Ausgabe Oktober 1993

Chronik vom 6. August bis 5. September 1993

6.8. - P o l e n / R u ß l a n d. Die letzte in Polen stationierte Einheit der früheren Sowjetarmee verläßt das Land. In Warschau verbleibt lediglich eine aus 30 Offizieren bestehende Militärmission, um die Durchreise der aus der ehemaligen DDR abziehenden russischen Truppenkontingente zu überwachen. - Am 25.8. unterzeichnen die Präsidenten Jelzin (Rußland) und Walesa (Polen) in Warschau eine gemeinsame Erklärung, in der es u.a. heißt, Rußland nehme den Wunsch Polens nach Mitgliedschaft in der NATO zur Kenntnis. Diese Mitgliedschaft richte sich nicht gegen die Interessen anderer Staaten. Der polnische Außenminister Skubiszewski fordert die NATO auf, die Hindernisse für neue Mitglieder aus Mitteleuropa zu beseitigen.

- J a p a n. Das Parlament in Tokio wählt Morihiro Hosokawa (Neue Japan-Partei) mit klarer Mehrheit zum neuen Regierungschef. Hosokawa erhält 262 Stimmen, für den Gegenkandidaten der LiberalDemokratischen Partei (LDP), die nach ihrer Wahlniederlage in die Opposition gehen muß (vgl. "Blätter", 9/1993, S. 1033), werden 224 Stimmen abgegeben. Der Koalitionsregierung, der ersten seit 1955, gehören sieben Parteien an. Stärkste Partei sind die Sozialdemokraten, die im Kabinett (20 Mitglieder) sechs Ministerposten besetzen. - Am 15.8. spricht Hosokawa als erster japanischer Regierungschef gegenüber den Opfern der japanischen Expansionspolitik im Zweiten Weltkrieg eine formelle Entschuldigung aus. Anlaß ist der 48. Jahrestag der Kapitulation Japans am 15. August 1945.

9.8. - N A T O. Der Nordatlantikrat genehmigt auf einer Sitzung in Brüssel die von einem Militärausschuß ausgearbeiteten Einsatzpläne für Luftangriffe gegen serbische Stellungen rund um Sarajewo (vgl. "Blätter", 9/1993, S. 1034). Ein Termin für mögliche Operationen wird jedoch nicht genannt. In Presseberichten heißt es, ein Einsatzbefehl könne erst nach Zustimmung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen erfolgen.

- B e l g i e n. Prinz Albert von Lüttich legt vor Senat und Kammer in Brüssel den Eid auf die Verfassung ab und wird damit als Albert II. sechster König und Staatsoberhaupt der Belgier. Albert ist direkter Thronfolger seines am 31. Juli d.J. unerwartet verstorbenen älteren Bruders König Baudoin I.

12.8. - R u ß l a n d. Präsident Jelzin setzt sich in einer Rede vor Mitarbeitern der Medien in Moskau erneut für vorgezogene Parlamentswahlen noch im Herbst dieses Jahres ein. Diese Frage habe höchste Priorität: "Wenn das Parlament die Entscheidung nicht selber fällt, wird das der Präsident tun." Parlamentspräsident Chasbulatow erklärt dazu am 14.8., der Herbst sei nicht der richtige Zeitpunkt für Wahlen zum Obersten Sowjet. - Am 13.8. konferiert Jelzin in Petrosawodsk (Republik Karelien) mit den Vertretern von 88 russischen Republiken und Gebieten über seinen Vorschlag zur Einrichtung eines Föderationsrates, über dessen legislative Rechte jedoch keine Einigung erzielt wird. - Am 1.9. suspendiert Jelzin per Dekret seinen Stellvertreter Ruzkoi sowie den stellvertretenden Ministerpräsidenten Schumeiko "vorübergehend" von ihren Ämtern und begründet diesen Schritt mit den öffentlich erhobenen Korruptionsvorwürfen gegen beide Politiker. Das Parlament bezeichnet die Amtsenthebung Ruzkois als unwirksam.

16.8. - J u g o s l a w i e n. Nach kurzer Unterbrechung wird in Genf die Friedenskonferenz über Bosnien-Herzegowina fortgesetzt. Im Mittelpunkt steht die Festlegung der inneren Grenzen des künftigen Staatenbundes auf der Basis der am 30. Juli d.J. erzielten grundsätzlichen Einigung (vgl. "Blätter", 3/1993, S. 1032). Kurz nach Eröffnung der neuen Verhandlungsrunde teilt ein UN-Sprecher den Beschluß von Serben, Muslimen und Kroaten mit, die bosnische Hauptstadt Sarajewo für eine Übergangsperiode zu entmilitarisieren und der Verwaltung der Vereinten Nationen zu unterstellen. Einzelheiten müßten noch ausgearbeitet werden. Der bosnische Präsident Izetbegovic legt am 17.8. den Entwurf einer Karte mit den Grenzen der künftigen "Union der Republiken von Bosnien-Herzegowina" vor, der von serbischer und kroatischer Seite als "Maximalforderung" zurückgewiesen wird. Die beiden Kovorsitzenden Owen (EG) und Stoltenberg (UNO) unterbreiten am 20.8. einen Kompromißvorschlag, dem Serben und Kroaten zustimmen, während die Muslime ablehnen. Anschließend wird die Konferenz erneut für zunächst zehn Tage unterbrochen, um allen Teilnehmern eine "Denkpause" für interne Beratungen einzuräumen. - Am 24.8. proklamieren die bosnischen Kroaten in Livno eine "Kroatische Republik Herceg-Bosna." - Am 27.8. fordert Präsident Izetbegovic in Sarajewo Neuverhandlungen über den Owen-Stoltenberg-Plan. Dabei gehe es vor allem um den für das muslimische Bosnien lebenswichtigen Zugang zur Adria. Im Gespräch mit Owen und Stoltenberg am 31.8. in Genf verlangt Izetbegovic einen Gebietszuwachs um sechs Prozent und den Landzugang zum Mittelmeer. Die Genfer Verhandlungen werden am 1.9. ohne Festsetzung eines neuen Termins vertagt.

19.8. - I r a k / U S A. Amerikanische Kampfflugzeuge bombardieren Stellungen der irakischen Flugabwehr bei Mosul im Nordirak. Zur Begründung heißt es, der Irak habe in der von den Vereinten Nationen errichteten Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades zwei Luftabwehrraketen gestartet. In einem Schreiben an UNGeneralsekretär Boutros Ghali protestiert der irakische Außenminister as-Sahaf und erklärt, seine Regierung erkenne diese Flugverbotszone nicht an.

20.8. - U N O. Der Sicherheitsrat nominiert in New York 23 Kandidaten als Richter für das Internationale Tribunal zur Verfolgung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (vgl. "Blätter", 6/1993, S. 644). Die entsprechende Resolution 857 (1993) wird ohne Gegenstimmen angenommen. - Am 26.8. spricht Generalsekretär Boutros-Ghali vor dem Fünften Ausschuß (Verwaltung und Budget der Generalversammlung von einer "beispiellosen Finanzkrise der Weltorganisation und kündigt drastische Sparmaßnahmen an, die zunächst bis zum Jahresende befristet sind. Falls sich die Situation bis dahin nicht gebessert hat, werde er Vorschläge für "grundsätzliche Änderungen" machen. Der Generalsekretär beziffert am 1.9. in einem Interview mit dem französischen Fernsehen die ausstehenden Beträge mit umgerechnet mehr als drei Mrd. DM. Lediglich sieben der 184 Mitgliedstaaten hätten ihren Beitrag vollständig entrichtet.

25.8. - N i e d e r l a n d e. Außenminister Kooijmans empfängt in Den Haag die beiden Jugoslawien-Vermittler Owen (EG) und Stoltenberg (UNO). Anschließend heißt es, Kooijmans sehe eine tiefe Kluft zwischen der geplanten Dreiteilung Bosniens und den ursprünglich von der Europäischen Gemeinschaft für eine Friedensregelung formulierten Prinzipien. Eine ähnliche Ansicht vertritt der niederländische EG-Kommissar van den Broek, der Owen in einem Interview mit dem in Rotterdam erscheinenden "NRC-Handelsblad" eine "Kapitulationsstrategie " vorwirft, die Gewalt legitimiere.

- U S A / C h i n a. Die amerikanische Regierung verhängt Sanktionen gegen die VR China, die sich vor allem auf die Lieferung von Gütern der Hochtechnologie und der Raumfahrt beziehen. Als Grund für die Maßnahme wird in Washington angegeben, China habe Teile seiner M 11-Mittelstreckenrakete an Pakistan weitergegeben und damit gegen die Regeln zur Nichtverbreitung von Raketentechnologien (Missile Technology Control Regime/MTCR) verstoßen. Das Außenministerium in Peking bezeichnet die Sanktionen als "völlig ungerechtfertigt". China behalte sich weitere Schritte vor.

27.8. - N a h e r O s t e n. Der israelische Außenminister Peres erörtert mit seinem amerikanischen Kollegen Christopher ein "Pilotprojekt" zur Einführung einer begrenzten palästinensischen Selbstverwaltung in dem von Israel besetzten Ghazastreifen und der Stadt Jericho. Das mehrstündige Gespräch, das in der Nähe des Urlaubsortes von Christopher in Kalifornien stattfindet, wird zunächst geheimgehalten und erst nach Abschluß vom State Department in Washington bestätigt. Am Rande einer Kabinettssitzung in Jerusalem wird am 29.8. bekannt, das Projekt sei in vertraulichen Verhandlungen von Vertretern der israelischen Regierung und der Palästinensischen Befreiungs-Organisation (PLO) ausgearbeitet worden. Eine besondere Rolle als Vermittler bei den in der Umgebung von Oslo geführten Geheimverhandlungen hätten der norwegische Außenminister Johan Jörgen Holst und sein Vorgänger Thorvald Stoltenberg gespielt; beide gehören der regierenden Arbeiterpartei an. Das israelische Kabinett befaßt sich auf einer Sondersitzung am 30.8. mit einem Grundsatzpapier ("Ghaza und Jericho zuerst") und stimmt der schrittweisen Einführung einer palästinensischen Selbstverwaltung mit 16 Stimmen bei zwei Enthaltungen zu. Premierminister Rabin erklärt im Anschluß an die Sitzung, er hoffe, daß die Übereinkunft mit den Palästinensern während der 11. Runde der Nahost-Friedensverhandlungen unterzeichnet werden könne, die am 31.8. in Washington beginnt. Die parlamentarische Opposition in Israel ruft zu Protestdemonstrationen auf, auch von Teilen der PLO wird die Vereinbarung mit Israel abgelehnt. Der PLO-Vorsitzende Arafat teilt am 4.9. im Hauptquartier der Organisation in Tunis mit, er verfüge über die Unterstützung aller wichtigen palästinensischen Organisationen für das Projekt der Teilautonomie. In naher Zukunft könnten Erklärungen über die gegenseitige Anerkennung zwischen Israel und der PLO ausgetauscht werden. Arafat nimmt Kontakt mit verschiedenen arabischen Regierungen auf, Peres führt Gespräche u.a. in Brüssel und Paris.

30.8.-1.9. - S c h w e i z. Auf Einladung der Regierung (Bundesrat) findet in Genf eine Konferenz über den Schutz der Kriegsopfer (International Conference for the Protection of War Victims) statt. Teilnehmer sind die Vertragsstaaten der vier Genfer Konventionen zum Schutz von Kriegsopfern von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977 sowie die übrigen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen und zahlreiche Beobachter. Die Konferenz, die auf eine Anregung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zurückgeht, endet mit einem Appell, der die Zunahme der Grausamkeiten in den kriegerischen Konflikten der Gegenwart verurteilt und zur Einhaltung und Durchsetzung der Normen des humanitären Völkerrechts und zur Verfolgung von Kriegsverbrechen aufruft. Die "ethnische Säuberung" wird als "abscheuliche Praxis" (odious practice) bezeichnet. Die Schweiz erhält den Auftrag, zur Weiterbearbeitung der in Genf diskutierten Probleme eine internationale Expertengruppe einzusetzen. 1.9. - U S A. Verteidigungsminister Aspin und der scheidende Stabschef Powell erläutern in Washington das Ergebnis einer Überprüfung der Streitkräfte (Bottom-Up Review) durch das Pentagon. Dabei stehe im Vordergrund, ob und mit welchem Aufwand die amerikanischen Streitkräfte sich gleichzeitig in zwei größeren regionalen Konflikten engagieren könnten. Die Studie nennt als Beispiel parallele Konflikte auf der koreanischen Halbinsel und im Nahen Osten. Der entscheidende Faktor sei die angestrebte Konzentration auf die verstärkte Mobilität der Truppen und die ständige Modernisierung ihrer technischen Arsenale. Die Mannschaftsstärke solle innerhalb der nächsten fünf Jahre von 1,7 auf 1,4 Mio., die Zahl der aktiven Divisionen von 14 auf 10 zurückgehen.

- U N O / N A T O. UN-Generalsekretär Boutros-Ghali und NATO-Generalsekretär Wörner treffen sich in Genf zu einem weiteren Meinungsaustausch (vgl. "Blätter", 6/1993, S. 646). In einer Pressemitteilung heißt es, Themen seien der Konflikt in Bosnien-Herzegowina und die Rolle der NATO bei der Unterstützung friedenserhaltender Maßnahmen (peace-keeping missions) der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien.

2.9. - U S A / R u ß l a n d. Der amerikanische Vizepräsident Gore und der russische Ministerpräsident Tschernomyrdin unterzeichnen in Washington eine Reihe von Abkommen über die Zusammenarbeit auf dem Energiesektor, in der Weltraumforschung und bei der Erdbeobachtung. In einem Memorandum erklärt sich Rußland bereit, das multilaterale Kontrollregime zur Nichtverbreitung von Raketentechnologien (MTCR) anzuwenden, dem neben den USA 22 weitere Staaten angehören.

3.9. - U k r a i n e / R u ß l a n d. Der ukrainische Präsident Krawtschuk und der russische Präsident Jelzin vereinbaren bei einer Begegnung in der Nähe von Jalta den Abzug der auf dem Territorium der Ukraine gelagerten Nuklearraketen und ihre Zerstörung auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Das Uran der 1800 Sprengköpfe solle zur Verwendung in ukrainischen Kernkraftwerken zurückerstattet werden. In Presseberichten heißt es weiter, die Ukraine verzichte auf die ihr zustehende Hälfte der ehemaligen sowjetischen Schwarzmeerflotte und erhalte dafür von Rußland einen Schuldenerlaß. Für die Benutzung der Marinebasis Sewastopol auf der Krim werde Rußland außerdem eine Pachtgebühr bezahlen.

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