Rede des SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering vom 13. April 2005 in Berlin (Auszüge)
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1. Demokratie braucht StaatSo positiv die Idee und noch mehr der Begriff der Demokratie belegt sind, so schwer tut sich das Land mit dem Staat.
Mancher putzt sich gerne die Füße an ihm ab und macht ihn zum Synonym für eine Krake und für Bonzen, für Bürokratie und für Unfähigkeit. Manche reden aus Gedankenlosigkeit abfällig über ihn, andere auch sehr gezielt. Sie fordern den schlanken Staat und wären doch nicht böse, wenn er denn verhungerte. Ja, sie legen es darauf an.
Damit ist eine Scheidelinie markiert für den politischen Weg unseres Landes.
Die Staatsskepsis ist ein Irrweg. Die Staatsverachtung eine Gefahr. Mit dem modernen Staat ist die Idee der Demokratie überhaupt erst möglich geworden. Er stellt die Institutionen bereit, mit denen Gesellschaften ihr Zusammenleben organisieren können. Sie gewährleisten Frieden und Sicherheit. Und sie garantieren – auf Basis der Grundrechte – Freiheit.
Unser Staat ist ein Rechtsstaat. Er setzt Recht und er trägt das Recht mit seiner demokratisch legitimierten Macht.
Unser Staat hat das Monopol der Gewalt, niemand sonst hat ein Recht auf Gewalt. Innerer Frieden und Rechtssicherheit sind zentrale öffentliche Güter. Unser Staat setzt auch die anderen öffentlichen Güter: Bildungswesen, Gesundheitswesen, Finanzwesen, Infrastruktur.
Unser Staat ist ein Sozialstaat. Staatsziel ist die gerechte Ordnung der Beziehungen zwischen den Menschen. Der Sozialstaat ist nicht entbehrlich.
Unser Staat ist ein Bundesstaat. In dieser föderalen Ordnung müssen Bund und Länder und in den Ländern die Kommunen ihre klar zugeordnete Verantwortung tragen. Staat heißt in Deutschland nicht Zentralstaat, aber die Chancengleichheit und die soziale Gerechtigkeit bleiben auf der Strecke, wenn sie nicht im Rahmen gesamtstaatlichen Handelns gesichert werden. Viele Herausforderungen lassen sich nur vernünftig lösen, wenn Bund, Länder und Gemeinden miteinander und zeitnah und mit gemeinsamer Zielsetzung daran arbeiten.
Und dabei sind andere Akteure gleicherweise unentbehrlich; die Zivilgesellschaft in all ihren Formen. Das Ja zum staatlichen Handeln und zu seiner Verantwortung macht uns nicht blind für seine Grenzen und für seine Schwächen.
Staat kann nicht alles alleine regeln. Manches kann er ausdrücklich nicht oder nicht gut. Das ist eine Binsenweisheit. Staat braucht Kooperationspartner. Nach außen in Form anderer Staaten. Und nach innen als Zivilgesellschaft, einschließlich Wirtschaft. Vereinbarungen und Selbstverpflichtungen wirken da oft effizienter als staatliche Verordnungen. Der Ausbildungspakt ist dafür aktuell ein gutes Beispiel.
Gleichwohl, Staat ist mehr als nur ein Reparaturbetrieb. Er darf sich nicht zufrieden geben mit der Aufgabe, Fehlentwicklungen auszugleichen, den Schwächsten zu helfen. Er hat Aufgaben, die er für die Gesellschaft erledigt.
Staat muss gestalten, das ist das europäische Verständnis von Sozialer Ordnung. Das ist auch das sozialdemokratische Verständnis von Staat.
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Wir wissen, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Politik einerseits und den ungehemmten Regeln des Marktes andererseits gibt. Diese Spannung gilt es auszuhalten und produktiv zu nutzen.
Deshalb wollen wir soziale Marktwirtschaft und nicht Marktwirtschaft pur.
Im Denken und Handeln der Ökonomie ist der Primat der Ökonomie selbstverständlich, scheint staatliches Handeln oft unnötig bis kontraproduktiv. Ökonomie zielt – bestenfalls – indirekt auf das Sozialwesen Mensch, sie kalkuliert die Menschen zwar ein, aber nur in Funktionen: als Größe in der Produktion, als Verbraucher oder als Ware am Arbeitsmarkt.
Diese abstrakte Logik schlägt sich konkret im Handeln von bestimmten Finanz-Unternehmen nieder: Die international forcierten Profitmaximierungsstrategien gefährden auf Dauer unsere Demokratie.
Es liegt im eigenen Interesse von Unternehmern – und davon gibt es noch sehr viele –, die sich für ihr Unternehmen, für ihre Arbeitnehmer und für den Standort mitverantwortlich fühlen und entsprechend handeln, diesen Entwicklungen gemeinsam mit uns entgegenzutreten.
Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns. Denn dadurch geraten einzelne Menschen und die Zukunftsfähigkeit ganzer Unternehmen und Regionen aus dem Blick. Und die Handlungsfähigkeit der Staaten wird rücksichtslos reduziert. Im Ergebnis wird damit die Reputation des Staates bei seinen Bürgerinnen und Bürgern dramatisch belastet, weil er nicht mehr in der Lage ist, die von ihm erwartete Interessenwahrung hinreichend zu leisten.
Auf diese Entwicklung müssen wir politisch reagieren: Wo der Nationalstaat an die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten stößt, könnte die Europäische Union und könnten Institutionen der internationalen Völkergemeinschaft wirkungsvoll handeln.
Die EU muss sich entscheiden: Will sie dem Markt unter der Überschrift Wettbewerb Schneisen schlagen, die auch die sozialstaatlichen Aufgaben der einzelnen Staaten massiv tangieren? Oder will sie, im Sinne der EU-Verfassung, gemeinsam mit den Nationalstaaten eine demokratische und soziale Union?
Wir machen uns für die zweite Option stark. [...]