Ausgabe August 2003

Verfassung und Wirklichkeit

Die Genialität der europäischen Vertragskonstruktion

Die Europäische Union wagt ein großes Experiment. Ihre Mitgliedstaaten wollen sich eine Verfassung geben. War die Diskussion über die Notwendigkeit einer europäischen Verfassung lange Zeit fast ausschließlich eine akademische Angelegenheit, so hat sich dies spätestens mit der Erklärung von Laeken im Dezember 2001 geändert, mit der die Staaten der EU einen 105köpfigen Reformkonvent zur Erarbeitung eines Dokuments mit Verfassungscharakter beauftragten. Am 13. Juni diesen Jahres hat der Konvent seine Arbeit abgeschlossen und den Entwurf einer Europäischen Verfassung dem Europäischen Rat unterbreitet. Das aus vier Teilen und 460 Artikeln bestehende Dokument ist aber nicht das letzte Wort.1 Nun müssen noch "technische Nachbesserungen" am Text vorgenommen werden, bevor dann – dem derzeitigem Zeitplan zufolge – nach Beratungen der Regierungskonferenz Ende des Jahres der Entwurf verabschiedet und von den Mitgliedsländern ratifiziert werden kann.

Obwohl die Laekener Erklärung kein explizites Mandat zur Ausarbeitung einer Verfassung gab2, hatte der Konvent seines ausgeweitet, nachdem führende Regierungsvertreter mit einem Verfassungstext die normative Idee verbanden, eine kollektive Identität zwischen den alten und neuen Mitgliedstaaten einer erweiterten Union zu stiften. Von Beginn an sprachen Vertreter des Konvents ungeniert von einer Verfassung für Europa.

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