Ausgabe November 2020

Chronik des Monats September 2020

1.9. – BRD/China. Bundesaußenminister Maas empfängt in Berlin seinen chinesischen Amtskollegen Wang Yi. Themen des Gesprächs sind nach Angaben des Auswärtigen Amts „der Umgang mit Covid-19, Strategien zur Wiederbelebung des bilateralen Handels sowie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte“. Maas bringt auch die Lage in Hongkong zur Sprache. Wang weist jede Kritik als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik zurück.

2.9. – IStGH. Die amerikanische Regierung verhängt Sanktionen gegen Fatou Bensouda, die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court/ICC). Das Gericht in Den Haag hatte Ermittlungen gegen US-Militärs und Angehörige des Geheimdienstes CIA wegen des Verdachts von Folter und anderer schwerer Verbrechen aufgenommen. Washington spricht von einem „illegitimen Versuch, amerikanische Staatsbürger seiner Rechtsprechung zu unterwerfen“.

        – BRD/Russland. Ein Sprecher der Bundesregierung teilt mit, der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der sich zur Behandlung in der Berliner Charité aufhält (vgl. „Blätter“, 10/2020, S. 127), sei mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden. Dies habe die toxikologische Untersuchung eines Speziallabors der Bundeswehr ergeben: „Hierbei wurde der zweifelsfreie Nachweis eines chemischen Nervenkampfstoffs der Nowitschok-Gruppe erbracht.“ Bundeskanzlerin Merkel erklärt, Nawalny sei „Opfer eines Verbrechens“ geworden. Es stellten sich nun „sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss“. In Berlin und Moskau werden die Botschafter der jeweils anderen Seite „einbestellt“. Nach einer Unterredung des stellvertretenden Außenministers Titow mit Botschafter von Geyr ist in einer Erklärung des russischen Außenministeriums von „haltlosen Vorwürfen und Ultimaten an Russland“ die Rede. Der Fall Nawalny solle als „Vorwand zur Diskreditierung unseres Landes auf internationalem Parkett“ missbraucht werden. Moskau fordert die deutsche Seite auf, „alle medizinischen Erkenntnisse, einschließlich biologischer Proben, Befunde und Testproben“ zu übermitteln. Geschehe dies nicht, werte man das als Absage an die Wahrheitsfindung. – Am 15.9. lässt Nawalny erklären, er werde nach seiner Genesung in seine Heimat zurückkehren: „Es wurden noch nie andere Möglichkeiten in Betracht gezogen.“

6.9. – Belarus (Weißrussland). Ein Oppositionsbündnis hatte zu einem „Marsch der Einheit“ in der Hauptstadt Minsk aufgerufen, an dem sich bis zu 200 000 Menschen beteiligen. Der Protest richtet sich gegen die gefälschten Ergebnisse der Präsidentenwahl im Vormonat (vgl. „Blätter“, 10/2020, S. 125 f.). Sicherheitskräfte gehen mit Gewalt gegen die Demonstranten vor. – Am 23.9. lässt sich Lukaschenko überraschend für eine weitere Amtszeit vereidigen.

8.9. – Griechenland. Das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos wird durch einen verheerenden Großbrand fast völlig zerstört. Viele Tausend Insassen des Lagers sind obdachlos. In der Europäischen Union wird erneut gefordert, die Flüchtlinge aufzunehmen und zwischen den Mitgliedstaaten zu verteilen. Die Regierung in Athen lehnt die Umsiedlung der Flüchtlinge ab und kündigt den Bau eines neuen Lagers auf Lesbos an.

        – Iran. Die iranische Atomorganisation AROI kündigt den Bau „einer moderneren und größeren Anlage für die Herstellung von schnelleren und fortgeschrittenen Zentrifugen“ an. Die neue Anlage werde in der Nähe von Natans in Zentraliran gebaut. Einzelheiten werden nicht genannt.

9.9. – USA/BRD. Das für den Nahen Osten zuständige Zentralkommando teilt mit, die US-Truppenstärke im Irak werde von rund 5200 auf 3000 reduziert. Washington könne darauf vertrauen, dass die irakischen Sicherheitskräfte zu eigenständigen Operationen gegen Überreste der Terrorguerilla Islamischer Staat fähig seien. Die Bundesregierung beschließt ebenfalls am 9.9., die Zahl der im Irak eingesetzten Soldaten von 700 auf maximal 500 zu reduzieren. Zuvor waren schon Tornado-Aufklärungsflugzeuge abgezogen worden. Der militärische Druck auf den IS müsse jedoch aufrecht erhalten bleiben, erklärt Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer.

        – Bundestag. Vor den Abgeordneten äußert sich Parlamentspräsident Schäuble (CDU) zu dem Versuch rechtsextremer Demonstranten und Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen, die Treppe zum Reichstag in Berlin zu besetzen (vgl. „Blätter“, 10/2020, S. 127). „Szenen, wie vor anderthalb Wochen“ dürften sich nicht wiederholen. Das Gebäude sei heute Sitz des Bundestages und „das Symbol unserer freiheitlichen Demokratie“. Schäuble erinnert in diesem Zusammenhang an den Reichstagsbrand von 1933 als Zeichen für Zerstörung der Demokratie. Man dürfe nicht zulassen, dass es als bloße Kulisse missbraucht werde. Das gelte „ausnahmslos für alle Versuche, das Haus plakativ zu instrumentalisieren, ob mit Fahnen, Flugschriften oder Transparenten“.

12.9. – Afghanistan. In Doha, der Hauptstadt von Katar, beginnen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen die seit langem vorbereiteten Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Der Konflikt hatte vor fast 20 Jahren mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen und dem Sturz der damals herrschenden Taliban begonnen. Ziel der Verhandlungen ist eine Machtaufteilung. An der Eröffnungssitzung in Katar nimmt auch US-Außenminister Pompeo teil.

14.9. – EU. Die Spitzen der Europäischen Union verhandeln auf einer Videokonferenz mit Chinas Präsident Xi Jinping. Im Mittelpunkt des Gipfels, der ursprünglich in Leipzig stattfinden sollte, stehen Handelsfragen und der Klimaschutz. Für den deutschen Ratsvorsitz nimmt Bundeskanzlerin Merkel teil. – Am 16.9. hält Kommissionspräsidentin von der Leyen ihre erste Rede zur Lage der Union vor dem Europäischen Parlament. Im Mittelpunkt stehen die Klimaziele sowie die Gesundheitspolitik angesichts der Corona-Pandemie. Die Zielvorgabe für das Einfrieren von Emissionen bis 2030 solle von bisher 40 auf „mindestens 55 Prozent“ angehoben werden: „Ich weiß, dass dieses Ziel für manche zu viel und für andere noch nicht genug ist.“ Im Streit um die Rechtsstaatlichkeit erklärt von der Leyen, „europäische Werte“ seien „nicht verhandelbar“. Die Vergabe von EU-Geldern solle an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards gekoppelt sein. – Am 21.9. treffen die Außenminister bei einem Frühstück in Brüssel mit der weißrussischen Oppositionsführerin Tichanowskaja zusammen (vgl. „Blätter“, 10/2020, S. 125 f.). Der EU-Außenbeauftragte Borrell teilt anschließend mit, bei den Gesprächen sei es um Demokratie und Menschenrechte gegangen. Das könne nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus angesehen werden. Die EU erkennt die Wiederwahl Lukaschenkos nicht an. – Am 23.9. legt die Kommission die seit langem angekündigten Vorschläge zu einem Neustart in der Asyl- und Migrationspolitik vor. Das Dokument trägt den Titel „Pact for Migration and Asylum“ und sieht u.a. die verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten, effizientere Asylverfahren an den Grenzen, rasche Rückführungen von nicht Asylberechtigten sowie einen „verpflichtenden Solidaritätsmechanismus in Krisenzeiten“ vor. Außerdem sollen „mehr legale Zugangswege“ nach Europa ermöglicht werden. Die Vorschläge stoßen aus unterschiedlichen Gründen bei Regierungen und Nichtregierungsorganisationen in fast allen Mitgliedstaaten auf Kritik. – Am 30.9. veröffentlicht die Kommission erstmals einen Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in allen 27 Mitgliedstaaten. Der Bericht äußert „ernsthafte Bedenken“ zur Unabhängigkeit der Justiz in Polen und Ungarn. In Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Slowakei gebe es „Herausforderungen“ im Bereich der Gewaltenteilung.

        – Russland/Belarus. Präsident Putin empfängt in seiner Residenz in Sotschi an der russischen Schwarzmeerküste den amtierenden weißrussischen Präsidenten Lukaschenko. Es ist das erste Treffen der beiden Politiker nach der umstrittenen Präsidentenwahl in Belarus (vgl. „Blätter“, 10/2020, S. 125 und 127). Putin sagt Belarus einen Kredit in Höhe von 1,5 Mrd. US-Dollar zu und deutet die Bereitschaft an, Schulden in Höhe von etwa 800 Mio. Euro zu „restrukturieren“. Russland werde alle Verpflichtungen im Rahmen des im Jahre 1999 vereinbarten „Unionsstaats“ erfüllen.

15.9. – Naher Osten. Vor dem Weißen Haus in Washington werden Abkommen über die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrein unterzeichnet. An der Zeremonie nimmt neben Präsident Trump auch Israels Ministerpräsident Netanjahu teil. Die Führung der Palästinenser übt heftige Kritik und erinnert an die gemeinsame Position der arabischen Staaten, einer Normalisierung der Beziehungen mit Israel müsse das Ende der israelischen Annexionspolitik vorausgehen.

20.9. – USA/Iran. Die USA setzen die Sanktionen nach dem Atomabkommen von 2015 gegen den Iran einseitig wieder in Kraft, Präsident Trump unterzeichnet eine entsprechende Verfügung. Der EU-Außenbeauftragte Borrell erklärt dazu, die USA seien am 8. Mai 2018 aus dem Abkommen ausgestiegen und könnten daher keinen Prozess zur Wiedereinsetzung von Sanktionen gemäß der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrates initiieren. Es bleibe bei der Aussetzung der Sanktionen.

20.-21.9. – Italien. Per Referendum wird die Verkleinerung der beiden Parlamentskammern beschlossen. Die Zahl der Mitglieder der Abgeordnetenkammer soll von 630 auf 400, die des Senats von bisher 315 auf 200 verringert werden. Hinzu kommen noch fünf (bisher sechs) vom Präsidenten ernannte Senatoren auf Lebenszeit. Die Verkleinerung von Kammer und Senat soll mit den Parlamentswahlen von 2023 vollzogen werden.

21.9. – Nato. In einem Offenen Brief warnen 56 „frühere Staatenlenker, Außen- und Verteidigungsminister“ aus 20 Nato-Staaten sowie aus Japan und Südkorea vor einem neuen nuklearen Wettrüsten. „Unsere Länder“, schreiben die Autoren, „sollten jede Rolle von Atomwaffen in unserer Verteidigung ablehnen. Indem wir den Schutz von Atomwaffen in Anspruch nehmen, fördern wir den gefährlichen Irrglauben, dass Atomwaffen Sicherheit bringen.“ Erinnert wird an den von 122 Ländern angenommenen Vertrag über das Verbot von Kernwaffen (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons), der nicht nur den Einsatz von Kernwaffen, sondern auch deren Stationierung, Entwicklung und Erprobung verbieten soll. Dieser Vertrag von 2017 (vgl. „Blätter“, 9/2017, S. 125) müsse baldmöglichst in Kraft treten. Zu den Unterzeichnern gehören der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) und der frühere Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD). – Am 27.9. befasst sich Generalsekretär Stoltenberg in einem Beitrag für die „Welt am Sonntag“ mit den Auswirkungen des Klimawandels. Für die Nato gehe es darum, den Klimawandel besser zu verstehen und ihn „in alle Aspekte unserer Aufgaben einzubeziehen, von der militärischen Planung bis hin zur Art und Weise, wie wir unsere Streitkräfte ausbilden und trainieren“. Das bedeute bessere Ausrüstung, Fahrzeuge und Infrastruktur.

        – UNO. In New York wird der 75. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen begangen. Ansprachen führender Politiker aus 193 Mitgliedstaaten werden in der Mehrzahl per Video übermittelt. Bundesaußenminister Maas erklärt in Berlin: „Wir können uns wegen Corona dieses Jahr zwar nicht persönlich zur UN-Generalversammlung in New York treffen, aber wir nutzen den Anlass trotzdem, um Themen, die uns wichtig sind, einzubringen. Dazu zählen Multilateralismus, eine internationale regelbasierte Ordnung, Abrüstung und kooperative Konfliktlösungen.“ Die jährliche Generaldebatte, die am 22.9. in New York beginnt, steht unter dem Motto: „Die Zukunft, die wir wollen, die Vereinten Nationen, die wir brauchen.“

27.9. – Schweiz. Die „Begrenzungsinitiative“ (BGI) der Schweizerischen Volkspartei wird in einer Volksabstimmung mit Mehrheit (knapp 62 Prozent) abgelehnt. Die Initiatoren wollten die Zahl der Ausländer begrenzen und die Freizügigkeit einschränken.

28.-30.9. – Frankreich. Präsident Macron besucht das Baltikum. Die Reise beginnt in Vilnius (Litauen) und endet in Riga (Lettland). Im Gespräch mit dem litauischen Präsidenten Nauseda erklärt Macron, wenn man das Ziel eines friedlichen Europa verfolge, müsse man mit Russland zusammenarbeiten, um eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die Eskalationen vermeidet. Man könne nicht so tun, als sei Europa eine Insel, weit von Russland entfernt. Macron bekräftigt die Notwendigkeit eines „strategischen Dialogs“ mit Moskau. Der französische Präsident trifft in Vilnius mit der weißrussischen Oppositionspolitikerin Tichanowskaja zusammen.

29.9. – Nagorny Karabach. Die „Neue Zürcher Zeitung“ schreibt: „Armenien und Aserbaidschan stehen [...] an der Schwelle zu einem neuen Krieg um die von beiden südkaukasischen Staaten beanspruchte Region Nagorny Karabach.“ Erste Kämpfe hätten Tote und Verletzte unter Militärangehörigen und Zivilisten gefordert. Stepanakert, die Hauptstadt der Region, sei beschossen worden. Nach Armenien hatte auch Aserbaidschan die Mobilmachung der Streitkräfte angeordnet.

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In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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