Erklärung der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) vom 28. Mai 2006 (Auszüge)
Eine Welle von Vernetzungs- und Kampagnentreffen, die Planung von Camps und Aktionen ist im Gange. Bereits ein Jahr bevor sich die „Gruppe der 8“ im mecklenburgischen Heiligendamm trifft, richten NGOs, Netzwerke wie Attac und Gruppen des linksradikalen Spektrums ihre Aktivitäten auf das Thema G8 aus, welches quer durch alle Spektren der Linken ein gewaltiges Mobilisierungspotential zu besitzen scheint. Das große Bedürfnis nach Protest und Organisierung wird sichtbar. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen und Aktionen im Umfeld des G8-Treffens könnten, wie schon in Seattle 1999, Genua 2001 und anderswo, zu einem dynamischen „Kristallisationsmoment“ für emanzipative Bewegungen werden.
Dies bietet große Chancen, wirft aber auch einige Fragen auf: Wie kann der Gipfel der 8 kritisiert werden, ohne in eine problematische Sicht der „bösen 8 gegen den Rest der Welt“ zu verfallen, der den Blick auf dieses scheinbare Machtzentrum verengt und dabei globale Herrschaftsverhältnisse und -systeme ausklammert? Wie ist Protest möglich, ohne sich in die Inszenierung des G8 einzufügen, ja sie sogar zu stärken? [...] Wie können in der Mobilisierung Alternativen aufgezeigt und aufgebaut werden? [...]
1. Die aktuelle Situation
[...] Im Establishment wird um eine Neuausrichtung des neoliberal-imperialen Projekts gerungen, um den globalen Kapitalismus effektiver zu gestalten und zu relegitimieren. Auch wenn die Legitimation schwindet, steckt das neoliberal-imperiale Modell (noch) nicht in einer Funktionskrise, sondern dominiert staatliche Politik nicht nur in den kapitalistischen Metropolen. Die bestehenden Verhältnisse werden – wenn auch oft murrend – akzeptiert und aktiv mitgestaltet. Das Vertrauen in die politischen und ökonomischen Entscheidungsträger- Innen ist noch nicht grundlegend erschüttert. In Deutschland äußert sich Kritik weniger organisiert und emanzipatorisch als vielmehr diffus und im Sinne einer autoritären Sozialstaatlichkeit. Schlimmstenfalls kommt sie im rechtsextremen Gewand daher.
In diesem Kontext sind sowohl die Treffen der politisch und ökonomisch mächtigsten Regierungschefs wie auch die Proteste zu verorten. Grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen von der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse treffen hier aufeinander. Diese Differenzen deutlich zu machen, die herrschende Sichtweise zu schwächen und emanzipatorische Perspektiven zu stärken, das ist ein Anliegen der Proteste.
2. Die G8 als Teil globaler Herrschaftsverhältnisse
Die G8 sind weniger als ein Machtzentrum zu begreifen, von dem aus Entscheidungen globaler Reichweite getroffen werden, sondern bilden einen Knoten im Netzwerk globaler Hegemonie, in dem sich Herrschaftsverhältnisse verdichten und umkonfigurieren. Dieses Netz von Trennlinien und Machtbeziehungen zieht sich durch die gesamte Gesellschaft und lässt sich nicht auf ein einfaches „oben“ und „unten“ reduzieren.
Vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Gruppe der 8, so wird deutlich, dass die Regierungen sowohl Getriebene innerer und äußerer Gegensätze und Verhältnisse sind, als auch Antreiber einer wirtschaftsliberalen Politik. Ins Leben gerufen wurde die heutige G8 1975 im französischen Rambouillet. Die beteiligten sechs Regierungen1 wollten sich in einem informellen Rahmen über Maßnahmen verständigen, mit denen auf den drastischen Ölpreisanstieg, die ökonomische Rezession und die monetären Turbulenzen, die sich nach der Aufhebung der Goldbindung des Dollars 1971 und der Freigabe der Wechselkurse 1973 ergeben hatten, reagiert werden konnte. Mit der Schuldenkrise 1982/83 wurde die liberale Weltmarktintegration der südlichen Länder und die Liberalisierung der Kapitalmärkte erstmalig explizit gefordert. Spätestens Anfang der 80er Jahre wurde die G8 zu einer aktiven Vertreterin eines marktförmigen Währungssystems, später dann zu einer Verfechterin von Strukturanpassungsmaßnahmen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds sowie zur Antreiberin der Welthandelsorganisation. [...]
Die Gruppe der 8 erfüllt verschiedene Funktionen: Erstens hat sie zwar als solche keine eigenständige formelle Entscheidungsgewalt, ja noch nicht einmal ein Gründungsdokument. Aber über die mächtigen Regierungen werden die Absprachen in andere internationale Foren eingebracht (etwa in Weltbank, IWF, WTO, OECD) bzw. über nationale Politiken umgesetzt. In den Abschlusserklärungen werden häufig Initiativen in internationalen Organisationen angekündigt oder angemahnt. Die Gruppe der 8 übt zudem über „Empfehlungen“ oder konkrete Forderungen Druck auf andere Regierungen aus. Sie kann über ihre vielfältigen Mechanismen flexibel agieren, ohne ihre Entscheidungen in demokratischen Prozessen legitimieren zu müssen.
Zweitens werden im Rahmen der G8 Differenzen und Widersprüche zwischen den weltpolitisch und -ökonomisch dominierenden Staaten ausgetragen und bearbeitet. Gemeinsame Interessen der Mitgliedstaaten werden destilliert, koordiniert und nach außen gebündelt. Beim Verschuldungsmanagement in den 80ern, den Währungskrisen in den 90ern sowie bei der heutigen Durchsetzung von Strategien „globaler Sicherheit“ und der Sicherung der Energieversorgung waren und sind die G8 jeweils ein zentraler Ort der Entwicklung von Strategien des Krisenmanagements. Diese waren stets darauf ausgerichtet, eine inhärent krisenhafte Weltwirtschaft durch politische Rahmenbedingungen zu stabilisieren; im Sinne „makroökonomischer Stabilität“, aber auch zur Sicherung der bestehenden Machtverhältnisse. Die Bearbeitung von Widersprüchen zwischen den G8-Staaten stößt jedoch auch an Grenzen, wie die gegensätzlichen Positionen zum Irakkrieg, zu umwelt- und zu handelspolitischen Fragen zeigten.
Drittens entfalten insbesondere die Treffen der Regierungschefs eine hohe symbolische Wirkung. „Schaut her, wir packen die Probleme der Welt zusammen an! Wir sind die Chefs!“ Neben der direkten Einflussnahme erfüllt die G8 also die Funktion, Zustimmung für sich zu erzeugen und somit Spielräume für ihre Politik zu schaffen. [...]
3. Delegitimierung der G8 und darüber hinaus
Die zentrale Forderung einer internationalistischen Linken kann unseres Erachtens nur die Delegitimierung der G8 sein. Darüber hinaus schlagen wir vor, dass sich im G8-Prozess die verschiedenen emanzipativen Spektren mit ihren Anliegen finden und austauschen und gleichzeitig nach thematischen Zuspitzungen suchen, die einer breiteren Öffentlichkeit verständlich gemacht werden können. Der Protest sollte sich nicht in inhaltlicher Analyse erschöpfen, sondern Raum bieten, Alternativen zu entwickeln und auch zu leben. Schließlich müssen wir uns mit den Strategien von Regierungen und herrschenden Medien auseinandersetzen, die oft versuchen, durch eine Aufteilung der Proteste in „gut“ und „böse“ Spaltungen hervorzurufen.
a) Delegitimieren
Der G8 mangelt es in zweifacher Hinsicht an Legitimation: sowohl gemessen an den für viele Menschen katastrophalen Ergebnissen ihrer Politik, als auch gemessen am eklatanten Missverhältnis zwischen den Beteiligten und den Betroffenen der G8-Entscheidungen. Was dieses Missverhältnis angeht, so erfüllt die G8 nicht einmal die selbst gesetzten Standards liberaler Demokratie. Acht Regierungen maßen sich an Beschlüsse zu treffen, deren symbolische und materielle Auswirkungen weltweit zu spüren sind. Die Regierungschefs der G8 sind auf nationalstaatlicher Ebene zwar formal demokratisch legitimiert, faktisch agieren sie aber auf vermachteten Terrains, auf denen nur diejenigen gesellschaftlichen Interessen Wirkung entfalten können, die mit den herrschenden Problemdefinitionen vereinbar sind. Dazu kommt, dass im Falle Putins selbst die formaldemokratische Legitimation in Frage steht und dass politische Herrschaft sich auch in den so genannten westlichen Demokratien ihres liberaldemokratischen Mantels immer weiter entledigt, zunehmend autoritäre Züge annimmt und sich damit gemessen an den eigenen Legitimationsstandards selbst in ein Legitimationsproblem manövriert. [...]
Eine Herausforderung besteht darin, diese Kritik nicht nur auf die G8 zu beziehen, sondern auf soziale Konflikte in unterschiedlichen Kontexten anzuwenden und radikaldemokratische Alternativen aufzuzeigen. Nicht nur die G8 als ein Ausdruck globaler Herrschaftsverhältnisse muss delegitimiert werden, sondern die zugrunde liegenden Formen und Definitionen von Politik, Entscheidungsfindung und gesellschaftlicher Struktur. [...]
b) Zuspitzen und Sichtbarmachen
Der G8-Prozess kann von emanzipatorischer Seite dazu genutzt werden, dass sich unterschiedliche soziale und politische Spektren stärker aufeinander beziehen und nach gemeinsamen Handlungsansätzen suchen [...]. Unterschiedliche Kämpfe in unterschiedlichen Bereichen folgen unterschiedlichen Logiken: Widerstand gegen repressive Migrationspolitik funktioniert anders als der Aufbau betrieblicher Gegenmacht, Politik gegen Nazistrukturen ist etwas anderes als Protest gegen Hartz IV usw. Die Mobilisierung nach Heiligendamm erfordert einen offenen Umgang mit Unterschieden und Widersprüchen und kann als Experiment mit gemeinsamen thematischen Zuspitzungen dienen. [...]
Einen breiten Konsens könnte es inhaltlich dahingehend geben: Wir fordern erstens die Auflösung der Gruppe der 8 und nicht ihre Erweiterung etwa durch die Einbeziehung anderer Länder.
Wir verweigern uns dem Dialog mit den Regierungen, die im Rahmen der G8 die global herrschenden Interessen koordinieren. Damit laufen wir nicht Gefahr, dem Prozess durch „konstruktive Kritik“ Legitimität zu verleihen.
Wir sehen, dass viele Menschen in den Metropolen die herrschenden Verhältnisse entweder passiv-resignierend hinnehmen oder sogar aktiv unterstützen – ein schlichtes „die da oben, wir hier unten“ geht also nicht auf. Wir benötigen überzeugende Argumente und müssen für interessierte Menschen und Medien ansprechbar sein. Die Kunst besteht darin, radikale Kritik und Forderungen zu formulieren und sich gleichzeitig über den Kreis der ohnehin Überzeugten hinaus zu begeben.
Unsere Kritik ist berechtigt, auch wenn wir keinen umfassenden Gegenentwurf präsentieren. Wir haben keinen, und wir wollen keinen. Eine andere Welt kann nicht autoritär geplant und durchgesetzt werden, sondern muss in Lernprozessen, durch Erfahrungsaustausch und Beteiligung aller entstehen.
Darüber hinaus muss es ein Teil der Proteste sein, den Unsichtbaren, Stimmlosen und Marginalisierten [...] dazu zu verhelfen, dass sie gesehen und gehört werden und ihre Kritik und Alternativen formulieren können. Das bedeutet, einige Themen systematisch zu bearbeiten und in einer breiteren Öffentlichkeit zu verankern: beispielsweise Migration und die Lebensverhältnisse der Menschen, die aus anderen Ländern nach Westeuropa kommen; die Situation der vielen Ausgegrenzten hierzulande ohne Stimme und ohne Gesicht oder die Lebensverhältnisse in den so genannten peripheren Gesellschaften. [...]
c) Gelebte Alternativen
Globaler Protest darf sich nicht in inhaltlicher Kritik erschöpfen, sondern muss sich in einen kreativen Prozess umwandeln. Dabei geht es um das fragende Voranschreiten hin zu einer Veralltäglichung von Widerstand, dem Aufbau und Leben von Alternativen. Die G8-Mobilisierung muss sich als Teil verschiedener Formen des praktizierten sozialen Protests verstehen, in all seiner Widersprüchlichkeit. Ein Bewusstwerden dieser Widersprüche aus einer kritischen Betrachtung der eigenen Bewegungen heraus kann ebenso wie das bewusste Umsetzen alternativer Organisations- und Lebensformen Perspektiven aus dieser Widersprüchlichkeit öffnen. Dieser Prozess muss von vornherein darauf angelegt sein, sich über die thematischen, gesellschaftlichen, nationalen Grenzen hinweg zu erstrecken. Das dissent!- Spektrum kann hierfür in mancher Hinsicht ein Beispiel sein: Vor dem Gipfel in Schottland 2005 gelang eine europaweite Mobilisierung, deren Ausrichtung und Strukturen nun als Basis für die Mobilisierungen gegen die Gipfel in Russland und Deutschland dienen können.
d) Spaltungen vorbeugen
Auf drei Entwicklungen müssen wir gefasst sein. So wird es erstens von herrschender Seite den Versuch geben, die Proteste zu delegitimieren. Die Staatslenker präsentieren sich als die moralisch aufgeklärten RealpolitikerInnen und weisen uns in die Ecke der Spinner.
Zweitens – das lehren die Erfahrungen aus vergangenen Protesten – wird es Versuche geben, die Bewegung zu spalten. Bei verschiedenen Gipfeln der letzten Jahre wurde versucht, kritische Stimmen durch eine Strategie der Vereinnahmung zum Schweigen zu bringen. Events wie „Live Aid“ und die „Make-poverty-history“-Kampagne, die den G8 2005 in Gleneagles begleiteten, haben Protest erfolgreich kanalisiert und die G8 so als legitime Adressatin von Forderungen nach einer „gerechteren Globalisierung“ stilisiert. Den „dialogbereiten Globalisierungskritikern“ wird zugehört oder gar – wie in Davos mit dem von offizieller Seite so genannten „Spielwiesen-Szenario“ – ein offenes Forum geschaffen, auf dem sie ihre Anliegen vortragen dürfen. Die anderen werden als „Gewaltbereite“ diffamiert. Wie erfolgreich die Mobilisierung gegen den Gipfel 2007 wird, hängt auch davon ab, ob es gelingt, auf den Versuch einer solchen Vereinnahmung nicht mit Spaltung und Abgrenzung zu reagieren, sondern die geäußerte Kritik aufzunehmen und zu radikalisieren. Damit zusammenhängend ist es drittens wahrscheinlich, dass gegen die Proteste oder zumindest bestimmte Protestformen repressiv vorgegangen wird. [...]
Die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel hat dann viel erreicht: wenn die herrschenden Verhältnisse klug und kreativ kritisiert und delegitimiert wurden, das heißt die verschiedenen Aktionen und Veranstaltungen gegen den Gipfel breit ausstrahlen; wenn grundlegend emanzipative Perspektiven, das heißt anti-imperiale und kapitalismuskritische, anti-rassistische, feministische und radikalökologische Positionen innerhalb und jenseits des Protestspektrums gestärkt werden; wenn rechte Positionen keine Chance hatten, ihre „Kritik“ hörbar zu machen; wenn mehr Menschen bereit sind, sich auf vielfältige Weise in ihrem Alltag gegen die wirtschaftsliberalen und repressiven Muster zu verhalten; wenn solidarische Formen politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Zusammenlebens gestärkt und neue entwickelt werden.
Wenn eine emanzipatorische Linke stärker wird und sich darüber hinaus mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen kritisch-solidarisch aufeinander bezieht – dann können gerechte und freie, friedliche und nachhaltige Verhältnisse geschaffen werden.