Ein typologischer Versuch
1. In den Abendstunden des 10. November 1989 schoben sich noch immer Zehntausende ausgelassener Menschen über den Westberliner Kurfürstendamm. Seit der unerwarteten Grenzöffnung, die die Abschottung der DDR und bald darauf diese selbst beendete, waren gerade vierundzwanzig Stunden vergangen; genug, um bei den sich überstürzenden Ereignissen außer Atem zu geraten. So ging es auch einer kleinen Gruppe Ost- und Westdeutscher, die an dem Treiben teilgenommen und nun, ziemlich erschöpft, in einem zentral gelegenen Hotelrestaurant Zuflucht gesucht hatte. Die meisten derer, die hier beisammen saßen, kannten sich seit längerem; die aus dem Osten waren schon vor dem Fall der Mauer gelegentlich in Westeuropa unterwegs; die Westler hatten sich berufsbedingt oder aus eigenem Antrieb in Ostdeutschland umgetan. Man besaß also einige Vorkenntnisse über die jeweils andere Kultur. Das brachte jemanden auf die Idee, sich dieser Erfahrungen zu bedienen, um herauszufinden, wer von den draußen Vorbeiziehenden von drüben, aus der DDR, käme. Der Name des etwas boshaften Spiels, das die Tischgesellschaft eine Zeitlang in seinen Bann zog, war schnell gefunden: Ossi-Raten. - Es bedurfte keiner seherischen Gabe, um die einen von den anderen treffsicher zu unterscheiden.