Ausgabe August 1990

Chronik vom 6. Juni 1990 bis 5. Juli 1990

7.6. - W a r s c h a u e r V e r t r a g. Die Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister der Mitgliedstaaten treffen in Moskau zusammen und verabschieden eine Deklaration (Text in "Blätter", 7/1990, S. 892 f.). Der stellvertretende sowjetische Außenminister Kwizinski erklärt anschließend vor der Presse, das östliche Militärbündnis gehe einer "radikalen Veränderung" entgegen. Einige Strukturen seien "obsolet". - Vom 14.-15.6. tagen die Verteidigungsminister in Strausberg. Der gastgebende DDR-Minister für Abrüstung und Verteidigung Eppelmann vertritt die Meinung, das Treffen werde das letzte seiner Art sein. In einer Abschlußerklärung heißt es, Warschauer Vertrag und NATO sollten "ihren Beziehungen schrittweise einen nichtkonfrontativen Charakter" verleihen und "aktiv an der Herausbildung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen mitwirken.

7.-8.6. - N A T O. In der schottischen Stadt Turnberry konferieren die Außenminister der Bündnisstaaten. Neben einem Kommuniqué wird eine "Botschaft von Turnberry" (Text in "Blätter", 7/1990, S. 894) veröffentlicht.

8.6. - U S A / B R D. Bundeskanzler Kohl führt in Washington ein Gespräch mit Präsident Bush. Anschließend erklärt Kohl vor der Presse, er sei sich mit Bush darin einig, daß das Ziel der "ZweiPlus-Vier"-Verhandlungen die Herstellung der vollständigen Souveränität eines geeinten Deutschland" sein müsse. - S ü d a f r i k a. Das seit vier Jahren geltende Ausnahmerecht wird in drei der vier Provinzen des Landes aufgehoben. In der Provinz Natal sollen die entsprechenden Bestimmungen weitere zwölf Monate in Kraft bleiben.

8.-9.6. - T s c h e c h o s l o w a k e i. Das tschechische "Bürgerforum" geht zusammen mit der slowakischen Organisation "Öffentlichkeit gegen Gewalt" als Sieger aus den Parlamentswahlen hervor. Die beiden Listen erhalten in der Volkskammer und in der Länderkammer (je 150 Sitze) mit 87 bzw. 83 Mandaten die absolute Mehrheit. Zweitstärkste Partei sind die Kommunisten mit 23 bzw. 24 Mandaten. Die Wahlbeteiligung liegt bei rund 96%. - Am 3.7. führt der in seinem Amt bestätigte Ministerpräsident Calfa in der Regierungserklärung aus, die CSFR wolle dem Europarat beitreten und strebe eine EG-Mitgliedschaft an.

9.6. - D e u t s c h l a n d f r a g e. Die USA, Großbritannien und Frankreich unterrichten die Bundesregierung über die Aufhebung ihrer Vorbehalte vom 12. Mai 1949 zu Art. 23 und Art. 144 Abs. 2 des Grundgesetzes. Damit erhalten die Vertreter Westberlins volles Stimmrecht in Bundestag und Bundesrat, Westberlin kann zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik an einer Bundestagswahl teilnehmen. - Am 12.6. regt der sowjetische Präsident Gorbatschow vor dem Obersten Sowjet in Moskau eine zeitweilige "assoziierte" Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in den beiden Militärbündnissen an. Dabei solle jedoch die Bundeswehr weiterhin der NATO unterstellt bleiben. Gorbatschow unterbreitet den Vorschlag in einem Bericht über seine Gespräche mit Präsident Bush in Washington (vgl. "Blätter", 7/1990, S. 774). Am 22.6. findet im Rahmen der "Zwei-Plus-Vier"-Verhandlungen in Berlin das zweite Treffen auf Außenministerebene statt (vgl. "Blätter", 6/1990, S. 646). DDR Außenminister Meckel teilt im Namen seiner Kollegen auf einer Pressekonferenz mit, man wolle "die Arbeit an der Lösung der gemeinsamen Probleme" beschleunigen, um "bis zum Gipfeltreffen der KSZE-Staaten eine Vereinbarung über die abschließenden völkerrechtlichen Regelungen zu den inneren und äußeren Aspekten der deutschen Einigung zu erreichen". Die sechs Außenminister hatten vor Beginn der Verhandlungen gemeinsam dem Abbruch des bisherigen Ausländerübergangs zwischen West- und Ost-Berlin am "Checkpoint Charly" beigewohnt und bei dieser Gelegenheit kurze Ansprachen gehalten. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse hatte in seiner Rede vorgeschlagen, innerhalb von sechs Monaten nach der Bildung eines gesamtdeutschen Parlaments alle alliierten Truppen aus dem Großraum Berlin abzuziehen.

11.6. - I s r a e l. Der amtierende Ministerpräsident Schamir (Likud-Block) bildet eine neue Koalitionsregierung, die im Parlament mit 62 gegen 57 Stimmen das Vertrauen erhält. Die Arbeitspartei hatte das Kabinett im März d.J. verlassen (vgl. "Blätter", 5/1990, S. 517). - Am 26.6. empfangen Präsident Herzog und Ministerpräsident Schamir in Jerusalem die beiden Parlamentspräsidentinnen Süßmuth (BRD) und Bergmann-Pohl (DDR), die sich zu einem gemeinsamen Besuch in Israel aufhalten. 

U S A / D D R. Präsient Bush empfängt im Weißen Haus DDR-Ministerpräsident de Maiziere. In Presseberichten heißt es, de Maiziere habe bei dieser Gelegenheit die Ansicht vertreten, Deutschland müsse vom Zeitpunkt seiner Vereinigung an volle Souveränität genießen und dürfe "keinerlei diskriminierenden Beschränkungen" unterliegen.

15.6. - B R D / D D R. Die Regierungen beider deutscher Staaten einigen sich auf eine "Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen" (Text in "Blätter", 7/1990, S. 880 ff.). - Am 17.6. findet im Schauspielhaus in Ost-Berlin eine gemeinsame Feierstunde von Abgeordneten der Volkskammer und des Bundestages zur Erinnerung an die Ereignisse vom 17. Juni 1953 statt. Nach Grußworten der beiden Präsidentinnen Bergmann-Pohl (Volkskammer) und Süßmuth (Bundestag) hält Manfred Stolpe, Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, die Gedenkrede (Text in "Blätter", 7/1990, S. 858 ff.). In einer anschließenden Sitzung der Volkskammer stellt die DSU-Fraktion überraschend einen Antrag auf "Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Art. 23 des Grundgesetzes mit dem heutigen Tag"; der Antrag wird an die Ausschüsse überwiesen. - Am 21.6. verabschieden der Bundestag in Bonn und die Volkskammer in Berlin den "Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" (Text in "Blätter", 7/1990, S. 862 ff.) sowie eine gemeinsame "Entschließung zur deutsch-polnischen Grenze" (Text in "Dokumente zum Zeitgeschehen"). Die Entscheidung über den Staatsvertrag fällt im Bundestag mit 444 gegen 60 Stimmen bei einer Enthaltung, in der Volkskammer mit 302 gegen 82 Stimmen bei einer Enthaltung. Die Nein-Stimmen kommen im Bundestag vor allem von den Grünen sowie von einigen SPD-Abgeordneten, in der Volkskammer von den Fraktionen der PDS und von Bündnis 90/Grüne. Die Entschließung über die Anerkennung der Westgrenze Polens wird im Bundestag gegen 15 Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion bei drei Enthaltungen angenommen, in der Volkskammer gibt es sechs Nein-Stimmen aus der DSU-Fraktion sowie 18 Enthaltungen. - Am 22.6. stimmt der Bundesrat, in dem die SPD-regierten Bundesländer (einschließlich Westberlins) nach dem Regierungswechsel in Niedersachsen über eine Mehrheit verfügen, dem Staatsvertrag zu. Nein-Stimmen werden nur von Niedersachsen und dem Saarland abgegeben. - Am 1.7. tritt der Staatsvertrag in Kraft. Die DDR gibt damit ihre Währungshoheit auf und übernimmt die D-Mark als alleiniges Zahlungsmittel. Die Innenminister Schäuble (BRD) und Diestel (DDR) unterzeichnen am gleichen Tag an der bayerisch-thüringischen Grenze ein Abkommen über die Aufhebung der Personenkontrollen zwischen beiden deutschen Staaten.

17.6. - D D R. Nach kontroverser Debatte verabschiedet die Volkskammer neue "Verfassungsgrundsätze" (Text in "Blätter", 7/1990, S. 878 f.). Das Gesetz ändert und ergänzt in wichtigen Punkten die Verfassung der DDR aus dem Jahre 1968.

B u l g a r i e n. Aus dem zweiten Wahlgang (erster Wahlgang am 10.6.) geht die regierende Bulgarische Sozialistische Partei, Nachfolgerin der Kommunistischen Partei, mit einer absoluten Mehrheit in der Volksversammlung (Parlament) hervor. Nach dem vorläufigen Endergebnis erhält die Sozialistische Partei 211 der 400 Mandate, die oppositionelle Union der demokratischen Kräfte erhält 144 Mandate.

20.6. - A b r ü s t u n g. Botschafter Nasarkin (UdSSR), Chefdelegierter bei den amerikanisch-sowjetischen START-Verhandlungen, fordert auf einem Kolloquium in Genf die Teilnahme Großbritanniens und Frankreichs an einem Abbau der strategischen Kernwaffen. Entsprechende Verhandlungen könnten "nicht endlos auf nur zweiseitiger Grundlage" geführt werden.

21.6. - N i e d e r s a c h s e n. Der neue Landtag (vgl. "Blätter", 7/1990, S. 773) wählt auf seiner konstituierenden Sitzung in Hannover den bisherigen Oppositionsführer Gerhard Schröder (SPD) mit 79 gegen 72 Stimmen bei zwei Enthaltungen und zwei ungültigen Stimmen zum Ministerpräsidenten. Schröder, der Nachfolger von Ernst Albrecht (CDU) ist, steht an der Spitze einer Koalition von SPD und Grünen. Entsprechend der Koalitionsvereinbarung vom 19.6. stellen die Grünen zwei der elf Kabinettsmitglieder.

25.6. - E G. Der Europäische Rat der Staats und Regierungschefs behandelt in Dublin den Fortgang der westeuropäischen Integration und begrüßt "die anstehen den Sondierungsgespräche mit einigen mittel- und osteuropäischen Ländern über Assoziierungsabkommen". Der Beginn von zwei Regierungskonferenzen über die Wirtschaftsund Währungsunion sowie über die Politische Union wird für Dezember d.J. in Rom festgesetzt. Als Gäste der EG-Präsidentschaft sind in der irischen Hauptstadt auch DDR-Ministerpräsident de Maiziere und DDR-Außenminister Meckel anwesend. - Am 4.7. hinterlegt Zypern in Brüssel den Antrag auf Vollmitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften.

26.6. - K S Z E. Vertreter von zehn Mittelmeerstaaten und der PLO beschließen in Algier, eine "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum" (KSZM) nach dem Vorbild der KSZE einzuberufen. Die algerische Regierung wird mit den Vorbereitungen beauftragt. - Am 29.6. einigen sich zum Abschluß des zweiten Treffens der "Konferenz über die menschliche Dimension" des KSZE-Prozesses in Kopenhagen (zur Eröffnung vgl. "Blätter", 7/1990, S. 774) die 35 Teilnehmerstaaten auf ein Schlußdokument, das weitreichende Prinzipien zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten festlegt. Ein besonderer Teil des Dokuments ist dem Schutz nationaler Minderheiten gewidmet. (Vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen".)

2.7. - U d S S R. Generalsekretär Gorbatschow eröffnet in Moskau den 28. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Auf der Tagesordnung stehen u.a. die Diskussion eines künftigen Parteiprogramms, der Entwurf eines neuen Statuts, das der KPdSU eine veränderte Führungsstruktur geben soll, sowie die Neuwahl des Zentralkomitees. In einem umfangreichen Rechenschaftsbericht verteidigt Gorbatschow vor den 4600 Delegierten nachdrücklich die Politik der Umgestaltung und plädiert für eine "tiefgreifende Reform der Gesellschaft unter den Bedingungen politischer Stabilität", für "grundlegende Veränderungen im Wirtschaftssystem", für die strikte Trennung von Staat und Partei sowie für neue "Beziehungen zu den anderen politischen Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen". In der anschließenden Debatte kommen gegensätzliche Standpunkte und tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck.

- J u g o s l a w i e n. Das slowenische Parlament verabschiedet in Ljubljana mit großer Mehrheit eine "Deklaration über die Souveränität des Staates Slowenien". In Presseberichten heißt es, die Republik strebe damit unabhängig vom jugoslawischen Bundesstaat eine eigene Außen, Wirtschafts-, Rechts- und Informationspolitik an. Bundesgesetze seien für Slowenien nicht mehr in jedem Falle bindend.

3.7. - I r a n / I r a k. Erstmals seit Beendigung des Krieges zwischen beiden Ländern treffen die Außenminister Aziz (Irak) und Velayati (Iran) in Genf zu einem direkten Gespräch zusammen. Die bisherigen Kontakte hatten indirekt durch Vermittlung der Vereinten Nationen stattgefunden. Der Begegnung in Genf war ein Briefwechsel zwischen dem irakischen Präsidenten Hussein und dem iranischen Präsidenten Rafsanjani vorausgegangen.

5.7. - I t a l i e n. Das Außenministerium entwickelt in einem informellen Arbeitspapier zum NATO-Gipfel in London (5.-6.7.) Überlegungen zur Zukunft des westlichen Bündnisses. Nach den radikalen Veränderungen des vergangenen Jahres gehe es darum, von der Phase des Dialogs zur Phase der Zusammenarbeit mit Osteuropa und zu einer progressiven Integration Gesamteuropas überzugehen. Ziel sei ein einziges paneuropäisches Sicherheitssystem. Die NATO solle die Bereitschaft bekunden, mit allen osteuropäischen Staaten Garantieverträge abzuschließen, gleichgültig, ob diese dem Warschauer Vertrag angehörten oder nicht.

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