Ausgabe September 1992

Agenda für den Frieden. Vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung und Friedenssicherung.

Bericht des UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali vom 17. Juni 1992 gemäß der am 31. Januar 1992 von dem Gipfeltreffen des Sicherheitsrats verabschiedeten Erklärung (Wortlaut)

Einführung

1. In der Erklärung des Sicherheitsrats vom 31. Januar 1992, die am Ende der ersten auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs abgehaltenen Tagung des Sicherheitsrats verabschiedet wurde, bin ich gebeten worden, bis zum 1. Juli 1992 eine zur Verteilung an die Mitglieder der Vereinten Nationen bestimmte „Analyse sowie Empfehlungen zu der Frage auszuarbeiten, wie die Kapazität der Vereinten Nationen zur vorbeugenden Diplomatie, zur Friedensschaffung und zur Friedenssicherung im Rahmen der Charta und ihrer Bestimmungen gestärkt und effizienter gestaltet werden kann".

2. Die Vereinten Nationen sind ein Zusammenschluß souveräner Staaten, und was sie tun können, hängt von dem Grad der Übereinstimmung ab, den die Staaten untereinander erzielen. Die von Gegnerschaft geprägten Jahrzehnte des Kalten Krieges haben verhindert, daß die Vereinten Nationen den Erwartungen gerecht wurden, die man ursprünglich in sie gesetzt hatte. Insofern stellte der im Januar 1992 veranstaltete Gipfel eine bisher einzigartige, auf höchster politischer Ebene erfolgte Neuverpflichtung auf die Ziele und Grundsätze der Charta dar.

3. In den vergangenen Monaten hat sich bei großen und kleinen Nationen in zunehmendem Maße die Überzeugung durchgesetzt, daß eine Gelegenheit zur Verwirklichung der großen Ziele der Charta wiedererlangt worden ist, nämlich eine Organisation der Vereinten Nationen, die in der Lage ist, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Gerechtigkeit und die Achtung der Menschenrechte zu gewährleisten und — um mit der Charta zu sprechen — „den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern". Diese Gelegenheit darf nicht ungenutzt bleiben. Die Vereinten Nationen dürfen nie wieder so handlungsunfähig werden, wie sie es in der inzwischen zurückliegenden Ära gewesen sind.

4. Ich freue mich, daß der Sicherheitsrat mich zu Beginn meiner Amtszeit als Generalsekretär gebeten hat, diesen Bericht auszuarbeiten. Er stützt sich auf Gedanken und Vorschläge, die mir von Regierungen, Regionalorganisationen, nichtstaatlichen Organisationen sowie von Institutionen und Einzelpersonen aus vielen Ländern zugeleitet wurden. Bei aller Dankbarkeit für diese Beiträge möchte ich jedoch betonen, daß ich für diesen Bericht allein verantwortlich zeichne.

5. Konflikt und Krieg beruhen auf weit verbreiteten, tiefliegenden Ursachen. Wenn wir sie ergründen wollen, werden wir alles in unseren Kräften Stehende tun müssen, um die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken, eine bestandfähige wirtschaftliche und soziale Entwicklung zur Erlangung allgemeineren Wohlstands zu fördern, die Not zu lindern und die Existenz und den Einsatz von Waffen mit massiver Zerstörungswirkung zu reduzieren. Die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung, das größte je veranstaltete Gipfeltreffen, ist soeben in Rio de Janeiro zu Ende gegangen. Im nächsten Jahr wird die zweite Weltkonferenz über Menschenrechte stattfinden. 1994 wird das Thema Bevölkerung und Entwicklung behandelt. 1995 wird die Weltfrauenkonferenz stattfinden, und ein Weltgipfel für soziale Entwicklung ist vorgeschlagen worden. Während meiner gesamten Amtszeit als Generalsekretär werde ich mich mit allen diesen großen Fragenkomplexen auseinandersetzen. Sie alle sind mir gegenwärtig, wenn ich mich in diesem Bericht den Problemen zuwende, um deren Untersuchung mich der Rat eigens ersucht hat: vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung und Friedenssicherung, welche ich noch um das eng damit verbundene Konzept der Friedenskonsolidierung in der Konfliktfolgezeit erweitert habe.

6. Der offenkundige Wunsch der Mitgliedstaaten nach Zusammenarbeit verleiht unseren gemeinsamen Bemühungen neue Kraft. Der Erfolg ist jedoch äußerst unsicher. Wenn ich mich einerseits in meinem Bericht mit den Wegen befasse, die Kapazität der Vereinten Nationen zur Herbeiführung und Erhaltung des Friedens zu verbessern, ist es doch andererseits ausschlaggebend, daß sich alle Mitgliedstaaten darüber im klaren sind, daß die Suche nach besseren Mechanismen und Techniken so lange relativ bedeutungslos bleiben wird, wie dieser neue Gemeinschaftsgeist nicht von dem Willen getragen ist, die schwierigen Entscheidungen zu treffen, die die sich uns heute darbietende Gelegenheit uns abverlangt.

7. Ich unterbreite den Mitgliedern der Vereinten Nationen daher diesen Bericht, bewegt von dem Gefühl der Bedeutung des Augenblicks und in Dankbarkeit. [...]

 

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