Ausgabe Juni 1993

Chronik vom 6. April bis 5. Mai 1993

7.4. - S l o w a k e i / U n g a r n. Vertreter der beiden Staaten einigen sich durch Vermittlung der EG-Kommission, ihren Streit über die Staustufe bei Gabcikovo an der Donau dem Internationalen Gerichtshof (IGH der Vereinten Nationen in Den Haag zur Entscheidung vorzulegen. Eine entsprechende Vereinbarung wird in Brüssel unterzeichnet.

8.4. - U N O. Unter der Bezeichnung "Die frühere Jugoslawische Republik Mazedonien" nimmt die Generalversammlung in New York das 181. Mitglied in die Organisation der Vereinten Nationen auf. Die Bezeichnung soll verwendet werden, bis die Auffassungsunterschiede über den Namen des Staates beigelegt sind. Gegen die Benennung "Mazedonien" hatte sich vor allem Griechenland mit Hinweis auf die eigene Provinz gleichen Namens ausgesprochen. Ebenfalls am 8.4. fordert der Internationale Gerichtshof (IGH) von Jugoslawien (Serbien und Montenegro), "alle in seiner Macht stehenden Mittel zu ergreifen, um zu verhindern, daß das Verbrechen des Völkermordes begangen wird". Diese Verpflichtung ergebe sich aus dem Beitritt des früheren Jugoslawien zur "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" vom 9. Dezember 1948. Das Gericht in Den Haag folgt mit seiner "Einstweiligen Anordnung", der nur der russische Richter Tarassow widerspricht, einem Antrag von Bosnien-Herzegowina (vgl. "Blätter", 5/1993, S. 517). Zur Forderung nach Aufhebung des gegen Bosnien-Herzegowina verhängten Waffenembargos nimmt das Gericht nicht Stellung. Am 17.4. beschließt der Sicherheitsrat in New York verschärfte Sanktionen gegen die "Bundesrepublik Jugoslawien" (Serbien und Montenegro, die am 26.4. in Kraft treten sollen, falls sich die bosnischen Serben weiterhin weigern, den Vance-Owen-Friedensplan zu unterzeichnen und ihre militärischen Angriffe in Bosnien-Herzegowina fortsetzen. Vorgesehen ist u.a., die jugoslawischen Guthaben im Ausland einzufrieren. Die Resolution 820 (1993 wird mit 13 Stimmen bei 2 Enthaltungen (China und Rußland angenommen. - Am 5.5. legt Generalsekretär Boutros Ghali dem Sicherheitsrat den angeforderten Bericht über die Errichtung eines internationalen Tribunals zur Bestrafung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien vor (vgl. "Blätter", 4/1993, S. 389 f.). Das Gericht soll zwei Kammern, eine Berufungsinstanz, sowie eine Anklagebehörde umfassen und seinen Sitz in Den Haag nehmen. Zusammensetzung, Aufgaben und Kompetenzen soll ein Statut regeln, der Entwurf enthält 34 Artikel.

- B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Anträge von FDP und SPD auf Erlaß einer Einstweiligen Anordnung gegen die Beteiligung von Bundeswehroffizieren an der militärischen Durchsetzung des Flugverbots über Bosnien im Rahmen von NATO-Einsätzen ab (vgl. "Blätter", 5/1993, S. 518). Mit dem Urteil (Auszüge in "Blätter", 5/1993, S. 637 ff.), das mit der knappen Mehrheit von fünf gegen drei Stimmen ergeht, ist eine Entscheidung in der Hauptsache nicht verbunden.

10.4. - S ü d a f r i k a. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei (SACP), Chris Hani, fällt einem Mordanschlag zum Opfer. Bei den Trauerfeierlichkeiten und gleichzeitig stattfindenden Massenprotesten kommt es zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei, die mit Waffengewalt gegen die Teilnehmer vorgeht. Der Afrikanische Nationalkongreß (ANC) spricht von zahlreichen Toten und Verletzten. ANC-Präsident Mandela ruft die Bevölkerung zur Ruhe auf. Gewalt könne nur denen zum Vorteil gereichen, die die Verhandlungen über die geplante nichtrassische Verfassung sabotieren wollten.

14.4. - N a h e r O s t e n. Der ägyptische Präsident Mubarak und der israelische Ministerpräsident Rabin erörtern in Ismailia den Stand der Vorbereitungen einer bevorstehenden neuen Runde der Friedensverhandlungen über den Nahen Osten. Einen Tag zuvor hatte sich der PLO-Vorsitzende Arafat zu Gesprächen in Kairo aufgehalten. - Am 21.4. heißt es in einem Kommuniqué nach einer erneuten Zusammenkunft der arabischen Außenminister in Damaskus (vgl. "Blätter", 5/1993, S. 517, man werde an der für den 27.4. in Washington geplanten Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Israel teilnehmen. Der Erklärung stimmt auch die PLO zu. - Am 27.4. beginnt die neue Runde der Friedensverhandlungen in der amerikanischen Hauptstadt. Mit Zustimmung Israels nimmt erstmals ein Palästinenser aus Ostjerusalem an den Verhandlungen teil: Feisal alHusseini ist Mitglied der palästinensischen Delegation. - Am 29.4. erlaubt die israelische Regierung die Rückkehr von 30 prominenten Palästinensern, die von früheren Regierungen ausgewiesen wurden. Der Beschluß Israels wird von der palästinensischen Delegation in Washington ausdrücklich begrüßt und als ein Zeichen für eine neue Phase des Friedensprozesses interpretiert.

15.4. - J u g o s l a w i e n. Der russische UN-Botschafter Woronzow, der im Mai d. J. den Vorsitz im Sicherbeitsrat der Vereinten Nationen übernimmt, schlägt in New York ein Treffen der Außenminister der 15 Ratsmitglieder über die Lage im ehemaligen Jugoslawien und die damit verbundenen Probleme vor. - Am 23.4. erklärt der amerikanische Präsident Clinton auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus, er stehe in Kontakt mit den europäischen Verbündeten, um sich in den nächsten Tagen auf neue "konzertierte Aktionen" in der Bosnien-Politik zu verständigen. Clinton spricht von einer "echten Neubewertung" der Situation, bei der er keine Option ausschließe, mit Ausnahme des Einsatzes von Bodentruppen. In Presseberichten heißt es, die amerikanische Vertretung bei den Vereinten Nationen habe dem Präsidenten versichert, die Resolutionen des Sicherheitsrates berechtigten die USA auch zu einseitigen militärischen Aktionen. US-Außenminister Christopher tritt am 1.5. eine Europareise an, um die amerikanischen Überlegungen in verschiedenen Hauptstädten zu erläutern. - Vom 1.-2.5. bemüht sich der griechische Ministerpräsident Mitsotakis in diplomatischen Verhandlungen um die Zustimmung auch der bosnischen Serben zu dem von den Vermittlern Vance (UN) und Owen (EG) ausgearbeiteten Friedensplan vom 30. Januar d.J. (Text und Karte in "Blätter ", 4/1993, S. 502 ff.) An der Konferenz in Athen nehmen die führenden Vertreter aller direkt beteiligten Seiten sowie als Beobachter die Botschafter Bartholomew (USA) und Tschurkin (Rußland) teil. Der bosnische Serbenführer Karadzic setzt am 2.5. seine Unterschrift unter den Plan, macht jedoch die endgültige Zustimmung vom Votum seines Parlaments abhängig. Die Parlamentarische Versammlung der bosnischen Serben tritt am 5.5. in Pale zusammen. Zu den anwesenden Gästen gehören der Präsident der "Bundesrepublik Jugoslawien" Cosic, der serbische Präsident Milosevic sowie Ministerpräsident Mitsotakis. Karadzic plädiert vor den Abgeordneten für eine Annahme des Plans und warnt vor einer militärischen Intervention des Westens. Die neue Landkarte Bosniens sehe für die Serben 43% des Gebietes vor: "Soviel haben wir in der Geschichte noch nie gehabt." Der Vance-Owen-Plan wird mit 51 gegen 2 Stimmen bei 12 Enthaltungen abgelehnt. Karadzic bezeichnet die Entscheidung als nicht endgültig und weist auf ein für den 15. und 16. Mai d.J. angesetztes Referendum seiner Volksgruppe hin.

18.-19.4. - I t a l i e n. Im Rahmen einer Volksabstimmung (Beteiligung 78%) stimmt die Bevölkerung mit großer Mehrheit für eine Änderung des geltenden Wahlrechts (mehr als 80%) sowie für die Abschaffung der bisherigen Parteienfinanzierung (rund 90%). Beim Wahlrecht ist vorgesehen, schrittweise vom Verhältnissystem zum Mehrheitssystem überzugehen. Unmittelbar nach Schließung der Wahllokale am 19.4. begibt sich Ministerpräsident Giuliano Amato zu Staatspräsident Scalfaro, um den Rücktritt seines Kabinetts anzubieten. - Am 26.4. beauftragt Scalfaro den Gouverneur der Bank von Italien, Carlo Azeglio Ciampi (parteilos), mit der Regierungsbildung; Ciampi stellt sein Kabinett am 28.4. vor. Vier der neuen Minister, drei Vertreter der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen ist, sowie ein Vertreter der Grünen verlassen das Kabinett schon am folgenden Tag. Anlaß ist die Weigerung des Parlaments, die Immunität des der Korruption beschuldigten ehemaligen Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Bettino Craxi vollständig aufzuheben (vgl. "Blätter", 4/1993, S. 389). Ciampi besetzt die vier vakanten Ressorts mit Fachleuten aus der Wissenschaft.

20.4. - B u n d e s r e g i e r u n g. Ein Regierungssprecher teilt in Bonn mit, die Bundesregierung werde sich mit der Entsendung von 1600 Soldaten nach Somalia an einer friedenssichernden Operation der Vereinten Nationen beteiligen. Zu diesem Kontingent gehöre auch eine mit leichten Panzerfahrzeugen ausgestattete Infanterieeinheit, die deutschen Truppen würden sich jedoch an Kampfeinsätzen nicht beteiligen. Bundesaußenminister Kinkel erläutert die Entscheidung des Kabinetts am 21.4. vor dem Bundestag und vertritt dabei den Standpunkt, für den Somalia-Einsatz gebe es keine "verfassungsrechtlichen Schranken".

- B R D / L e t t l a n d. Bundesaußenminister Kinkel und sein lettischer Amtskollege Andrejevs unterzeichnen in Bonn eine "Gemeinsame Erklärung über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Lettland". Es heißt darin u.a., beide Seiten "streben den Aufbau eines durch gemeinsame Werte und Überzeugungen geeinten Europa an". Deutschland werde "die Heranführung Lettlands an die Europäische Gemeinschaft im Rahmen seiner Möglichkeiten nach Kräften fördern".

22.4. - U N O / N A T O. UN-Generalsekretär Boutros-Ghali und NATO-Generalsekretär Wörner treffen sich auf Schloß Stuyvenbergh bei Brüssel zu einem Meinungsaustausch über die Lage im ehemaligen Jugoslawien. Thema des Gesprächs sind vor allem die Konsequenzen, die sich für die Nordatlantische Allianz aus dem Beschluß des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. März d.J. ergeben (vgl. "Blätter", 5/1993, S. 517).

25.4. - R u ß l a n d. An einem landesweiten Referendum (zur Ankündigung vgl. "Blätter", 5/1993, S. 516) beteiligten sich 69,2 Millionen der 107 Millionen Wahlberechtigten. Nach dem amtlichen Endergebnis (veröffentlicht am 5.5. sprechen 58,7% der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger Präsident Jelzin das Vertrauen aus, 53% unterstützen die von Jelzin eingeleitete Wirtschaftspolitik. Für die vorzeitige Neuwahl von Präsident und Parlament votieren nur 31,7 bzw. 43,1% der Wähler.

26.4. - K S Z E. Auf Antrag der Republik Aserbaidschan befaßt sich der Ausschuß Hoher Beamter (AHB der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auf einem Dringlichkeitstreffen am Sitz des KSZE-Sekretariats in Prag mit den verschärften Spannungen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Der Ausschuß ruft die beteiligten Parteien auf, "alle offenstehenden Probleme ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen" und fordert "einen unverzüglichen und vollständigen Rückzug der Besatzungstruppen aus Kelbajar und anderen unlängst besetzten Gebieten in Aserbaidschan". - Am 27.4. beschließt der AHB, das Amt eines KSZE-Generalsekretärs mit Sitz in Wien einzurichten. Zum ersten Generalsekretär wird Botschafter Wilhelm Höynck (BRD) ernannt. Die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien erhält einen Beobachterstatus innerhalb des KSZE-Prozesses. 3.5. - S P D. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm tritt als Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat der SPD zurück und kündigt sein Ausscheiden aus der Landesregierung in Kiel an (vgl. "Blätter", 7/1988, S. 774 und 7/1991, S. 774). Nach einer Sitzung der sozialdemokratischen Führungsgremien in Bonn bestätigt Engholm auf einer Pressekonferenz umlaufende Zeitungsberichte, nach denen er vor dem Untersuchungsausschuß des schleswig-holsteinischen Landtages zur "Barschel-Affäre" (vgl. "Blätter", 11/1987, S. 1378 und 3/1988, S. 262) unvollständige Aussagen gemacht habe. Dadurch sei seine politische Glaubwürdigkeit in Frage gestellt, mit dem Rücktritt wolle er weiteren Schaden von seiner Partei abwenden. Im Verlauf der Pressekonferenz teilt Engholm mit, er werde sein Landtagsmandat weiter ausüben. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und stellvertretende SPD-Vorsitzende Johannes Rau übernimmt den Parteivorsitz bis zur Einberufung eines Parteitages.

4.5. - H a m b u r g. Das Verfassungsgericht der Hansestadt annulliert das Ergebnis der Wahl zum Landesparlament (Bürgerschaft vom 2. Juni 1991 (vgl. "Blätter", 2/1992, S. 256). Außerdem werden die Ergebnisse von fünf der sieben Bezirkswahlen für ungültig erklärt. Das Gericht entspricht damit der Verfassungsbeschwerde eines ehemaligen CDU-Mitglieds, das die Kandidatenaufstellung seiner Partei als rechtswidrig und als Verletzung der innerparteilichen Demokratie bezeichnet hatte. Der Senat wird verpflichtet, Neuwahlen auszuschreiben.

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