Ausgabe Dezember 1991

Chronik vom 6. Oktober 1991 bis 5.November 1991

7.10. - T s c h e c h o s l o w a k e i / B R D. Während eines Staatsbesuches von Bundespräsident v. Weizsäcker paraphieren der tschechoslowakische Außenminister Dienstbier und Bundesaußenminister Genscher in Prag den Text eines Nachbarschaftsvertrages. Das neue Abkommen soll den "Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen" aus dem Jahre 1973 (Text in "Blätter", 7/1973, S. 790 ff.) ersetzen.

8.10. - J u g o s l a w i e n. UN-Generalsekretär Perez de Cuellar ernennt Cyrus Vance, amerikanischer Außenminister in den Jahren 1977 bis 1980, zum Sonderbeauftragten für Jugoslawien. Vance soll die vom Sicherheitsrat unternommenen Vermittlungsbemühungen (Resolution vom 25. September d.J.) unterstützen. - Am 18.10. drücken die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften in einer gemeinsamen Erklärung ihre tiefe Sorge über die Entwicklung in Jugoslawien aus und fordern ein Ende der Kampfhandlungen sowie die strikte Einhaltung eines Waffenstillstands. Der Konflikt müsse unter Anwendung der KSZE-Prinzipien im Hinblick auf die Grenzen, die Rechte der Minderheiten und den politischen Pluralismus beigelegt werden. Die Erklärung wird gleichzeitig in Den Haag, Washington und Moskau veröffentlicht. Zuvor hatten die EG-Vertreter auf der Friedenskonferenz in der niederländischen Hauptstadt (zur Eröffnung vgl. "Blätter", 11/1991, S. 1284 f.) einen Plan zur Schaffung einer Konföderation unabhängiger Staaten in Jugoslawien vorgelegt. Vorbehalte werden vor allem vom serbischen Präsidenten Milosevic angemeldet. - Am 25.10. erörtert die Friedenskonferenz in Den Haag unter Vorsitz von Lord Carrington (Großbritannien) Möglichkeiten zum Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte in einer Föderation jugoslawischer Republiken. Carrington erklärt nachdrücklich, der Vertragsentwurf der Europäischen Gemeinschaften gehe davon aus, daß ein Zentralstaat Jugoslawien nicht mehr existiere. Am 5.11. unterbreiten Serbien und Montenegro auf einer weiteren Plenarsitzung der Haager Konferenz einen Alternativvorschlag zum EG-Friedensplan, der vom Fortbestand des jugoslawischen Staates ausgeht. Durch Vermittlung von Lord Carrington wird zwischen den Verteidigungsministern und Militärs der 12. Waffenstillstand vereinbart. Carrington macht die Fortsetzung der Konferenz von der Erhaltung der Waffenruhe abhängig. 8.-18.10. - K S Z E. Führende Militärs aus den 38 Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) halten in Wien ein Seminar über Militärdoktrinen ab. In Presseberichten heißt es, nach der Auflösung des Warschauer Vertrages und dem fortschreitenden Rückzug der sowjetischen Truppen aus Mitteleuropa müßten neue militärische Konzepte gefunden werden.

9.10. - B u l g a r i e n / B R D. Der bulgarische Außenminister Viktor Walkow und Bundesaußenminister Genscher unterzeichnen in Sofia einen "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa". Der Vertrag sieht "Konsultationen auf allen Ebenen über wichtige Fragen der internationalen Politik, der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sowie der bilateralen Beziehungen" vor.

10.10. - K u b a. Zur Eröffnung des IV. Parteitags der Kommunistischen Partei Kubas in Santiago de Cuba (10.-14.10.) erklärt Ministerpräsident Fidel Castro vor den rd. 2000 Delegierten, das Land befinde sich nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers in Osteuropa in einer schweren Krise. Kuba werde seine Unabhängigkeit "in einem Meer des Kapitalismus" verteidigen, die revolutionären Ideale erhalten und das sozialistische System perfektionieren.

11.10. - N a h e r O s t e n. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stimmt in New York einem zeitlich unbefristeten Überwachungsmechanismus zur Kontrolle des irakischen Waffen- und Rüstungspotentials zu. Der Irak bezeichnet die vom Sicherheitsrat verabschiedete Resolution als unzulässigen Eingriff in seine Souveränität. - Am 18.10. laden die USA und die UdSSR gemeinsam zu einer Nahost-Friedenskonferenz nach Madrid ein. Eine entsprechende Mitteilung machen die beiden Außenminister Baker und Pankin auf einer Pressekonferenz in Jerusalem. In dem Einladungsschreiben heißt es u.a., die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion seien "nach ausführlichen Konsultationen mit den arabischen Staaten, Israel und den Palästinensern" der Auffassung, daß "eine historische Gelegenheit" bestehe, "zu einem wirklichen Frieden in der gesamten Region zu gelangen". Diesem Ziel "sollen direkte Verhandlungen auf zwei Ebenen zwischen Israel und den arabischen Staaten sowie zwischen Israel und den Palästinensern" dienen. - Am 19.10. erklärt Außenminister Pankin nach einem Gespräch mit dem syrischen Präsidenten Asad in Damaskus, die Sowjetunion strebe entsprechend der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates eine Rückgabe der von Israel besetzten Gebiete an. Vom 19.-23.10. findet auf Einladung der iranischen Regierung in Teheran eine "Internationale Konferenz für die Unterstützung der islamischen Revolution des palästinensischen Volkes" statt. Zu den Rednern, die sich alle gegen eine Teilnahme an der bevorstehenden Nahost-Friedenskonferenz in Madrid wenden, gehören der iranische Präsident Rafsanjani sowie der Vorsitzende der Volksfront zur Befreiung Palästinas, Ahmad Jibrils. Ein ständiges Sekretariat in Teheran soll künftige Aktivitäten koordinieren. - Am 20.10. stimmt das Kabinett in Jerusalem mit 17 gegen 3 Stimmen der Teilnahme Israels an der Friedenskonferenz in Madrid zu. Eine der Gegenstimmen kommt von dem für die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten zuständigen Wohnbauminister Scharon, der dem regierenden Likud-Block angehört. - Am 23.10. halten die fünf nach Madrid eingeladenen arabischen Teilnehmer in Damaskus eine Sitzung ab, um einheitliche Positionen festzulegen. Vertreten sind Syrien, Ägypten, Jordanien, der Libanon sowie die Palästinensische Befreiungs-Organisation (PLO), die mit Jordanien eine gemeinsame Delegation bildet. - Am 30.10. eröffnen der amerikanische Präsident Bush und der sowjetische Präsident Gorbatschow in Madrid die Friedenskonferenz über den Nahen Osten. Zunächst werden von den beteiligten Seiten Grundsatzerklärungen abgegeben. Der israelische Ministerpräsident Schamir bekräftigt die bisherige Haltung seiner Regierung, äußert sich jedoch nicht konkret zur Frage eines Rückzuges aus den besetzten Gebieten. Der Sprecher der Palästinenser in der gemeinsamen palästinensich-jordanischen Delegation, Haider Abdeshshafi, fordert die Errichtung eines mit Jordanien konföderierten Palästinenserstaates mit Jerusalem als Hauptstadt. Zunächst seien die Palästinenser jedoch bereit, eine Übergangsregelung zu akzeptieren. Nach Beendigung der ersten Plenarsitzungen am 1.11. beginnen noch in Madrid zweiseitige Gespräche zwischen der israelischen Delegation und den arabischen Teilnehmern. Über Ort und Zeitpunkt der nachfolgenden Verhandlungen wird zunächst keine Einigung erzielt. Am 5.11. kritisiert der amerikanische Außenminister Baker die israelische Regierung wegen der Grundsteinlegung für eine neue jüdische Siedlung auf den Golan-Höhen. Derzeit seien vor allem Schritte notwendig, um die begonnenen Verhandlungen in einem positiven Klima fortzusetzen.

14.10. - B R D / F r a n k r e i c h. In einem gemeinsamen Schreiben an den amtierenden EG-Ratsvorsitzenden, den niederländischen Ministerpräsidenten Lubbers, kündigen Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand eine engere Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet an. Die Bildung "verstärkter deutsch-französischer Einheiten" könne "den Kern für ein europäisches Korps bilden", das auch Streitkräften anderer Mitgliedstaaten der Westeuropäischen Union (WEU) offenstehe.

18.10. - U d S S R. Vertreter von acht bisherigen Sowjetrepubliken unterzeichnen im großen Kremlpalast in Moskau einen Vertrag über die Bildung einer neuen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Ukraine sowie die Republik Aserbeidschan treten dem Vertrag, der auch die Unterschrift von Präsident Gorbatschow trägt, zunächst nicht bei. - Am 21.10. warnt Präsident Gorbatschow auf der Eröffnungssitzung des Obersten Sowjets in Moskau vor einem endgültigen Auseinanderbrechen der Union, das katastrophale Folgen haben werde. Er optiere nach wie vor für eine Union, die die Souveränität der Republiken garantiere und in der ein einheitlicher Wirtschaftsraum mit Unionsbehörden erhalten bleibe. An der Sitzung nehmen nur Abgeordnete aus sieben von zwölf Republiken teil: Armenien, Georgien und die Ukraine sind nicht vertreten, Moldawien und Aserbeidschan entsenden lediglich Beobachter. Das Parlament von Aserbeidschan setzt am gleichen Tag die Unabhängigkeit der Republik formell in Kraft. Mit dem entsprechenden Gesetz werden alle Verpflichtungen aus Verträgen seit dem Jahre 1920 aufgehoben. - Am 1.11. wird die Auflösung von rd. 80 Unionsministerien zum 15.11. verfügt. Ausgenommen sind u.a. das Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium sowie die Verwaltung für Eisenbahn und Energieversorgung. 

I s r a e l / U d S S R. Nach einer Unterbrechung von mehr als zwei Jahrzehnten (vgl. "Blätter", 7/1967, S. 645 f.) nehmen beide Regierungen die diplomatischen Beziehungen wieder auf. Eine entsprechende Mitteilung machen der sowjetische Außenminister Pankin und sein israelischer Kollege Levi auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Israel. 22.10. - E W R. Die zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (EG) und die sieben Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandels-Assoziation (EFTA) schließen in Luxemburg nach langen Verhandlungen ein Abkommen über die Bildung eines Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR). Der amtierende EFTA-Ratsvorsitzende Pertti Salolainen (Finnland) erklärt nach der Unterzeichnung, damit werde "der größte integrierte Wirtschaftsraum" von gleichartigen Industriestaaten geschaffen, der mehr als 380 Mill. Einwohner umfasse. Das umfangreiche Vertragswerk, das die EFTA-Staaten u.a. verpflichtet, einen großen Teil der EG-Rechtsnormen zu übernehmen, bedarf der Ratifizierung durch die beteiligten 19 Staaten und soll am 1. Januar 1993 zugleich mit dem EG-Binnenmarkt wirksam werden.

23.10. - K a m b o d s c h a. In Anwesenheit des französischen Staatspräsidenten Mitterrand, des UN-Generalsekretärs Perez de Cuellar und der Außenminister der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wird in Paris ein umfassendes Friedensabkommen unterzeichnet. Der Vertrag sieht internationale Garantien für die Bildung eines demokratischen Kambodscha vor, dessen Staatsautorität zunächst eine Aufsichtsbehörde der Vereinten Nationen (United Nations Transitional Authority in Cambodia/UNTAC) übernehmen soll. Die kambodschanische Seite repräsentiert ein Nationaler Staatsrat (Supreme National Council/SNC; vgl. "Blätter", 11/1990, S. 1284) unter Vorsitz des früheren Staatsoberhaupts Prinz Sihanouk. In Presseberichten heißt es, erstmals werde ein Teil der Regierungsgewalt in einem Staat direkt von den Vereinten Nationen ausgeübt.

24.10. - K o r e a. Die Ministerpräsidenten Yon Hyong Muk (Demokratische Volksrepublik Korea/Nordkorea) und Chung Won Shik (Republik Korea/Südkorea) einigen sich in der Hauptstadt Pjöngjang (Nordkorea) auf die Ausarbeitung eines Aussöhnungsvertrages zwischen beiden Staaten. Über strittige Fragen soll weiter verhandelt werden.

27.10. - P o l e n. Bei der Parlamentswahl, an der sich 65 Listen beteiligen, kann keine der Parteien eine regierungsfähige Mehrheit erreichen. Stärkste Partei ist mit 14,5% die Demokratische Union (UD) des früheren Ministerpräsidenten Mazowiecki, gefolgt vom Bündnis der Demokratischen Linken (12,1%), das aus der früheren Regierungspartei, der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei (PVAP) hervorgegangen ist; 18 Parteien ziehen in den Sejm ein. Die Wahlbeteiligung liegt bei nur rd. 40%. 29.10. - W E U. Die Außen- und Verteidigungsminister der Westeuropäischen Union (WEU) beraten unter Vorsitz von Bundesaußenminister Genscher in Bonn über das Konzept einer künftigen europäischen Streitmacht. Ein deutsch-französischer Vorschlag zu diesem Thema sieht vor, eine solche Streitmacht zum militärischen Arm einer künftigen Europäischen Politischen Union auszubauen. Der WEU gehören alle EG-Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Dänemark, Griechenland und Irland an. -

U d S S R / U S A. Präsident Gorbatschow und Präsident Bush treffen sich am Vorabend der Nahost-Friedenskonferenz in Madrid zu einem Meinungsaustausch. Es handelt sich um das erste Treffen der beiden Politiker seit dem gescheiterten Putsch in Moskau (vgl. "Blätter", 10/1991, S. 1158 ff.). Auf einer Pressekonferenz wird mitgeteilt, man wolle Verhandlungen über "zusätzliche Schritte" zur nuklearen Abrüstung aufnehmen. Gorbatschow unterbricht den Rückflug nach Moskau zu Gesprächen mit dem französischen Präsidenten Mitterrand in dessen Landbaus in Südwestfrankreich.

5.11. - A b r ü s t u n g. Die sowjetische Delegation bei den in Wien geführten Verhandlungen über einen "Offenen Himmel" (Open Sky) stimmt Kontrollflügen zur Überwachung von Abrüstungsvereinbarungen über dem gesamten Territorium der UdSSR zu. In Presseberichten heißt es, damit sei der Weg zur Ausarbeitung eines entsprechenden Vertrages frei.

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