Ausgabe Juni 2000

Europäische Ungewißheiten

Es wird bitterernst mit der Frage "Quo vadis Europa?". Tatsächlich verstärkt sich der Eindruck, daß der Einigungsprozeß, wie er zwischen Brüsseler Bürokratismus und medienwirksam inszenierten Gipfelkonferenzen abläuft, den Bevölkerungen nicht mehr vermittelbar ist. 1) Das Geschehen scheint sich immer mehr zu verselbständigen, ohne einem klaren, in sich stimmigen Konzept zu folgen, das überzeugend, vielleicht sogar mitreißend wirkt, weil es den Menschen eine hoffnungsvolle Perspektive eröffnet. Der Einwand der "Realisten" liegt auf der Hand: Mittlerweile hätten sich so viele, höchst komplizierte Probleme angehäuft, daß nur die Methode der kleinen Schritte weiterhelfe, das geduldige Bohren dicker Bretter, wie es entschuldigend heißt. Allerdings kann es passieren, daß dabei die Orientierung verloren geht, Stückwerk ohne Sinn entsteht. Niemand findet sich darin wieder. Gleichgültigkeit oder Anfälligkeit für Rechtspopulismus sind die Folgen, nicht Integration, sondern Desintegration. Jetzt rächt sich, daß das Jahrzehnt seit dem Ende des Kalten Krieges regelrecht vertan wurde.

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Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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