Ausgabe August 2022

Chronik des Monats Juni 2022

1.6. – Krieg in der Ukraine. Bundeskanzler Olaf Scholz sichert der Ukraine moderne Waffen- und Radarsysteme zur Flugabwehr zu. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel äußert sich erstmals öffentlich zum Krieg in der Ukraine, ohne dabei auf das Verhältnis der von ihr geführten Bundesregierungen zu Russland einzugehen. Der russische Angriff sei eine „tiefgreifende Zäsur“ und „barbarisch“. – Am 5.6. wird die Hauptstadt Kiew wieder von Raketen angegriffen. Der russische Außenminister Lawrow muss am 6.6. eine geplante Reise nach Serbien abbrechen. Bulgarien, Nord-Mazedonien und Montenegro hatten ihren Luftraum für die russische Regierungsmaschine gesperrt. Um den weiteren Export von Getreide aus der Ukraine möglich zu machen, treffen sich am 8.6. der türkische Außenminister Çavusoglu und Außenminister Lawrow in Ankara. – Am 9.6. verurteilt ein Gericht in der von Rebellen ausgerufenen „Volksrepublik Donezk“ zwei Briten und einen Marokkaner zum Tode. Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir reist nach Warschau und zur polnisch-ukrainischen Grenze, um über alternative Exportrouten für Getreide zu beraten. Die Beratungen werden am 10.6. in Kiew fortgesetzt. Bundesgesundheitsminister Lauterbach sichert der Ukraine bei einem Besuch medizinische Hilfsleistungen zu. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen berät am 11.6. in Kiew mit Präsident Selenskyj über die Einleitung eines EU-Beitrittsverfahrens für die Ukraine. – Am 13.6. wirft Amnesty International Russland den Einsatz von Streubomben vor. In der Nacht zum 15.6. wird das Asot-Chemiewerk in der Stadt Sjewjerodonezk angegriffen, in dem rund 500 Zivilisten und ukrainische Soldaten ausharren. US-Verteidigungsminister Austin sagt der Ukraine weitere Militärhilfen zu. Bundesverteidigungsministerin Lambrecht kündigt die Lieferung von Panzerhaubitzen an die Ukraine an. – Am 16.6. reisen Bundeskanzler Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron, der italienische Regierungschef Mario Draghi, sowie Rumäniens Präsident Klaus Johannis überraschend in die Ukraine, treffen Präsident Selenskyj, besuchen Kriegsschauplätze und sprechen sich gemeinsam für ein EU-Beitrittsverfahren für die Ukraine aus. Auf Befehl von Präsident Selenskyj wird Sjewjerodonezk am 24.6. von den ukrainischen Truppen aufgegeben. In der Nacht zum 25.6. intensiviert die russische Seite ihre Bombardements. Die Angriffe erfolgen auch aus dem benachbarten Belarus und treffen vor allem nichtmilitärische Ziele. Der russische Präsident Wladimir Putin sichert dem belarusischen Präsidenten Lukaschenko die Lieferung atomwaffenfähiger Raketen zu. – Am 26.6. wird auch die Hauptstadt Kiew wieder von russischen Raketen getroffen. Im Zentrum der russischen Angriffe steht nach der Einnahme von Sjewjerodonezk die ostukrainische Stadt Lyssytschansk. Der Generalgouverneur bezeichnet die Lage als sehr schwierig, es werde ohne Unterschied zwischen zivilen und militärischen Zielen bombardiert. 

        – EU. Die Kommission macht den Weg frei für die Einführung des Euro in Kroatien. Das Land will die Währung ab 2023 einführen. – Am 23.6. erklärt der Europäische Rat auf Empfehlung der EU-Kommission die Ukraine und die Republik Moldau zu Beitrittskandidaten. Vor einem Beitritt seien jedoch in beiden Ländern umfangreiche Reformen notwendig.

2.6. – Tunesien. Präsident Kais Saied entlässt 57 Richter, um die Justiz einer „Reinigung“ zu unterziehen. Die Entlassungen werden u.a. mit der Anhäufung von Reichtum begründet. Kritiker der Regierung und die Opposition befürchten, Saied wolle nach den Errungenschaften des Arabischen Frühlings von 2011 die Gewaltenteilung abschaffen und das Land wieder in eine Diktatur führen.

3.6. – Türkei. Auf Wunsch der Regierung soll das Land im internationalen Verkehr künftig „Türkiye“ statt „Turkey“ (engl. Truthahn) bezeichnet werden. Dies bestätigten die Vereinten Nationen.

5.6. – Albanien. Der bisherige Armeechef Bajram Begaj wird im Parlament im vierten Wahlgang zum neuen Präsidenten des Landes gewählt. Begaj gibt seine Posten beim Militär ab, da Militärangehörige keine hohen staatlichen Ämter bekleiden dürfen.

6.6. – UNO. Nach einer Rede des Ratspräsidenten der Europäischen Union Michel im Sicherheitsrat in New York verlässt der russische Botschafter aus Protest den Saal. Michel hatte Russland allein für die aktuelle weltweite Hungerkatastrophe verantwortlich gemacht. – Am 7.6. warnt die Weltbank, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Hauptsitz in Washington, vor einer anhaltenden globalen Inflation mit zugleich sinkender Wirtschaftsleistung (Stagflation). Zu den Ursachen gehören die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine. – Am 28.6. befasst sich der Sicherheitsrat mit dem Beschuss eines belebten Einkaufszentrums in der zentralukrainischen Stadt Krementschuk, bei dem nach ukrainischen Angaben mindestens 18 Menschen ums Leben kamen, weitere Personen gelten als vermisst.

        – Großbritannien. Premierminister Boris Johnson übersteht ein Misstrauensvotum der eigenen Partei. Eine Mehrheit der Tory-Fraktion spricht sich für Johnson aus, der nach dem sogenannten Party-Gate wegen wiederholter Verstöße gegen Corona-Maßnahmen unter Druck steht. – Am 17.6. erlaubt die Regierung die Auslieferung von Julian Assange an die USA, wo ihm wegen der Aufdeckung amerikanischer Kriegsverbrechen 175 Jahre Haft drohen. Assange legt Berufung gegen seine Auslieferung ein.

7.6. – Bayern. Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder erklärt, er werde sich nicht erneut um das Amt des Bundeskanzlers bewerben.

9.6. – Thailand. Als erstes asiatisches Land legalisiert Thailand Besitz und Anbau von Cannabis.

10.6. – Malaysia. Das Kabinett beschließt alternative Bestrafungsmöglichkeiten anstelle der Todesstrafe. Richter sind künftig in Fällen von Mord, Drogenschmuggel oder Terrorismus nicht mehr verpflichtet, ausschließlich die Todesstrafe zu verhängen.

13.6. – Japan. Elf Jahre nach dem Reaktorunglück von Fukushima können ehemalige Bewohner in einige Gebiete der mehr als 300 Quadratkilometer großen Sperrfläche zurückkehren.

14.6. – Bundesgerichtshof. Der Gerichtshof weist die Klage eines Mitglieds der Jüdischen Gemeinde ab. Der Kläger hatte gefordert, das umstrittene Relief „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche zu entfernen.

15.6. – Bundesverfassungsgericht. Das Gericht gibt einer Klage der AfD Recht. Die damalige Bundeskanzlerin Merkel hatte die Wahl des „Kurzzeit-Ministerpräsidenten“ Thomas Kemmerich (FDP) in Thüringen im Februar 2020 mit den Stimmen von CDU und AfD als „unverzeihlich“ bezeichnet (vgl. „Blätter“, 4/2020, S. 125). Das Gericht sieht darin die Verletzung der Neutralitätspflicht einer Bundeskanzlerin.

        – Nato. Bei einem Treffen der Verteidigungsminister erklärt Nato-Generalsekretär Stoltenberg, es gehe jetzt um Beschlüsse zur Stärkung der Ostflanke der Allianz. Am bevorstehenden Gipfel in Madrid werde auch Präsident Selenskyj teilnehmen. Die Nato kündigt am 27.6. eine massive Aufstockung ihrer schnellen Eingreiftruppe von 40 000 auf eine Mannschaftsstärke von 300 000 an. Der finnische Präsident Niinistö teilt am 28.6. mit, die Türkei habe ihren Widerstand gegen eine Nato-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens aufgegeben und werde während des Nato-Gipfels in Madrid die Einladung an die beiden nordischen Länder, Bündnismitglied zu werden, unterstützen. – Vom 29.-30.6. findet in Madrid ein Gipfel statt, an dem auch die Außen- und Verteidigungsminister teilnehmen. Im Mittelpunkt steht eine massive Aufrüstung der Allianz.

17.6. – Russland. Präsident Putin hält eine Rede vor dem 25. Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg und beschuldigt den Westen, einen „wirtschaftlichen Blitzkrieg“ gegen sein Land zu führen. Dieser sei jedoch „von Anfang an zum Scheitern verurteilt“.

17.-19.6. – AfD. Die Alternative für Deutschland hält im sächsischen Riesa ihren Parteitag ab und wählt die Bundestagsabgeordneten Tino Chrupalla und Alice Weidel zu neuen Parteivorsitzenden. Nach einem Streit über eine Resolution zum Thema Europa wird der Parteitag vorzeitig abgebrochen.

19.6. – Frankreich. Aus den Parlamentswahlen geht das Bündnis „Ensemble!“ des amtierenden Präsidenten Macron als stärkste Kraft hervor, verliert aber die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Unerwartet stark ist der Rassemblement National von Marine Le Pen, der mit 89 Abgeordneten (bisher vier) erstmals eine Fraktion im Parlament bilden kann. Beobachter sehen nun zahlreiche Blockaden in der französischen Politik voraus.

20.6. – Kolumbien. Erstmals wird mit Gustavo Petro ein linker Kandidat zum Präsidenten gewählt. Petro, der sich in der Stichwahl mit 50,44 Prozent gegen den Unternehmer Rodolfo Hernández (47,31 Prozent) durchsetzt, will sich für die Ärmsten im Land einsetzen.

21.6. – Friedensnobelpreis. Der russische Preisträger Dmitri Muratow versteigert in New York seine zum Preis gehörende Medaille. Die Auktion erbringt 103,5 Mio. US-Dollar, die Muratow den geflüchteten ukrainischen Kindern zugedacht hat. Der Bieter bleibt anonym.

22.6. – China. Staats- und Parteichef Xi Jinping erklärt bei der Eröffnung eines digitalen Wirtschaftsforums der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die Geschichte habe gezeigt, dass Hegemonie, Gruppenpolitik und Blockkonfrontationen Krieg und Konflikte brächten. Staaten würden in Not geraten, „wenn sie blindes Vertrauen in ihre Stärke setzen, Militärbündnisse erweitern und die eigene Sicherheit auf Kosten anderer suchen“.

         – Bulgarien. Die vor einem halben Jahr gewählte Regierung wird durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Zuvor hatte es Streit um die Staatsfinanzen und das Verhältnis zum Nachbarstaat Nord-Mazedonien gegeben.

23.6. –  Österreich. Die Ende 2021 beschlossene Corona-Impfpflicht wird wieder abgeschafft.

24.6. – Bundestag. Der Bundestag beschließt mit Stimmen von SPD, Grünen, FDP und Linken die Streichung des Paragraphen 219a und schafft damit das „Werbeverbot“ für Schwangerschaftsabbrüche ab.

        – USA. Der Supreme Court, das oberste Gericht, kippt die seit 1973 bestehende Grundsatzentscheidung „Roe vs. Wade“, die bislang landesweit Abtreibungen unter bestimmten Bedingungen ermöglichte. Durch das neue Urteil liegt die Entscheidung zur Legalität von Abtreibungen nun bei den einzelnen Bundesstaaten. Viele konservativ regierte Bundesstaaten kündigen umgehend eigene umfassende Abtreibungsverbote an. In zahlreichen Städten kommt es zu Protesten.

24.-26.6. – Die Linke. Die Linkspartei hält ihren Bundesparteitag in Erfurt ab und diskutiert kontrovers sowohl die eigene Haltung zum Krieg Russlands gegen die Ukraine als auch Vorwürfe innerparteilicher sexualisierter Übergriffe. Die bisherige Vorsitzende Janine Wissler wird wiedergewählt, neues Mitglied der Doppelspitze wird Martin Schirdewan.

26.-28.6. – G7. Bundeskanzler Scholz empfängt auf Schloss Elmau in Bayern die Regierungschefs der sieben wichtigen Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und USA). Als Gäste sind Argentinien, Indien, Senegal und Südafrika geladen. Zu den Teilnehmern gehören auch die Spitzen der Europäischen Union. Wichtigstes Thema der Beratungen ist der Krieg in der Ukraine. Der ukrainische Präsident Selenskyj richtet eine Videobotschaft an die Konferenz und fordert mehr moderne Waffen, Zusagen für den Wiederaufbau seines Landes und schärfere Sanktionen gegen Russland.

28.6. – Nordrhein-Westfalen. Der Landtag in Düsseldorf wählt Hendrik Wüst (CDU) mit 106 von 181 abgegebenen Stimmen bei 74 Gegenstimmen und einer Enthaltung erneut zum Ministerpräsidenten. Wüst steht jetzt an der Spitze einer Koalition aus Christdemokraten und Grünen, die Freien Demokraten sind in der Landesregierung nicht mehr vertreten. (Zum Ergebnis der Landtagswahl vom 15. Mai 2022 vgl. „Blätter“, 7/2022, S. 127).

         – NS-Verbrechen. Ein Gericht in Neuruppin verurteilt den ehemaligen KZ-Wachmann Josef S. wegen Beihilfe zum Mord und versuchten Mord zu fünf Jahren Haft. Der Angeklagte, heute 101 Jahre alt, war zwischen 1942 und 1945 im KZ Sachsenhausen tätig.

29.6. – Schleswig-Holstein. Der Landtag in Kiel wählt Daniel Günther (CDU) mit 47 von 66 abgegebenen Stimmen bei 15 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen erneut zum Ministerpräsidenten. Günther führt jetzt eine Koalition aus Christdemokraten und Grünen, die Freien Demokraten gehören dem Kabinett nicht mehr an. Der schwarz-grünen Regierung gehören mit Aminato Touré (Bündnis 90/Die Grünen) erstmals eine Person mit afrodeutscher Herkunft sowie mit Claus Ruhe Madsen, zuvor Oberbürgermeister von Rostock, ein Däne an. (Zum Ergebnis der Landtagswahl vom 8. Mai 2022 vgl. „Blätter“, 7/2022, S. 126.)

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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