Ausgabe Mai 1991

Chronik vom 6. März 1991 bis 5. April 1991

6.3. - I n d i e n. Premierminister Chandra Shekhar, der seit November v.J. an der Spitze eines Minderheitskabinetts steht, gibt im Parlament seinen Rücktritt bekannt. Hintergrund ist die bekanntgewordene polizeiliche Überwachung des ehemaligen Regierungschefs Rajiv Gandhi. Präsident Venkataraman löst am 13.3. das Parlament auf und setzt vorzeitige Neuwahlen für Mai d.J. an.

- N a h e r O s t e n. Der amerikanische Präsident Bush erklärt vor dem Kongreß in Washington, er werde sich nach Beendigung des Golfkrieges aktiv für eine Lösung des arabisch-israelischen Konflikts einsetzen. Die Bereitschaft beider Seiten zum Kompromiß sei eine Grundvoraussetzung. Bush befürwortet eine weitere amerikanische Flotten- und Luftwaffenpräsenz im Nahen Osten, nicht jedoch eine dauernde Stationierung von Bodentruppen. Zur Entwicklung geeigneter Aktionspläne werde Außenminister Baker die Nahostregion besuchen und außerdem zu Konsultationen nach Moskau reisen. Die im Golf-Kooperationsrat zusammengeschlossenen sechs Staaten (Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate) sowie Ägypten und Syrien geben am gleichen Tag in einer "Erklärung von Damaskus" die Bildung einer arabischen Friedenstruppe für die Golfregion bekannt. Nach Abschluß eines formellen Waffenstillstands mit dem Irak und dem Abzug der amerikanischen, britischen und anderen westlichen Truppen sollen zusätzliche ägyptische und syrische Einheiten nach SaudiArabien verlegt werden. - Am 9.3. empfängt der türkische Ministerpräsident Akbulut den iranischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Habibi. Beide Politiker vertreten die Ansicht, die territoriale Integrität des Irak dürfe nicht angetastet werden. Am 10.3. teilt Außenminister Baker während eines Aufenthalts in Riad mit, die amerikanische Regierung habe die irakische Führung vor dem Einsatz von Giftgas bei der Bekämpfung innenpolitischer Gegner nachdrücklich gewarnt. Die "New York Times" berichtet zusätzlich, amerikanische Truppen würden jede irakische Einheit bombardieren, die chemische Waffen einsetze. - Am 11.3. trifft Baker in Israel ein, wo neben Gesprächen mit der Regierung auch ein Meinungsaustausch mit Vertretern der Palästinenser aus den besetzten Gebieten auf dem Programm steht. In der Umgebung des Außenministers heißt es dazu, es handele sich nicht um eine Wiederaufnahme des Dialogs mit der PLO. - Am 12.3. bezeichnet der ägyptische Präsident Mubarak die Zeit als noch nicht reif für eine internationale Nahost-Friedenskonferenz. Zunächst seien vertrauensbildende Maßnahmen zwischen Israel und den arabischen Staaten notwendig. - Am 13.3. beziffert Kuwait in einem Schreiben an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Entschädigungsforderungen gegenüber dem Irak mit rd. 100 Mrd. Dollar. - Am 22.3. lockert der Sanktionsausschuß des UN-Sicherheitsrates das Handelsembargo gegenüber dem Irak. Künftig ist die Lieferung humanitärer Güter zur Versorgung der Bevölkerung zugelassen. Der finnische UN-Sonderbeauftragte Ahtisaari hatte zuvor über seine Reise in den Irak berichtet und vor der Gefahr einer allgemeinen Hungersnot und dem Ausbrechen von Seuchen gewarnt (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen"). - Am 3.4. legt der Sicherheitsrat in einer umfangreichen Resolution, die auf einen Entwurf der USA zurückgeht, die Bedingungen für einen formellen Waffenstillstand mit dem Irak fest. Die Resolution Nr. 687 (1991), die mit 12 Stimmen bei einer Gegenstimme (Kuba) und zwei Enthaltungen (Jemen und Ecuador) angenommen wird, sieht u.a. die Zerstörung der irakischen Massenvernichtungswaffen, die Zahlung von Reparationen durch den Irak, sowie die schrittweise Lockerung des Handelsembargos (bei Fortgeltung des Waffenembargos) vor. Eine Truppe von UN-Beobachtern soll innerhalb einer 15 km breiten entmilitarisierten Zone (10 km im Irak, 5 km in Kuwait) die Einhaltung des Waffenstillstands überwachen. In einer weiteren Resolution verurteilt der Sicherheitsrat am 5.4. die "Unterdrückung der irakischen Zivilbevölkerung in vielen Teilen des Iraks" und weist auf die "jüngste Repression in den von den Kurden bewohnten Gegenden" hin, die zu einer "Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit in der Region geführt" habe. Die Resolution 688 (1991) wird von nur 10 der 15 Ratsmitglieder befürwortet. Gegenstimmen kommen von Kuba, Jemen und Simbabwe, Stimmenthaltung üben China und Indien. Die Kritiker der Resolution wenden ein, der Sicherheitsrat habe seine Kompetenzen überschritten und sich in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaates eingemischt, was die UN-Charta in Art. 2, Absatz 7, ausdrücklich untersage. (Vgl. den Text der beiden Resolutionen in "Dokumente zum Zeitgeschehen".)

8.3. - U d S S R. Die Nachrichtenagentur TASS veröffentlicht den Entwurf eines neuen Unionsvertrages ("Vertrag über die Union souveräner Republiken"). Der Entwurf nennt als Aufgaben der Zentralregierung u.a. die Verteidigung, die Aufstellung eines gemeinsamen Haushaltes sowie die Leitung und Koordinierung der Außenpolitik, räumt jedoch den Republiken künftig das Recht ein, direkte Beziehungen mit ausländischen Staaten zu unterhalten. Ein Verfahren für "das Recht auf einen freien Austritt" aus der Union soll noch festgelegt werden. Der russische Parlamentspräsident Jelzin bezeichnet den vorgeschlagenen Vertrag als unannehmbar. - Am 17.3. votiert die Bevölkerung in einem Referendum mit deutlicher Mehrheit für den Erhalt der UdSSR. Die Beteiligung wird von der zentralen Abstimmungskommission mit rd. 80% angegeben. Von den Regierungen einiger Unionsrepubliken, so im Baltikum, wird die Volksabstimmung boykottiert. Der Oberste Sowjet erklärt in einer Resolution am 20.3., das Ergebnis sei für das gesamte Territorium des Landes bindend. In der Russischen Republik stimmt die Bevölkerung ebenfalls am 17.3. über die Einführung des Präsidialsystems ab, bei der sich rd. 70% der Befragten für eine Direktwahl des Präsidenten aussprechen.

- N A T O. Vor dem Streitkräfteausschuß des Senats in Washington erklärt NATO-Oberbefehlshaber US-General Galvin, das Pentagon werde die Zahl der in Europa stationierten amerikanischen Truppen bis 1995/96 voraussichtlich um die Hälfte verringern. Einen festen Fahrplan dafür gebe es noch nicht. Im September d.J. werde die Stärke der US-Truppen in Europa bei 261 000 Mann liegen.

- N i e d e r l a n d e. Staatssekretär Van Voorst unterrichtet das Parlament in Den Haag über die Pläne der Regierung, die Streitkräfte in den kommenden zehn Jahren von derzeit 120 000 Mann um rd. 40 000 Mann zu reduzieren. Nur die Marine sei von dem Stellenabbau ausgenommen.

11.3. - T s c h e c h o s l o w a k e i. Präsident Havel fordert in einem Rundfunkinterview das Bundesparlament auf, die gesetzlichen Grundlagen für eine Volksabstimmung in der Slowakei zu schaffen. Falls die Slowaken einen unabhängigen Staat wollten, sei das rechtmäßig. Mit der Möglichkeit eines Auseinanderbrechens des tschechoslowakischen Staatsverbandes müsse ernsthaft gerechnet werden.

12.3. - J u g o s l a w i e n. Das Staatspräsidium tritt auf Antrag des Verteidigungsministeriums unter Vorsitz von Präsident Jovic in Belgrad zu einer Sondersitzung zusammen, um angesichts der anhaltenden Nationalitätenkonflikte "über die Sicherheitslage im Lande und über das Funktionieren der verfassungsmäßigen Ordnung" zu beraten. Über die von der Armee geforderten "außerordentlichen Maßnahmen", in Presseberichten ist von einer Verhängung des Ausnahmezustands sowie von einer Teilmobilisierung der Streitkräfte die Rede, wird keine Einigung erzielt.

- U d S S R / T ü r k e i. Präsident Gorbatschow und der türkische Präsident Özal unterzeichnen in Moskau einen "Vertrag über Freundschaft, gute Nachbarschaft und wirtschaftliche Zusammenarbeit". Özal, der auch mit dem russischen Parlamentspräsidenten Jelzin zusammentrifft, reist anschließend in die Ukraine, nach Aserbeidschan und Kasachstan.

- B R D / U d S S R. Die Bundesregierung übt Kritik an der Verlegung des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR und SED-Generalsekretärs Erich Honecker aus einem sowjetischen Militärhospital in Beelitz (Land Brandenburg) in die UdSSR. Das Bundeskanzleramt erklärt gegenüber dem sowjetischen Botschafter Terechow, man erwarte, daß Honecker "unverzüglich nach Deutschland zurückgebracht werde". Von sowjetischer Seite wird die Verlegung am 13.3. als humanitärer Akt bezeichnet und mit einer ernsthaften Verschlechterung des Gesundheitszustandes Honeckers begründet. Am 2.4. ratifiziert der Oberste Sowjet in Moskau den "Vertrag über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzuges der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschlands" und das dazugehörende Überleitungsabkommen. Das sowjetische Parlament hatte beide Verträge zunächst nur gebilligt (vgl. "Blätter", 12/1990, S. 1418 f. und 4/1991, S. 390).

15.3. - D e u t s c h l a n d f r a g e. Der "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" (Zwei-Plus-VierVertrag) vom 12. September 1990 (Text in "Blätter", 11/1990, S. 1389 ff.) tritt in Kraft. Als letzte der beteiligten Seiten hinterlegt die sowjetische Regierung in Bonn die Ratifikationsurkunde (vgl. "Blätter", 4/1991, S. 390).

- U d S S R / U S A. Der amerikanische Außenminister Baker konferiert in Moskau mit Außenminister Bessmertnych und Präsident Gorbatschow. Themen sind die zuvor abgeschlossene Nahostreise Bakers sowie Abrüstungsfragen. Die sowjetische Seite legt Baker einen Plan vor, der u.a. die Aufstellung einer UN-Friedenstruppe unter Beteiligung arabischer Staaten sowie die Errichtung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Osten vorsieht. In Presseberichten heißt es, mit der geplanten Begegnung zwischen Gorbatschow und Präsident Bush sei erst in der zweiten Hälfte 1991 zu rechnen. Am 25.3. richtet Präsident Bush ein Schreiben an Gorbatschow, das sich mit den Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (Auszüge in "Blätter", 1/1991, S. 116 ff.) befaßt. Der Text des Briefes wird nicht veröffentlicht. Die amerikanische Regierung hatte zuvor erklärt, sie werde den Vertrag dem Kongreß vorläufig nicht zur Ratifizierung zuleiten.

16.3. - I r a k. Bei seinem ersten öffentlichen Auftreten nach Abschluß des vorläufigen Waffenstillstands im Golfkrieg (vgl. "Blätter", 4/1991, S. 388 f.) kündigt Präsident Saddam Hussein in einer Fernsehansprache eine "Demokratisierung" des Landes an. Vorbereitet werde eine neue Verfassung mit dem Ziel einer "pluralistischen Demokratie". Hussein erwähnt den Ausbruch von Kämpfen in den südlichen Landesteilen sowie in den von Kurden besiedelten Gebieten des Nordens. - Am 23.3. nimmt Präsident Saddam Hussein eine Regierungsumbildung vor und gibt das Amt des Regierungschefs ab. Neuer Ministerpräsident wird Saadoun Hammadi, neuer Außenminister wird Ahmed Hussein al-Khodair. Der bisherige Außenminister Tarik Aziz übernimmt das Amt eines stellvertretenden Ministerpräsidenten.

25.3. - C h i n a. Der Nationale Volkskongreß beginnt in Peking mit zweiwöchigen Beratungen, in deren Mittelpunkt der Fünf-Jahres-Plan für die Jahre 1991 bis 1995 steht. Ministerpräsident Li Peng kündigt in seiner Eröffnungsansprache vor den 2700 Delegierten unter dem Stichwort "Sozialistische Modernisierung" die Wiederbelebung der wirtschaftlichen Strukturreformen an. Im außenpolitischen Teil verurteilt der Regierungschef das "Vormachtstreben" gewisser Staaten und warnt vor dem "Wiedererstarken des japanischen Nationalismus".

31.3. - A l b a n i e n. Im Rahmen der angekündigten Reformen (vgl. "Blätter", 4/1991, S. 390) finden landesweite Parlamentswahlen statt, an denen sich erstmals die organisierte Opposition beteiligen kann. Nach dem amtlichen Endergebnis des ersten Wahlgangs (der zweite Wahlgang findet am 7.4. statt) erhält die regierende Partei der Arbeit unter Präsident Alia 64,5% der Stimmen und 162 der 250 Mandate. An zweiter Stelle liegt die größte Oppositionspartei, die Demokraten, mit 27% und 65 Mandaten. Alia verfehlt in einem Wahlkreis der Hauptstadt Tirana den Einzug ins Parlament.

2.-3.4. - K S Z E. Vertreter der nationalen Parlamente der 34 Teilnehmerstaaten einigen sich auf einer Zusammenkunft in Madrid auf die Bildung einer Parlamentarischen Versammlung im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Versammlung (245 Mitglieder) soll den KSZE-Prozeß beratend begleiten und einmal jährlich zusammentreten, erstmals im Juli 1992 in Budapest. Die UdSSR und die USA entsenden je 17 Abgeordnete, an zweiter Stelle stehen die Bundesrepublik, Frankreich, Italien und Großbritannien mit je 13 Abgeordneten.

5.4. - H e s s e n. Der Landtag wählt auf seiner konstituierenden Sitzung (zu den Wahlen vgl. "Blätter", 3/1991, S. 262) mit 56 von 110 Stimmen den Oberbürgermeister von Kassel, Hans Eichel (SPD), zum neuen Ministerpräsidenten. Eichel, der Walter Wallmann (CDU) ablöst, steht an der Spitze einer Koalition von Sozialdemokraten und Grünen, die im Parlament über eine Mehrheit von 56 zu 54 Stimmen verfügt. Im neuen Kabinett sind die SPD mit acht, die Grünen mit zwei Ministern vertreten. Umweltminister und stellvertretender Regierungschef wird Joschka Fischer (Die Grünen).

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