammen. In einer anschließenden Erklärung heißt es, man wolle sich gemeinsam um eine Aufnahme in die Europäische Union und in die Nordatlantische Allianz bemühen und dabei nicht gegeneinander konkurrieren.

29.5. - I s r a e l. Die Bevölkerung bestimmt erstmals den Regierungschef in direkter Wahl und entscheidet gleichzeitig über die Zusammensetzung des Parlaments. Neuer Premierminister wird mit 50,4% der Stimmen der Vorsitzende des Likud-Blocks, Benyamin Netanyahu; auf den bisherigen Amtsinhaber von der Arbeitspartei, Shimon Peres, entfallen 49,5%. Die Differenz zwischen beiden Kandidaten beträgt nur 30 000 Stimmen. Die Wahlbeteiligung liegt bei 79,7%, die Zahl der weißen Stimmzettel wird mit 80 000 angegeben. Trotz fühlbarer Verluste stellt die Arbeitspartei in der Knesset weiterhin die stärkste Fraktion; der Likud-Block, der ebenfalls Stimmen verliert, liegt an zweiter Stelle. Einen erheblichen Zuwachs verzeichnen die religiösen Parteien. Im Hinblick auf die kritische Reaktion auf das Wahlergebnis in den arabischen Staaten läßt Netanyahu erklären, er werde den Friedensprozeß mit den Palästinensern und den Nachbarn Israels fortsetzen.

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