Ausgabe Dezember 1997

Chronik des Monats Oktober 1997

1.10. - N a h e r O s t e n. Scheich Ahmed Yassin, der Gründer der Bewegung des islamischen Widerstandes (Hamas) wird aus langjähriger Haft in Israel entlassen und nach Jordanien abgeschoben. In Presseberichten heißt es, die Freilassung erfolge im Austausch gegen zwei in Jordanien einsitzende israelische Agenten, die ein Attentat auf einen führenden Hamas-Funktionär versucht hatten. Yassin, der von König Hussein begrüßt und zunächst in Jordanien medizinisch behandelt wird, kann später in seine Heimat Gaza zurüchkehren. - Am 7.10. kommt es am Grenzübergang Erez erstmals nach acht Monaten wieder zu einer persönlichen Begegnung zwischen dem israelischen Regierungschef Netanyahu und Palästinenserpräsident Arafat, an der auch der amerikanische Nahost-Vermittler Ross teilnimmt; Ross spricht von einem neuen Anfang. - Am 14.10. gibt Israel Steuergelder in Höhe von umgerechnet rund 20 Mio. DM zum Transfer an die Palästinensische Autonomiebebörde frei. Das Geld war nach den letzten Selbstmordanschlägen in Jerusalem von Israel zurückgehalten worden. - Vom 23.25.10. kommt Arafat zu einem Arbeitsbesuch in die Bundesrepublik. Nach einem Empfang bei Bundeskanzler Kohl am 24.10. heißt es in einer Mitteilung der Bundesregierung: "Beide Gesprächspartner äußerten ihre wachsende Besorgnis über den gegenwärtigen Stand der Umsetzung der in Oslo getroffenen Vereinbarungen und betonten übereinstimmend die Notwendigkeit, den Nahost-Friedensprozeß im Geiste gegenseitigen Vertrauens und zum Wohle der betroffenen Bevölkerung konstruktiv und entschlossen fortzusetzen. - Am 24.10. beginnt der russische Außenminister Primakow eine Rundreise durch die Region. Erste Station ist die libanesische Hauptstadt Beirut. Primakow, der als besonderer Kenner des Nahen Ostens gilt, erklärt bei seiner Ankunft: "Rußland unternimmt alles, um den Friedensprozeß wieder in Gang zu bringen." - Am 29.10. erörtert das israelische Sicherheitskabinett auf einer Sondersitzung den aktuellen Stand des Friedensprozesses und ermächtigt Außenminister Levy zur Wiederaufnahme der Verhandlungen mit den Palästinensern.

1.-2.10. - N A T O. Die Verteidigungsminister der Allianz beraten auf einem informellen Treffen in Maastricht (Niederlande) über die neue Kommandostruktur im Hinblick auf die geplante Osterweiterung und über die künftige NATO-Präsenz im ehemaligen Jugoslawien. Anschließend kommt es zu getrennten Begegnungen mit dem neuen russischen Verteidigungsminister Sergejew sowie mit den Verteidigungsministern Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns, den ersten drei Beitrittskandidaten. - Am 24.10. tagt der NATO-Rußlandrat in Brüssel. Das Arbeitsprogramm sieht u.a. die Eröffnung eines NATO-Dokumentationszentrums in Moskau im Januar 1998 vor (vgl. "Blätter", 11/1997, S. 1285 f.). - Vom 27.-28.10. hält sich der Politische Ausschuß der NATO zu einem Arbeitsbesuch in Kiew auf. Der Ausschuß folgt einer Einladung der ukrainischen Regierung.

2.10. - E U. Die Außenminister der Mitgliedstaaten unterzeichnen im Königlichen Schloß der niederländischen Hauptstadt den "Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte". Der Vertrag war von einer im März 1996 eingesetzten Regierungskonferenz ausgearbeitet und im Juni 1997 vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs abschließend verhandelt worden (vgl. "Blätter", 5/1996, S. 516 und 8/1997, S. 901). Belgien, Frankreich und Italien fordern in einer gemeinsamen Erklärung weitere Reformen und eine Ausweitung der Mehrheitsbeschlüsse vor der Aufnahme neuer Mitglieder in die Gemeinschaft. - Am 21.10. bezeichnen Parlamentspräsident Gil-Robles, Kommissionspräsident Santer und der luxemburgische Regierungschef Juncker in seiner Eigenschaft als EU-Ratspräsident vor dem Europäischen Parlament in Straßburg die fristgerechte Einführung des Euro als Hauptaufgabe der nächsten Monate. Damit müsse zugleich eine Phase der Zweifel und der Unsicherheit beendet werden.

- G r o ß b r i t a n n i e n. Der Parteitag der regierenden Arbeiterpartei befaßt sich in Brighton mit Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik. An der Debatte beteiligen sich auch Außenminister Cook und Verteidigungsminister Robertson. Ein von zahlreichen Delegierten unterstützter Antrag, die britischen Nuklearwaffen abzuschaffen und die dadurch eingesparten Mittel sozialen Zwecken zuzuführen, wird mit der knappen Mehrheit von 56 gegen 44% der Stimmen abgelehnt. - Am 13.10. trifft Premierminister Blair in Belfast erstmals mit Gerry Addams, dem Führer von Sinn Fein, zusammen. Blair führt auch Gespräche mit den übrigen Delegationen, die an den Verhandlungen zur Lösung des Nordirland-Konflikts teilnehmen (vgl. "Blätter", 11/1997, S. 1285). - Am 27.10. erläutert Schatzkanzler Gordon Brown vor dem Unterhaus die britische Haltung zur geplanten Währungsunion. Großbritannien brauche noch "einige Jahre " für die Erfüllung der Konvergenzkriterien und werde beim Starttermin am 1. Januar 1999 nicht dabei sein. Ein Beitritt vor den nächsten Parlamentswahlen, die spätestens 2002 stattfinden müssen, sei praktisch ausgeschlossen. Der Euro werde eingeführt, wenn dies für das Land wirtschaftlich von Nutzen sei. Zuvor müßten Regierung, Parlament und die Bevölkerung in einem Referendum zustimmen.

3.10. - F r a n k r e i c h / I t a l i e n. Der französische Premierminister Jospin und sein italienischer Kollege Prodi stellen auf einem Gipfeltreffen in Chambery (Frankreich) ihre Übereinstimmung im Hinblick auf die Europäische Währungsunion und die Erweiterung der Europäischen Union fest. In einer gemeinsamen Erklärung wird die Notwendigkeit einer Reduzierung der Arbeitszeit zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze unterstrichen. 8.10. - U S A. Das Außenministerium veröffentlicht in Washington eine Liste von 30 Organisationen und Gruppen, die von den USA als terroristisch (foreign terrorist organizations) angesehen werden. Die Liste verzeichnet u.a. die Roten Khmer, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die in Sri Lanka operierenden "Tamil Tigers" sowie verschiedene palästinensische Widerstandsbewegungen.

- K u b a. Präsident Fidel Castro eröffnet in Havanna den 5. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas, an dem 1482 Delegierte als Vertreter von rund 800 000 Parteimitgliedern teilnehmen. Castro erklärt in seinem Rechenschaftsbericht u.a., das Land werde den eingeschlagenen Weg unter Führung der Partei fortsetzen. Trotz schmerzlicher Konzessionen habe man die Errungenschaften des Sozialismus bewahren können.

10.10. - N o r w e g e n. Das Nobelkomitee des Parlaments zeichnet die Internationale Kampagne zur weltweiten Achtung von Landminen (International Campaign to Ban Landmines/ICBL) und deren Koordinatonn Jody Williams mit dem Friedensnobelpreis 1997 aus. In der Begründung heißt es, der Organisation sei es innerhalb weniger Jahre gelungen, die Vision eines umfassenden Minenverbots zu einer greifbar nahen Realität zu machen. - Am 16.10 bilden die Christliche Volkspartei (CV), das Zentrum (Z) und die Liberale Partei "Venstre (V) eine Koalition. An der Spitze der neuen Minderheitsregierung steht Kjell Magne Bondevik (CV). Der bisherige Ministerpräsident Jagland war nach dem Stimmenverlust der Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen zurückgetreten (vgl. "Blätter", 11/1997, S. 1286).

10.-11.10. - E u r o p a r a t. In Anwesenheit der führenden Repräsentanten der Mitglieder aus West- und Osteuropa findet in Straßburg das zweite Gipfeltreffen des Europarates statt (vgl. "Blätter", 12/1993, S. 1423). Neben einer Schlußerklärung wird ein Aktionsplan verabschiedet, der die Einsetzung eines Kommissars für Menschenrechte und die Arbeitsaufnahme eines ständigen Gerichtshofes für Menschenrechte am 1. November 1998 vorsieht. Der russische Präsident Jelzin kritisiert in seiner Rede die Nationalitätenpolitik Estlands und Lettlands gegenüber ihrer russischen Bevölkerung. Jelzin und der französische Präsident Chirac lancieren vor der Presse den Plan eines jährlichen Dreiergipfels zwischen Rußland, Deutschland und Frankreich. In Presseberichten heißt es, der Vorschlag sei nicht mit Bundeskanzler Kohl abgestimmt.

15.10. - P o l e n. Die Wahlaktion "Solidarität" (AWS), die nach den Parlamentswahlen die stärkste Fraktion im Sejm stellt (vgl. "Blätter, 11/1997, S. 1286), nominiert Jerzy Buzek für das Amt des Ministerpräsidenten. Buzek wird am 17.10. von Präsident Kwasnjewski mit der Regierungsbildung beauftragt und am 20.10. im Parlament vereidigt. 16.10. - U N O. Die Gruppe der im Irak tätigen UN-Inspektoren (United Nations Special Commission/UNSCOM) legt dem Sicherheitsrat in New York einen Zwischenbericht vor, der Fortschritte bei der Beseitigung der irakischen Massenvernichtungswaffen feststellt, gleichzeitig aber auf die anhaltende Verschleierungstaktik und auf Behinderungen durch die irakischen Behörden hinweist. Der irakische Vizepräsident Tarik Aziz beschuldigt die Inspektoren, unter dem Einfluß der USA zu stehen. - Am 21.10. eröffnet die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) in Paris ihre 29. Generalkonferenz. Generaldirektor Federico Mayor (Spanien) begrüßt den Beschluß Großbritanniens, nach elfjähriger Abwesenheit in die Organisation zurückzukehren und appelliert an die USA, den gleichen Schritt zu tun. - Am 23.10. erinnert der Sicherheitsrat den Irak an die eingegangenen Verpflichtungen und setzt die regelmäßige Überprüfung des allgemeinen Sanktionsregimes für ein halbes Jahr aus. Eine entsprechende Resolution wird mit zehn Stimmen bei fünf Enthaltungen angenommen, darunter die drei ständigen Ratsmitglieder China, Frankreich und Rußland. Zuvor hatten die USA vergeblich versucht, verschärfte Sanktionen gegen den Irak durchzusetzen. Am 29.10. teilt die irakische Vertretung bei den Vereinten Nationen in New York mit, man werde künftig keine US-Bürger als Teilnehmer an Waffeninspektionen akzeptieren, die amerikanischen Mitglieder der Gruppe müßten das Land verlassen. Vizepräsident Aziz habe den Sicherheitsrat entsprechend informiert.

21.10. - F r a n k r e i c h. Die Nationalversammlung verabschiedet mit den Stimmen der regierenden Sozialisten das Gesetz über die Armeereform, die die Abschaffung der Wehrpflicht bis zum Jahr 2002 vorsieht. Die Kommunisten, ebenfalls Regierungspartei enthalten sich der Stimme. Die Opposition lehnt die Reform ab.

22.10. - I t a l i e n. Das Abgeordnetenhaus in Rom erläßt ein Gesetz, das die Produktion, den Verkauf und den Export von Personenminen verbietet. Herstellerfirmen müssen bereits produzierte Waffen dem Verteidigungsministerium übergeben. Die 200 000 Minen im Besitz der Streitkräfte sollen nach und nach zerstört werden.

22.-23.10. - L i b y e n / S ü d a f r i k a. Der südafrikanische Präsident Mandela besucht den libyschen Präsidenten Ghadhafi, den er auf einer Pressekonferenz als einen "alten Freund" bezeichnet. Mandela kritisiert die Arroganz der USA und unterstützt die Forderung der Arabischen Liga und der Organisation für Afrikanische Einheit nach Aufhebung der gegen Libyen verhängten Sanktionen. Die Aufklärung des Attentats von Lockerbie müsse durch ein Gerichtsverfahren in einem neutralen Land erfolgen. Der südafrikanische Präsident trifft am 29.10. erneut mit Ghadhafi zusammen. In der Grenzstadt Zuwara zeichnet Mandela den Revolutionsfahrer mit einem hohen Orden aus und dankt für die "Unterstützung Libyens bei der Befreiung Südafrikas". In Presseberichten heißt es, Mandela habe zuvor auf der Konferenz der Regierungschefs des Comwonwealth in Edinburgh (24.27.10.) versucht, zwischen Libyen und dem Westen zu vermitteln.

23.10. - G U S. Zum Abschluß eines Gipfels der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) erklärt der russische Präsident Jelzin in Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau, die nach dem Ende der Sowjetunion im Jahre 1991 gegründete Gemeinschaft habe bisher irrational und ineffizient gearbeitet und müsse reorganisiert werden. Rußland habe eine Mitverantwortung für die zunehmenden Differenzen unter den zwölf Mitgliedstaaten. Sämtliche Kritikpunkte sollten schriftlich fixiert und beim nächsten Treffen im Januar 1998 diskutiert werden.

24.10. - B a l t i k u m. Anläßlich der Unterzeichnung eines litauisch-russischen Grenzvertrages, der auch für den Zugang zur russischen Exklave Kaliningrad (früher Königsberg) über litauisches Gebiet von Bedeutung ist, schlägt der russische Präsident Jelzin in Moskau vor, Sicherheitsgarantien gegenüber dem Baltikum als "einseitige Verpflichtung" abzugeben. Einer solchen Garantieerklärung könnten auch andere Länder, so die USA, Frankreich oder Deutschland beitreten. In den drei baltischen Staaten wird die Initiative Jelzins zurückhaltend aufgenommen.

26.10. - U S A / C h i n a. Der chinesische Präsident Jiang Zemin trifft zu einem ausgedehnten Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten ein. Erste Station ist Hawaii. Jiang führt u.a. in Washington Gespräche mit Präsident Clinton und führenden Kongreßmitgliedern, besucht in Philadelphia die Unabhängigkeitshalle und nimmt ein Ehrendoktorat der Universität Pennsylvania entgegen.

31.10. - R u ß l a n d. Die Staatsduma ratifiziert mit 288 gegen 75 Stimmen das Übereinkommen über das Verbot und die Vernichtung chemischer Waffen. Präsident Jelzin hatte am 20.10. in Moskau gegenüber dem kanadischen Premierminister Chretien angedeutet, Rußland erwäge auch einen Beitritt zu dem geplanten Vertrag über ein weltweites Verbot von Landminen, der im Dezember d.J. in Ottawa unterzeichnet werden soll (vgl. "Blätter", 7/1997, S. 772 f. und 11/1997, S. 1284).

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