Der soziale Sinn im postsowjetischen Kriege
I
Nach Schätzungen aus dem russischen Generalstab sind auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR zum jetzigen Zeitpunkt ungefähr 30 bewaffnete Konflikte entbrannt oder dem Ausbruch nahe. Potentiell aber muß mit bis zu 70 solchen Konflikten gerechnet werden. Kriege kann man sie natürlich in der Mehrzahl der Fälle nicht nennen, weil ihre Akteure häufig unbeständig sind, die Kampfhandlungen von Perioden der Stille oder des "bewaffneten Friedens" abgelöst werden. Die Gewalt in diesen Konfliktzonen hat nicht nur den Charakter von Kampfhandlungen einander gegenüberstehender Seiten, sie erstreckt sich auch ins Innere jeder Gesellschaft, auf die "eigenen Leute", sie wird zum Element ihres Alltags und zu einem organischen Bestandteil ihrer politischen Kultur.
Noch weniger kann man das, was vor sich geht, Revolution nennen, weil in vielen der am Kampf teilnehmenden Gesellschaften die soziale Hierarchie faktisch nicht zerbricht. Das, was auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR stattfindet, kann man interpretieren als Prozeß der Reorganisierung dieses Raumes durch das Werden einer neuen, postimperialen nationalstaatlichen Hierarchie. Dieser Umbau, der in seinen Maßstäben und seiner Tiefe für das 20. Jahrhundert beispiellos ist, wird aller Wahrscheinlichkeit nach viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, d.h. real die aktive Lebenszeit der heute lebenden Generationen umfassen.