Ausgabe September 1992

Dokumente zur Auflösung der CSFR

Rücktrittserklärung des Präsidenten der CSFR Vaclav Havel im tschechischen Fernsehen am 17. Juli 1992 (Wortlaut)

Liebe Mitbürger,

heute Mittag überreichte der Kanzler Karl Schwarzenberg der Föderativen Versammlung meinen Brief, in dem ich bekanntgebe, daß ich am 20. Juli um 18 Uhr mein Amt als Präsident der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik niederlege.

Zu diesem Schritt habe ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen. Dazu veranlaßte mich die Erkenntnis, daß ich die Verpflichtungen, die sich aus dem Treueversprechen gegenüber der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik und ihrer Verfassung ergeben, nicht mehr auf eine Weise erfüllen kann, die im Einklang mit meinem Wesen, meiner Überzeugung und meinem Gewissen stehen würde. Bei dem Versuch, dieses Versprechen konsequent einzuhalten, könnte ich sogar zu einem Hindernis für die weitreichenden staatlichen Veränderungen werden, auf die unser Land nach den letzten Parlamentswahlen zusteuert. Zudem würde ich möglicherweise emanzipatorische Bemühungen der Slowakischen Republik behindern, die ihren politischen Ausdruck auch in der heute durch den Slowakischen Nationalrat verabschiedeten Unabhängigkeitserklärung finden. Darüber hinaus zeigte die jüngste neue Präsidentschaftswahl, daß ich das Vertrauen des größeren Teils der politischen Vertretung der Slowakei verloren habe. Diesen Verlust begreife ich nicht nur als Ausdruck der Abneigung zu mir als konkreter Person, sondern auch als Ausdruck der Nichtübereinstimmung mit den Werten, die ich vertrete. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich unter diesen Umständen und in dieser schweren Zeit, die uns erwartet, mein Amt gut ausüben könnte. Ich kann die Verantwortung für eine Entwicklung nicht tragen, die sich meinem Einfluß entzieht. So wie ich der geschichtlichen Entwicklung nicht entgegenstehen möchte, so möchte ich natürlich auch nicht nur ein Beamter sein, der noch ein paar Wochen auf den Zeitpunkt seiner Ablösung wartet, bis er endgültig sein Amt verläßt, der in dieser Zeit passiv das Geschehen beobachtet und nur formal seine Aufgaben erfüllt. Ich wollte immer und will auch in Zukunft etwas Gutes im Interesse meiner Mitbürger schaffen. Die Funktion des Präsidenten der Föderation ermöglicht mir diese schöpferische und konstruktive Arbeit nicht mehr.

Gemeinsam mit mir legen auch meine wichtigsten Mitarbeiter in der Präsidentenkanzlei der Republik, allen voran der Kanzler, ihre Ämter nieder. Ich habe alles getan, was zu tun notwendig war, damit die Kanzlei des Präsidenten auch nach meinem Rücktritt ihre Funktionen erfüllen kann, einschließlich der Dienststelle des Vorsitzenden der föderativen Regierung, der am 20. Juli in Übereinstimmung mit der Verfassung die meisten verfassungsrechtlichen Aufgaben des Staatsoberhauptes übernimmt.

Seit dem 29. September 1989, an dem ich erstmals zum tschechoslowakischen Präsidenten gewählt wurde, habe ich mich bemüht, im Rahmen meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten für ein freiheitliches und würdevolles Leben aller tschechoslowakischen Bürger zu arbeiten, die Integrität und Sicherheit unseres Staates zu erhalten, mich für seine innere Unabhängigkeit und eine gerechte innere Ordnung einzusetzen und zum Aufbau einer Friedensordnung in der Welt beizutragen. Meine Arbeit werde ich natürlich im Interesse der Demokratie, des Respekts vor den Menschenrechten und eines freundschaftlichen Zusammenlebens aller Bürger und Nationen fortsetzen. Ich werde sie überall dort fortsetzen, wo es meiner Ansicht nach Sinn hat und wo mir dazu die Gelegenheit gegeben wird.

Für das Amt des Präsidenten der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik werde ich nicht mehr kandidieren. Ich danke Ihnen allen, Tschechen und Slowaken, die Sie mir vertraut haben, die Sie mich unterstützt haben und die Sie den Sinn meiner Bemühungen verstanden haben. Ich danke allen, mit mir zusammengearbeitet zu haben. Ich danke auch meiner Frau, daß sie alle Aufgaben auf sich genommen hat, die ihre Stellung mit sich brachte, und daß sie sie verantwortungsvoll erfüllt hat. Auch sie wird mit der begonnenen Arbeit im Interesse der uns Nahestehenden fortfahren.

Ich wünsche Ihnen Glück, Gesundheit und den festen Glauben an die Zukunft.

 

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