Ausgabe Juli 1993

Spasmen der Gewalt

Der soziale Sinn im postsowjetischen Kriege

I

Nach Schätzungen aus dem russischen Generalstab sind auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR zum jetzigen Zeitpunkt ungefähr 30 bewaffnete Konflikte entbrannt oder dem Ausbruch nahe. Potentiell aber muß mit bis zu 70 solchen Konflikten gerechnet werden. Kriege kann man sie natürlich in der Mehrzahl der Fälle nicht nennen, weil ihre Akteure häufig unbeständig sind, die Kampfhandlungen von Perioden der Stille oder des "bewaffneten Friedens" abgelöst werden. Die Gewalt in diesen Konfliktzonen hat nicht nur den Charakter von Kampfhandlungen einander gegenüberstehender Seiten, sie erstreckt sich auch ins Innere jeder Gesellschaft, auf die "eigenen Leute", sie wird zum Element ihres Alltags und zu einem organischen Bestandteil ihrer politischen Kultur.

Noch weniger kann man das, was vor sich geht, Revolution nennen, weil in vielen der am Kampf teilnehmenden Gesellschaften die soziale Hierarchie faktisch nicht zerbricht. Das, was auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR stattfindet, kann man interpretieren als Prozeß der Reorganisierung dieses Raumes durch das Werden einer neuen, postimperialen nationalstaatlichen Hierarchie. Dieser Umbau, der in seinen Maßstäben und seiner Tiefe für das 20. Jahrhundert beispiellos ist, wird aller Wahrscheinlichkeit nach viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, d.h. real die aktive Lebenszeit der heute lebenden Generationen umfassen.

Juli 1993

Sie haben etwa 4% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 96% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema