Ausgabe September 1990

Chronik vom 6. Juli 1990 bis 5. August 1990

6.7. - D D R / B R D. Im Hause des DDR-Ministerrats beginnen die Verhandlungen über einen zweiten Staatsvertrag ("Einigungsvertrag"), der die Modalitäten für eine Zusammenführung der beiden deutschen Staaten regeln soll. Verhandlungsführer sind Bundesinnenminister Schäuble und DDR-Staatssekretär Krause. Zur Delegation der Bundesrepublik gehören auch Vertreter von sechs Bundesländern; die EG-Kommission ist durch einen Beobachter vertreten. An der Eröffnungssitzung nimmt Ministerpräsident de Maiziere teil. - Am 22.7. beauftragt die Volkskammer die DDR-Regierung, mit der Bundesregierung parallel zum Einigungsvertrag "einen Vertrag zur Vorbereitung der gesamtdeutschen Wahlen auszuhandeln". - Am 26.7. einigen sich die Ausschüsse "Deutsche Einheit" von Bundestag und Volkskammer auf einer gemeinsamen Sitzung in Bonn darauf, die ersten gesamtdeutschen Wahlen am 2. Dezember d.J. in einem einheitlichen Wahlgebiet und nach einem einheitlichen Wahlrecht (Fünf-Prozent-Klausel) abzuhalten. - Am 2.8. unterzeichnen Bundesinnenminister Schäuble und DDR-Staatssekretär Krause in Berlin einen "Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages". Zu den "Übergangsregelungen für die Wahl zum 12. Deutschen Bundestag" gehört die folgende Bestimmung: "Landeslisten verschiedener Parteien, die in keinem Land, ausgenommen Berlin, nebeneinander Listenwahlvorschläge einreichen, können durch Erklärung gegenüber dem Bundeswahlleiter verbunden werden." - Am 3.8. schlägt Ministerpräsident de Maiziere nach einer Zusammenkunft mit Bundeskanzler Kohl überraschend vor, die ersten gesamtdeutschen Wahlen zugleich mit den Landtagswahlen in der DDR am 14. Oktober d.J. abzuhalten. Die SPD-Führung in Bonn erklärt dazu, sie werde eine Änderung des Grundgesetzes zur Verkürzung der Legislaturperiode, die im Bundestag und im Bundesrat eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordert, nicht zustimmen. Die SPD sei jedoch für einen möglichst schnellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.

- N A T O. In einer "Londoner Erklärung: Die Nordatlantische Allianz im Wandel" (Text in "Blätter", 8/1990, S. 1004 ff.) wenden sich die Staats- und Regierungschefs der Allianz auf einer Tagung in der britischen Hauptstadt (5.-6.7.) an die "Länder Mittel- und Osteuropas..., die im Kalten Krieg unsere Gegner waren". - Am 10.7. führt DDR-Außenminister Meckel in Brüssel ein Gespräch mit Generalsekretär Wörner und den Botschaftern der NATO-Mitgliedstaaten. Meckel erklärt anschließend vor der Presse, die Mehrheit der DDR-Bevölkerung habe Vorbehalte gegenüber der Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der Allianz oder lehne sie ganz ab, was man nicht einfach übergehen könne. - Am 13.7. reist Wörner als erster NATO-Generalsekretär nach Moskau, wo er am 14.7. von Präsident Gorbatschow empfangen wird. Gorbatschow legt bei dieser Gelegenheit den Entwurf für eine gemeinsame politische Erklärung von NATO und Warschauer Vertrag vor. Der Präsident nimmt die Einladung Wörners an, das Hauptquartier der Allianz in der belgischen Hauptstadt zu besuchen.

- P o l e n. Ministerpräsident Mazowiecki gibt eine Umbildung seines Kabinetts bekannt (vgl. "Blätter", 11/1989, S. 1290). Zu den ausscheidenden Ministern gehören zwei Vertreter der früheren Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), die Generäle Kiszczak (Inneres) und Siwicki (Verteidigung).

9.-11.7. - W i r t s c h a f t s g i p f e l. Die Staats- und Regierungschefs von sieben westlichen Industriestaaten sowie der Präsident der EG-Kommission treffen sich in Houston (USA) zu ihrem jährlichen Wirtschaftsgipfel. Den Teilnehmern liegt eine Botschaft von Präsident Gorbatschow vor, in der dieser die sowjetischen Pläne für den Übergang zu einer marktorientierten Wirtschaft erläutert. In einer "Wirtschaftserklärung von Houston" heißt es u.a., bis zum Jahresende sollten in einer Studie "Empfehlungen" für die sowjetischen Wirtschaftsreformen ausgearbeitet und "Kriterien" festgelegt werden, "nach denen wirtschaftliche Hilfe des Westens diese Reformen wirksam unterstützen könnte".

10.7. - U d S S R. Der 28. Parteitag der KPdSU (zur Eröffnung vgl. "Blätter", 8/1990, S. 902) bestätigt Generalsekretär Gorbatschow mit 3411 Stimmen in seiner Funktion; auf den Gegenkandidaten Teimuras Awaliani, Vorsitzender der Parteiorganisation der sibirischen Stadt Kiselewsk, entfallen 501 Stimmen. Zum stellvertretenden Generalsekretär wird mit 3109 Stimmen der von Gorbatschow vorgeschlagene Wladimir Iwaschko gewählt, bisher Vorsitzender des Obersten Sowjets der Ukraine. Das bisherige PolitbüroMitglied Jegor Ligatschow, einer der Gegenkandidaten, erhält 776 Stimmen. Der Präsident der RSFSR, Boris Jelzin (vgl. "Blätter", 7/1990, S. 773), gibt am 12.7. vor dem Plenum seinen Parteiaustritt bekannt. Weitere Delegierte, die sich in einer "Demokratischen Plattform" zusammengeschlossen haben, kündigen die Gründung einer eigenen Partei an. Mit der Wahl des neuen Zentralkomitees (412 Mitglieder) und einer Schlußansprache von Generalsekretär Gorbatschow wird der Parteitag am 13.7. beendet. Gorbatschow erklärt u.a., die Mehrheit der Partei müsse lernen, "bei unterschiedlichen Ansichten und sogar Plattformen in verschiedenen Fragen der Politik und der Praxis der Minderheit gegenüber Achtung" zu zeigen. Das Zentralkomitee wählt am 14.7. das Politbüro, dem künftig die Parteisekretäre aller 15 Unionsrepubliken angehören, sowie das Sekretariat.

14.7. - U d S S R / B R D. Bundeskanzler Kohl reist zu Gesprächen mit Präsident Gorbatschow in die sowjetische Hauptstadt. Zur Begleitung gehören Bundesaußenminister Genscher und Bundesfinanzminister Waigel. Die Verhandlungen (15.-16.7.) finden zunächst in Moskau statt und werden später auf einem Landsitz im nördlichen Kaukasus fortgesetzt. Über die Ergebnisse berichtet der Bundeskanzler in Anwesenheit Gorbatschows am 16.7. auf einer Pressekonferenz in Schelesnowodsk und am 17.7. vor der Bundespressekonferenz in Bonn (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen"). Kohl teilt u.a. mit, Deutschland werde "zum Zeitpunkt seiner Vereinigung seine volle und uneingeschränkte Souveränität" erhalten und könne entscheiden, "ob und welchem Bündnis es angehören will". Die Bundesregierung werde sich verpflichten, die Streitkräfte eines geeinten Deutschland innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370 000 Mann zu reduzieren. Gegenüber der bisherigen Sollstärke von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee bedeute dies eine Verminderung um 45%. Das vereinte Deutschland wolle "so bald wie möglich" einen "umfassenden Kooperationsvertrag" mit der Sowjetunion abschließen.

- D D R. Der stellvertretende Ministerpräsident und Innenminister Diestel besucht den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden und SEDGeneralsekretär Honecker (zum Rücktritt vgl. "Blätter", 12/1989, S. 1418), der sich in einem sowjetischen Militärhospital in Beelitz bei Berlin aufhält. Über den Inhalt des Gesprächs wird nichts bekannt. - Am 16.7. konstituiert sich in Berlin der Verwaltungsrat der DDR-Treuhandanstalt unter Vorsitz von Detlev Carsten Rohwedder, Vorstandsvorsitzender der Dortmunder Hoesch-AG. Die Treuhandanstalt arbeitet auf der Grundlage des von der Volkskammer am 17. Juni d.J. verabschiedeten Treuhandgesetzes ("Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens"). - Am 22.7. billigt die Volkskammer ein "Ländereinführungsgesetz" zur Wiedererrichtung der im Jahre 1952 aufgelösten fünf Länder auf dem Territorium der DDR: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Für Berlin (Ost), die Hauptstadt der DDR, gilt zunächst eine Sonderregelung. Als Termin für die ersten Landtagswahlen wird der 14. Oktober d.J. festgesetzt.

16.-17.7. - K a m b o d s c h a. Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (China, Frankreich, Großbritannien, UdSSR und USA) beraten in Paris über eine Beilegung des Kambodscha-Konflikts. Der amerikanische Außenminister Baker teilt nach einem Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse am 18.7. in der französischen Hauptstadt mit, die US-Regierung wolle ihre Unterstützung für die kambodschanische Widerstandskoalition aufgeben und direkte Verhandlungen mit den Regierungen in Hanoi und Phnom Penh über die Durchführung freier Wahlen in Kambodscha führen. Vorrangiges Ziel sei, eine Rückkehr der "Roten Khmer" an die Macht zu verhindern.

17.7. - D e u t s c h l a n d f r a g e. Im Rahmen der "ZweiPlus-Vier"-Verhandlungen findet in Paris das dritte Treffen auf Außenministerebene statt (vgl. "Blätter", 8/1990, S. 900). Die Teilnehmer einigen sich in Anwesenheit des polnischen Außenministers Skubiszewski auf fünf Prinzipien über den "endgültigen Charakter der Grenzen Deutschlands". Die "Verfassung des vereinten Deutschlands" dürfe keinerlei Bestimmungen enthalten, "die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind". - Am 2.8. erklärt der sowjetische Außenminister Schewardnadse nach einem Gespräch mit seinem amerikanischen Kollegen Baker in Irkutsk, das Schlußdokument im Rahmen des "Zwei-Plus-Vier-Mechanismus" könne bis zum nächsten Treffen in Moskau am 12. September d.J. "im Großen und Ganzen fertig sein".

24.7. - G r i e c h e n l a n d / U S A. Das Parlament in Athen ratifiziert mit knapper Mehrheit (151 von 300 Stimmen) einen Vertrag, der den USA die weitere Nutzung von zwei Stützpunkten auf griechischem Boden für mindestens acht Jahre erlaubt. Es handelt sich um eine Marine- sowie um eine Luftwaffenbasis auf der Insel Kreta.

25.7. - G r o ß b r i t a n n i e n. Verteidigungsminister King kündigt vor dem Unterhaus die Halbierung der in der Bundesrepublik stationierten Truppen bis zum Jahre 1995 an. Die britischen Streitkräfte sollten um insgesamt 18% vermindert werden.

30.7. - A l b a n i e n / U d S S R. Nach einer Unterbrechung von 29 Jahren werden die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Staaten wieder hergestellt. Eine entsprechende Vereinbarung sieht die Akkreditierung von Botschaftern in Tirana und Moskau vor.

1.8. - B u l g a r i e n. Das Parlament wählt mit den Stimmen der regierenden Sozialistischen Partei (vgl. "Blätter", 8/1990, S. 901) den Oppositionspolitiker Schelju Schelew, Vorsitzender der Union Demokratischer Kräfte, zum neuen Staatsoberhaupt. Schelew, der 284 von 389 abgegebenen Stimmen erhält, ist Nachfolger von Petar Mladenow (vgl. "BIätter", 1/1990, S. 5), der nach öffentlichen Vorwürfen wegen seines Verhaltens in der Vergangenheit am 6.7. zurückgetreten war.

1.-2.8. - U d S S R / U S A. Die Außenminister Schewardnadse und Baker treffen sich zu einem Meinungsaustausch in der sibirischen Stadt Irkutsk. Themen sind u.a. die regionalen Konflikte (Afghanistan, Kambodscha, Naher Osten), die "äußeren Aspekte" der deutschen Vereinigung, die Abrüstung in Europa sowie der Stand der Arbeiten an einer sowjetisch-amerikanischen Vereinbarung über die Reduktion strategischer Nuklearwaffen (START). Außenminister Schewardnadse kündigt auf der Abschlußpressekonferenz die Einstellung der Produktion sowjetischer Interkontinentalraketen vom Typ SS-24 zum 1. Januar 1991 an. Die Sowjetunion werde nur eine bestimmte Anzahl dieser auf mobilen Startrampen montierten Raketen einsatzbereit halten. Baker verkürzt einen anschließenden Besuch in der Mongolei und kommt am 3.8. überraschend nach Moskau, um gemeinsam mit Schewardnadse eine Erklärung abzugeben, in der beide Seiten den Irak auffordern, "bedingungslos seine Truppen aus Kuwait abzuziehen" (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen").

2.8. - I r a k / K u w a i t. Truppen des Irak überschreiten die Grenze nach Kuwait und besetzen das Scheichtum innerhalb weniger Stunden. Dem Emir des Landes, Scheich Jaber al-Ahmed as-Sabah, sowie einigen Mitgliedern der Regierung gelingt die Flucht nach Saudiarabien. In Bagdad läßt der Kommandorat erklären, eine "Übergangsregierung des freien Kuwait" habe die irakischen Truppen zu Hilfe gerufen. Der Invasion vorausgegangen waren diplomatische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Nachbarstaaten über territoriale und wirtschaftliche Forderungen des Irak sowie vergebliche Vermittlungsbemühungen innerhalb der Arabischen Liga.

- U N O. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der auf Antrag der USA und Kuwaits in New York zu einer Krisensitzung zusammentritt, verurteilt in einer Resolution die irakische Invasion in Kuwait und fordert den unverzüglichen und bedingungslosen ("immediately and unconditionally") Rückzug der Invasionstruppen. Beide Seiten werden zur Aufnahme von Verhandlungen zur Bereinigung ihrer Streitigkeiten aufgefordert. Von den 15 Ratsmitgliedern stimmen 14 der Resolution zu, der Jemen, das einzige arabische Ratsmitglied, nimmt an der Abstimmung nicht teil.

5.8. - K u b a. Vizepräsident und Verteidigungsminister Raul Castro richtet in einer Rede heftige Angriffe gegen die USA, die die politische Stabilität in Kuba untergraben wollten. Trotz der "gefährlichen Zeiten" werde sein Land "die Banner des MarxismusLeninismus verteidigen".

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