Ausgabe April 1998

Armageddönchen

Ein Fernsehjournalist, der sonst an allen Kriegsschauplätzen in vorderster Front lebensgefährliche Takes einfängt (wir sehen es wiederholt), wird mit der Live-Übertragung des Wiener Opernballs betraut, und prompt erlebt er die ungeheuerste Sensation seiner Karriere: 3 000 Menschen kommen beim Giftanschlag auf das Fest der Reichen um, darunter die gesamte Regierung des Landes. Die Katastrophe (sie wird vielfach vorgeführt im Lauf des zweiteiligen Fernsehfilms) läßt den kritischen Reporter zum persönlich betroffenen Ermittler werden.

Denn sein Sohn ist unter den Opfern, also muß er - natürlich - selbst und ganz allein die Täter jagen. Hätte die Krimihandlung irgendwie Hand und Fuß in dieser SAT1Produktion (Opernball, 15. und 16. März), würde man sich vielleicht spannend unterhalten können.

Aber der Aufklärungsprozeß schleicht sich endlos hin, hält nicht eine einzige überraschende Wendung bereit und greift am Ende zum banalsten Mittel: ein gut halbstündiges Geständnis unter vier Augen, mit Pistole und Tonbandgerät, bei dem alles, was erzählt wird, flugs (und gleich mehrmals), im Bild nachgeliefert wird. Dem Dilettantismus des Handlungsgerüsts entspricht eine opportunistische Beliebigkeit der inhaltlichen Elemente und thematischen Bezüge. Die anfängliche kritische Haltung dem "umstrittenen" Opernball gegenüber (dutzendemal wird von der Parade der Abendroben auf die Straße geschnitten, wo die Polizei die Demonstranten zusammenschlägt) kippt um, weil der Anschlag in seiner Brutalität jedes Opfer adelt. Dann setzt, im zweiten Teil, eine Relativierung der kriminellen Motive ein, die Täter sind eine Gruppe von Irren oder Verirrten, die im religiösen Wahn einem Verführer in Jesusgestalt blind folgen.

Schließlich aber stellt sich heraus, daß sie mit Wissen und Deckung faschistischer Politiker handelten, die bei der Gelegenheit putschen - in Wien, wo es so etwas wie einen roten Platz gibt, auf dem ein Breschnew-Pinochet-Hitler-Verschnitt vor einem Meer von Uniformen die Machtergreifung zelebriert. Provokante Geldrituale, Terrorismus, Sektenwahn, Faschismus, investigativer Glanz und politisch-kommerzielles Elend der Presse, alles wird angetippt und wieder fallengelassen und dadurch so relativiert, daß die Sponsorengelder von Mercedes Benz nicht gefährdet sind. In der Gattung des Fernsehspiels ist eine Tendenz zur spektakulären, mehrteiligen Monumentalform zu beobachten, wie im Kino der 50er Jahre, als das Fernsehen die Kinos zu leeren drohte. Das Problem der Unvereinbarkeit solch großer Formate mit den dramaturgischen Möglichkeiten des Fernsehens bezieht sich nicht nur auf den kleinen Bildschirm.

Die Narrativik des Fernsehspiels mit ihrer Nähe zum Alltag und reduzierten dramatischen Amplitude verlegt traditionell die Katastrophen ins Innere der Charaktere und Beziehungen. "Gebt mir Totalen", schreit der Redakteur im Augenblick der Katastrophe, und das ist eine (unfreiwillige) selbstreferentielle Anspielung, nur auf der Breitwand kann die Titanic angemessen untergehen. Der Regisseur behilft sich mit hilflosen optischen Gags, Clipmontage, Zeitlupe, Ruckschwenks und Zappelzooms (in monotoner Akkumulation). Das Armageddon ist vorwiegend verbal präsent. "Das gewöhnliche Leben bezieht seine Höhen und Tiefen aus dem Fernsehapparat, weil es davor zurückschreckt, sein Schicksal herauszufordern", sagt der verführte Faschist. Die Höhen und Tiefen dieses Films waren fast so dramatisch wie die Werbeunterbrechungen. Günter Giesenfeld

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