Der Rücktritt des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse am 20.Dezember 1990: Eduard Schewardnadses ungehaltene Rede vom 20.Dezember 1990, Bericht der Moskowskije Nowosti über ein Gespräch mit dem zurückgetretenen Außenminister am Jahreswechsel (Wortlaut)
Am 20. Dezember 1990 erklärte der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse vor dem Kongreß der Volksdeputierten überraschend seinen Rücktritt. „Mein Rücktritt ist meine Flagge, die meinen Protest gegen die fortschreitende Diktatur ausdrücken soll", erklärte Schewardnadse zur Begründung. „Die Diktatur gewinnt an Boden. Die Reformer haben die Bühne verlassen. Niemand weiß, welche Art von Diktatur das sein wird und wer der Diktator sein wird." Er werde weiterhin die „Ideen der Perestroika, der Erneuerung und Demokratie" unterstützen und glaube, daß diese sich durchsetzen werden. Der Sprecher des Außenministeriums, Witali Tschurkin, erklärte, eine solche Entscheidung „ wird nicht leichten Herzens getroffen", sie habe Schewardnadse „viele schlaflose Nächte gekostet", der Minister sei jedoch davon überzeugt, daß er ein solches Opfer bringen müsse, „um die Errungenschaften dieser jungen Demokratie zu bewahren". Alexander Jakowlew, wie Schewardnadse einer der Weggefährten der ersten Stunde bei Gorbatschows Wende zu Glasnost und Perestroika 1985, nannte den Schritt des Außenministers das Resultat einer „Offensive der reaktionären Kräfte" und betonte: „Wir sind Zeugen einer heranrollenden rachsüchtigen und gnadenlosen konservativen Welle." Sowohl Schewardnadse als auch Jakowlew hatten bereits bei der letzten Neuwahl des Politbüros auf eine erneute Kandidatur verzichtet. Präsident Gorbatschow verurteilte den Rücktritt Schewardnadses, den er für das neugeschaffene Amt des Vizepräsidenten habe vorschlagen wollen. Der Außenminister blieb bis zur Ernennung seines Nachfolgers Besmertnych am 15. Januar 1991 im Amt. (Zitate nach „Die Welt" vom 21.12.1990) Nachstehend veröffentlichen wir zwei Texte zur Verdeutlichung der Positionen Schewardnadses. D. Red.
Bericht der „Moskowskije Nowosti" über ein Gespräch mit dem zurückgetretenen Außenminister am Jahreswechsel (Wortlaut)
In ihrer ersten Ausgabe nach dem Jahreswechsel berichtet die Wochenzeitung „Moskowskije Nowosti" über ein Gespräch ihres Chefredakteurs Jegor Jakowlew mit dem am 20. Dezember zurückgetretenen sowjetischen Außenminister. Nachstehend der Wortlaut des Berichts (in der Wiedergabe der „tageszeitung" vom 10.1.1991). D. Red.
Schewardnadse betonte, daß seine Rücktrittsentscheidung nichts mit seinem Verhältnis zu Michail Gorbatschow zu tun habe, das im übrigen seit langen Jahren vertrauensvoll sei. Sein Entschluß sei auch nicht Ergebnis einer momentanen Emotion gewesen. Die Gründe lägen woanders:
„Der bisherige außenpolitische Kurs der Sowjetunion hat Früchte getragen, die auf einer Interessenbalance und gegenseitiger Partnerschaft fußen und erste Wirkungen zeigen. Ich habe mich bemüht, niemanden zu täuschen, und ich habe darauf geachtet, daß man auch mich nicht betrügt. Das ist mir gelungen. Doch schließlich bin ich zu folgender Überzeugung gelangt: Sollte sich die Destabilisierung des Landes fortsetzen und der Demokratisierungsprozeß zum Erliegen kommen, dann ließe sich damit auch der bisherige außenpolitische Kurs nicht mehr weiterverfolgen. Die Entwicklung der Ereignisse könnte zu einer Wiederholung dessen führen, was in Tbilissi oder Baku geschehen ist - über was für ein neues Denken läßt sich dann noch reden.
Natürlich, wir werden wie früher bestrebt sein, die Beziehungen mit allen Ländern auszubauen. Nur, ob unsere Partner das dann noch wollen? Sie können nicht die öffentliche Meinung in ihren Ländern außer acht lassen.
Alle sind sich darin einig, daß das Land in einer Krise steckt - Chaos und Anarchie brechen herein. Und in solch einer Zeit stellen viele die Möglichkeit einer Diktatur in Abrede. Ich dagegen glaube: Wenn es dem Land nicht gelingt, die Krise zu überwinden, dann wird eine Diktatur unausweichlich. Was könnte ein Ausweg sein? Das Volk und die Völker müssen sich wieder zusammenfinden. Und das sollten vor allem die demokratischen Kräfte in Angriff nehmen - um die Demokratie zu erhalten, die Souveränitätsbestrebungen, die heute formuliert werden, zu bewahren und um unser aller Rettung wegen. Dramatisiere ich? Nein, ich glaube nicht. [...]
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