Ausgabe Februar 1990

Chronik vom 4. Dezember 1989 bis 5. Januar 1990

4.12. - W a r s c h a u e r V e r t r a g. KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow unterrichtet in Moskau die führenden Repräsentanten der Teilnehmerstaaten über seine vorangegangenen Gespräche mit US-Präsident Bush (vgl. "Blätter", 1/1990, S. 6). Gleichzeitig wird eine Erklärung Bulgariens, Ungarns, der DDR, Polens und der UdSSR veröffentlicht, die den "Einmarsch von Truppen ihrer Staaten 1968 in die CSSR" verurteilt. Die sowjetische Regierung gibt dazu noch eine gesonderte Stellungnahme ab (Texte in "Blätter", 1/1990, S. 128).

5.12. - D D R / B R D. Bundesminister Seiters reist erneut in die DDR (vgl. "Blätter", 1/1990, S. 4 f.), um einen Besuch von Bundeskanzler Kohl vorzubereiten. Ministerpräsident Modrow unterrichtet Seiters über einen Beschluß der DDR-Regierung, ab 1. Januar 1990 den Visumzwang sowie den Pflichtumtausch für Bürger der Bundesrepublik und von Berlin (West) aufzuheben. Für Reisen von Bürgern der DDR in die Bundesrepublik und nach Westberlin soll ein gemeinsamer Devisenfonds eingerichtet werden. - Am 12.12. vereinbaren der Regierende Bürgermeister Momper und Oberbürgermeister Krack mit Ministerpräsident Modrow die Bildung eines Regionalausschusses, in dem neben Vertretern der beiden Berliner Stadtregierungen auch Vertreter der umliegenden DDR-Bezirke mitarbeiten sollen. - Am 17.12. führt Modrow am Rande einer Veranstaltung der evangelischen Kirche in Potsdam ein Gespräch mit Bundespräsident v. Weizsäcker. - Vom 19.-20.12. konferiert Bundeskanzler Kohl in Dresden mit Ministerpräsident Modrow. In einer gemeinsamen Absichtserklärung wird der Abschluß eines Vertrages über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft zwischen beiden Staaten als anzustrebendes Fundament einer Vertragsgemeinschaft genannt (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen"). - Am 22.12. wird in Anwesenheit von Kohl und Modrow sowie der beiden Bürgermeister Momper und Krack das Brandenburger Tor als Übergang zwischen beiden Teilen Berlins geöffnet.

6.12. - D D R. Der zurückgetretene SED-Generalsekretär Egon Krenz legt auch den Vorsitz des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates nieder (vgl. "Blätter", 12/1989, S. 1418 f. und 1/1990, S. 4). Mit der Wahrnehmung dieser Funktionen wird der stellvertretende Staatsratsvorsitzende Manfred Gerlach (LiberalDemokratische Partei/LDPD) beauftragt. Der Staatsrat erläßt eine Amnestie. - Am 7.12. beginnen in Berlin die "Gespräche am Runden Tisch", an denen Vertreter der Regierungsparteien, der Gewerkschaften, der Kirchen und der verschiedenen Oppositionsgruppen teilnehmen. Beschlossen wird u.a. die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Als Termin für die Wahlen zur Volkskammer empfehlen die Teilnehmer den 6. Mai 1990. - Am 8./9.12. und 16./17.12. findet in Berlin ein außerordentlicher Parteitag der SED statt, bei dem es auch um Forderungen nach Auflösung und Neugründung sowie um eine Namensänderung geht. Mit großer Mehrheit beschließen die 2753 Delegierten, den Namen der Partei zu ergänzen: "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands/Partei des Demokratischen Sozialismus" (SED-PDS). Die Bezeichnungen Zentralkomitee, Politbüro und Generalsekretär werden abgeschafft, neue Organe (Parteivorstand, -präsidium, -vorsitzender) eingeführt. Der Parteitag wählt Rechtsanwalt Gregor Gysi zum Parteivorsitzenden und Ministerpräsident Modrow zu einem der Stellvertreter.

7.12. - C S S R. Das nur wenige Tage amtierende Kabinett unter Ministerpräsident Adamec tritt zurück (vgl. "Blätter", 1/1990, S. 5 f.). Staatspräsident Gustav Husak vereidigt am 10.12. eine neue Regierung, an deren Spitze der bisherige stellvertretende Ministerpräsident Marian Calfa steht und in der die Kommunistische Partei nur noch eine Minderheit stellt. Anschließend legt Husak sein Amt nieder.- Am 20.12. wird auch der erst im November d.J. berufene KP Generalsekretär Urbanek abgelöst. Auf einem Sonderparteitag in Prag übernimmt der bisherige Ministerpräsident Adamec die neugeschaffene Funktion eines Parteivorsitzenden. - Am 28.12. wählt die Bundesversammlung (Parlament) bei nur einer Gegenstimme den früheren Parteisekretär Alexander Dubcek zu ihrem Vorsitzenden und am 29.12. einstimmig den Dramatiker Vaclav Havel zum Präsidenten der Republik. Havel, eines der Gründungsmitglieder der Menschenrechtsgruppe "Charta 77", tritt die Nachfolge von Husak an. Die erste Auslandsreise führt den neuen Präsidenten am 2.1. in die beiden deutschen Staaten.

9.12. - E G. Die Staats- bzw. Regierungschefs der zwölf Mitgliedstaaten veröffentlichen nach einem Treffen in Straßburg (8.-9.12.) eine gemeinsame Erklärung, in der es u.a. heißt: "Wir streben einen Zustand des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk seine Einheit durch freie Selbstbestimmung wieder erlangt. Dieser Prozeß muß sich auf demokratische und friedliche Weise unter Wahrung der Abkommen und Verträge auf Grundlage sämtlicher in der Schlußakte von Helsinki niedergelegten Grundsätze und im Zusammenhang von Dialog und Ost-West-Kooperation vollziehen." - Am 14.12. heißt es in einer Entschließung des Europäischen Parlaments, die Bundesregierung solle "unverzüglich und unzweideutig" die polnische Westgrenze anerkennen, "um nicht das Schreckgespenst eines Deutschlands heraufzubeschwören, das seine Grenzen von 1937 fordert".

10.12. - U d S S R. Generalsekretär Gorbatschow erklärt vor dem KPdSU-Zentralkomitee, ein Abgehen von den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Realitäten gefährde die Stabilität in Europa. Deshalb müsse weiter von der Existenz "zweier souveräner deutscher Staaten ausgegangen werden". - Am 20.12. proklamiert die Kommunistische Partei Litauens ihre Unabhängigkeit. In einer von einem Sonderparteitag in der Hauptstadt Vilnius verabschiedeten Entschließung heißt es, die KP Litauens werde künftig mit der KPdSU gleichberechtigte Beziehungen unterhalten, wie "mit allen demokratischen und fortschrittlichen Parteien und Bewegungen". Am 24.12. erklärt der in Moskau tagende Kongreß der Volksdeputierten das geheime Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR vom 23. August 1939 für null und nichtig. Außerdem verurteilt der Kongreß die Militärintervention in Afghanistan vom Dezember 1979. Der Befehl zum Einmarsch gehe auf eine "extreme Ideologisierung der damaligen sowjetischen Außenpolitik" zurück.

11.-12.12. - B e r l i n (W e s t). Erstmals seit Abschluß des Berliner Vier-Mächte-Abkommen vom 3. September - 1971 (Text in "Blätter", 10/1971, S. 1091 ff.) treten die Botschafter der drei Westmächte in Bonn sowie der sowjetische Botschafter in der DDR Hauptstadt zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen. Die Begegnung findet in Westberlin im Gebäude des ehemaligen Alliierten Kontrollrats statt; Einzelheiten werden nicht mitgeteilt. In Presseberichten heißt es, die Initiative sei von sowjetischer Seite ausgegangen.

12.12. - U S A. Außenminister Baker erläutert in einer Rede in Westberlin die amerikanische Europapolitik. Der Minister fordert eine vermehrte politische Rolle für die NATO und setzt sich für engere Beziehungen der USA zu den Europäischen Gemeinschaften ein. Die durch die Teilung Europas gekennzeichnete Nachkriegszeit gehe ihrem Ende entgegen. Baker besucht anschließend als erster amerikanischer Außenminister die DDR und führt in Potsdam ein Gespräch mit Ministerpräsident Modrow.

14.12. - C h i l e. Aus den ersten Präsidentschaftswahlen seit 1970 geht Patricio Aylwin als Sieger hervor. Aylwin (Christdemokrat) ist Kandidat der "Concertacion por la Democracia" und erhält 55,2% der Stimmen. In einer Volksabstimmung hatte die Bevölkerung im Oktober 1988 die Verlängerung der Amtszeit von General Pinochet abgelehnt (vgl. "Blätter", 12/1988, S. 1412). Bei einem ersten Gespräch mit dem neuen Präsidenten am 21.12. weigert sich Pinochet, das Oberkommando über das Heer abzugeben.

18.-20.12. - S P D. Die Sozialdemokratische Partei hält ihren wegen der Ereignisse in der DDR kurzfristig von Bremen nach Westberlin verlegten Programmparteitag ab, auf dem sich prominente Redner, unter ihnen der Ehrenvorsitzende Brandt sowie der Regierende Bürgermeister Momper, ausführlich zur Deutschlandpolitik äußern. Der Parteivorsitzende Vogel legt dazu einen SiebenPunkte-Plan vor, der den Gedanken einer Konföderation zwischen beiden deutschen Staaten aufgreift. Bei nur einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen verabschieden die Delegierten das neue Grundsatzprogramm ("Berliner Programm"), das vom stellvertretenden Vorsitzenden Lafontaine begründet wird.

19.12. - N A T O / W a r s c h a u e r V e r t r a g. Erstmals besucht ein Minister des östlichen Militärbündnisses das NATO-Hauptquartier: Während eines Aufenthalts in der belgischen Hauptstadt führt der sowjetische Außenminister Schewardnadse ein Gespräch mit NATO-Generalsekretär Wörner.

20.12. - P a n a m a / U S A. Auf Anordnung von Präsident Bush unternehmen die in der Panama-Kanalzone stationierten amerikanischen Streitkräfte eine Militäraktion, um den Staatschef des Landes, General Manuel Antonio Noriega festzunehmen, der von den USA des grenzüberschreitenden Drogenhandels beschuldigt wird. Die USLuftwaffe bombardiert mehrere Stadtviertel von Panama-City, in denen der General vermutet wird. Noriega, der zunächst untertaucht und sich später vorübergehend in die exterritoriale Vertretung des Vatikan flüchtet, wird am 3.1. festgenommen, nach Miami geflogen und dort unter Anklage gestellt. Als neues Staatsoberhaupt von Panama wird von den USA Oppositionsführer Guillermo Endara anerkannt, der sich als Sieger der von Noriega annullierten Wahlen vom Mai d.J. bezeichnet (vgl. "Blätter", 7/1989, S. 778)

22.12. - R u m ä n i e n. Nach dem massiven Einsatz bewaffneter Sicherheitskräfte zur Niederschlagung regimefeindlicher Demonstrationen, in Presseberichten ist von vielen tausend Toten die Rede, wird der Präsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Nicolae Ceausescu (vgl. "Blätter", 1/1990, S. 6) gestürzt. Unter dem Schutz der Armee übernimmt in Bukarest eine Nationale Rettungsfront ("Frontul Salvarii National") die Macht. Zwischen Teilen der Armee und Kommandos der Sicherheitspolizei "Securitate" kommt es zu Kämpfen, die zeitweise den Charakter eines Bürgerkrieges annehmen. Ceausescu und seine Frau Elena, die ebenfalls wichtige Parteifunktionen bekleidete, werden am 25.12. von einem geheimen Militärtribunal zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet. Die Anklage lautet auf Völkermord, Unterminierung der Staatsgewalt, Zerstörung der Volkswirtschaft, Diebstahl öffentlichen Eigentums und Devisenschmuggel. Weitere Mitglieder der Familie Ceausescu und Mitglieder der bisherigen Staats- und Parteiführung werden in Haft genommen. Der Rat der Nationalen Rettungsfront bestimmt Ion Iliescu zum provisorischen Präsidenten (Staatsoberhaupt) und beauftragte Petre Roman mit der Führung der Regierung (Ministerpräsident). Der Rat, der mit außerordentlichen Vollmachten und gesetzgeberischen Kompetenzen ausgestattet ist, verfügt die Aufhebung verschiedener Gesetze, die Entwaffnung und Auflösung der "Securitate", erlaubt die Bildung von Parteien und die Herausgabe unabhängiger Zeitungen, kündigt die Vorbereitung von Wahlen an und trifft erste Maßnahmen zur Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung. Die Todesstrafe wird abgeschafft. Der Name des Staates (bisher: "Sozialistische Republik Rumänien") soll künftig "Rumänien" lauten.

29.12. - P o l e n. Die "Volksrepublik Polen" kehrt zu ihrem früheren Namen "Republik Polen" zurück. Einen entsprechenden Beschluß faßt das Parlament in Warschau bei einer Gegenstimme und elf Enthaltungen. In der geänderten Verfassung wird Polen nicht mehr als sozialistischer Staat, sondern als demokratischer Rechtsstaat bezeichnet.

2.1. - I s r a e l. Mit einem Kompromiß wird eine Regierungskrise zwischen dem Likud-Block unter Ministerpräsident Schamir und der Arbeiterpartei beigelegt. Wissenschaftsminister Ezer Weizwan (Arbeiterpartei) muß wegen seiner "verbotenen Kontakte zur PLO" das innere Kabinett verlassen, behält aber sein Ministeramt.

3.1. - B u l g a r i e n. Zwischen Vertretern der Kommunistischen Partei, der Bauernpartei sowie der in der "Union der demokratischen Kräfte" zusammengeschlossenen Opposition beginnen in Sofia "Gespräche am Runden Tisch" (vgl. "Blätter", 1/1990, S. 5). In Presseberichten heißt es, die KP habe zuvor der Streichung von Artikel 1 der Verfassung zugestimmt, der ihre führende Rolle festschreibt.

4.-5.1. - U n g a r n / S ü d a f r i k a. Außenminister Botha führt in Budapest einen Meinungsaustausch mit dem ungarischen Außenminister Horn; es handelt sich um den ersten offiziellen Besuch eines südafrikanischen Regierungsmitglieds in einem Land des Warschauer Vertrages. Horn erklärt dazu, Ungarn wende sich weiterhin gegen alle Formen der Apartheid. Der Dialog sei das zweckmäßigste Mittel zur Lösung von internationalen Problemen. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen stehe derzeit nicht auf der Tagesordnung.

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