Ausgabe November 1994

Chronik vom 6. September bis 5. Oktober 1994

6.9. - J u g o s l a w i e n. Die "Kontaktgruppe", der Vertreter der USA, Rußlands, Großbritanniens, Frankreichs und der Bundesrepublik angehören, hält eine Sitzung in Berlin ab (vgl. "Blätter", 9/1994, S. 1032 und 10/1994, S. 1160). Bundesaußenminister Kinkel erklärt, man bemühe sich, die aufgetretenen Differenzen innerhalb der Gruppe beizulegen und angesichts der amerikanischen Forderung nach Aufhebung des gegen Bosnien verhängten Waffenembargos einen Kompromiß zu finden. - Am 11.9. heißt es nach einer Zusammenkunft der Außenminister der Europäischen Union im Ostseebad Bansin, Frankreich und Großbritannien hätten angekündigt, im Falle der Aufhebung des Waffenembargos ihre Truppen aus Bosnien zurückzuziehen. - Am 13.9. beschließt die Kontaktgruppe in Genf die Entstehung von 135 zivilen Beobachtern nach Serbien und Montenegro, um die Einhaltung des über die bosnischen Serben verhängten Embargos zu überwachen. Der serbische Präsident Milosevic hatte zuvor seine Zustimmung gegeben. Die Beobachter stehen unter Leitung des pensionierten schwedischen Generals Bo Pellnas. Am 22.9. fordert das UN-Kommando der Vereinten Nationen in Bosnien erneut Luftunterstützung bei der NATO an. Der Angriff auf einen Panzer der bosnischen Serben im Raum von Sarajewo wird mit zahlreichen Übergriffen gegen die UN-Schutztruppe begründet. Das Oberkommando der bosnischen Serben spricht von einem "durch nichts gerechtfertigten und brutalen Angriff" und droht mit nicht näher bezeichneten Gegenschlägen. - Am 24.9. verabschiedet der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York drei Resolutionen, in denen u.a. eine erste Lockerung der Sanktionen gegen Serbien und Montenegro ("Restjugoslawien") zunächst für einen Zeitraum von 100 Tagen vorgesehen ist. Die Sanktionen gegen die bosnischen Serben sollen dagegen verschärft werden.

I r l a n d / G r o ß b r i t a n n i e n. Der irische Premierminister Reynolds empfängt im Regierungsgebäude in Dublin überraschend den Sinn Fein-Vorsitzenden Adams. Es handelt sich um die erste derartige Begegnung. Nach dem Treffen, das von den Unionisten Nordirlands heftig kritisiert wird, heißt es, beide Politiker hätten sich rückhaltlos zu demokratischen und friedlichen Mitteln zur Beilegung des Nordirland-Konflikts bekannt (vgl. "Blätter", 10/1994, S. 1162).

7.9. - E u r o p ä i s c h e U n i o n. Der französische Premierminister Balladur und der britische Premierminister Major äußern sich kritisch zu den von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgelegten "Überlegungen zur europäischen Politik" (vgl. "Blätter", 10/1994, S. 1162 und S. 1271 ff). Balladur erklärt vor dem Ministerrat in Paris, es sei nicht statthaft, von vornherein einseitig bestimmte Länder von einer engeren Zusammenarbeit in der Europäischen Union auszuschließen. Der britische Premier Major lehnt in einem Vortrag an der niederländischen Universität Leiden die Idee eines "Kerneuropas" ab. Eine Aufteilung in innere und äußere Kreise sei gefährlich, jedes Mitgliedsland der Union müsse selbst entscheiden können, an welchem Integrationsprojekt es teilnehmen wolle. Der Nationalstaat werde "auch weiterhin die grundlegende politische Einheit in Europa bleiben".

8.9. - B e r l i n. Die Bundesregierung verabschiedet die letzten der seit 1945 in den drei Westsektoren stationierten Truppenkontingente Frankreichs, Großbritanniens und der USA. Bei einer Gedenkfeier am Luftbrückendenkmal im Berliner Bezirk Tempelhof spricht Bundeskanzler Kohl von einem Tag des offiziellen Abschieds der Alliierten Schutzmächte aus Berlin. An einem Festakt im Schauspielhaus nehmen der französische Staatspräsident Mitterrand, der britische Premiester Major und der amerikanische Außenminister Christopher teil. Bundespräsident Herzog gibt für die Gäste einen Empfang auf Schloß Bellevue.

9.9. - U S A / K u b a. Vertreter der beiden Regierungen erzielen bei Verhandlungen in New York eine erste Übereinkunft zur Eindämmung der unkontrollierten Fluchtbewegung aus Kuba in die USA (vgl. "Blätter", 10/1994, S. 1161). Die Vereinigten Staaten verpflichten sich in diesem Zusammenhang, künftig pro Jahr mindestens 20 000 Einreisevisa für kubanische Emigranten zu erteilen.

11.9. - B r a n d e n b u r g. Die Sozialdemokraten unter Ministerpräsident Manfred Stolpe gehen mit einer absoluten Mehrheit bei einem Stimmengewinn von fast 16% aus den Landtagswahlen hervor. Die mit den Sozialdemokraten in einer 'Ampelkoalition' regierenden Parteien Bündnis 90 / Die Grünen (bisher 9,3%) und FDP (bisher 6,6%) scheitern an der Fünf-Prozent-Klausel. Die CDU muß starke Stimmenverluste hinnehmen und Liegt mit nur noch 58 Stimmen vor der PDS. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis entfallen (Angaben in %) auf die im Landesparlament vertretenen Parteien: SPD 54,1 (1990: 38,2), CDU 18,7 (29,4), PDS 18,7 (13,4). Die Wahlbeteiligung Liegt bei 56,2% (67,1%). Zusammensetzung des neuen Landtages (88 Abgeordnete): SPD 52 (36), CDU 18 (27), PDS 18 (13). (Zu den Ergebnissen der Wahl vom 14. Oktober 1990 vgl. "Blätter", 1/1991, S. 126.) 

S a c h s e n. Die alleinregierenden Christdemokraten unter Ministerpräsident Kurt Biedenkopf können bei den Landtagswahlen ihre bisherige absolute Mehrheit ausbauen. Bündnis 90/Die Grünen (bisher 5,6% der Stimmen) und die FDP (bisher 5,3%) scheitern an der Fünf-Prozent-Klausel und scheiden aus dem Parlament aus. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis entfallen (Angaben in %) auf die im Landesparlament vertretenen Parteien: CDU 58,1 (1990: 53,8), SPD 16,6 (19,1), PDS 16,5 (10,2). Die Wahlbeteiligung liegt bei 58,4% (72,8%). Zusammensetzung des neuen Landtages (120, bisher 160 Abgeordnete): CDU 77 (92), SPD 22 (32), PDS 21 (17). (Zu den Ergebnissen der Wahl vom 14. Oktober 1990 vgl. "Blätter", 1/1991, S. 127.)

13.9. - U N O. Die Internationale Konferenz der Vereinten Nationen für Bevölkerung und Entwicklung wird in Kairo nach kontroversen Diskussionen beendet. Die Konferenz (5.-13.9.) verabschiedet ein Aktionsprogramm, das in 16 Kapiteln Empfehlungen zur Stabilisierung des Bevölkerungswachstums und für eine nachhaltige Entwicklung in den kommenden 20 Jahren enthält. - Am 20.9. wählt die 49. Generalversammlung der Vereinten Nationen auf ihrer Eröffnungssitzung in New York den Außenminister der Elfenbeinküste Amara Essy zum Präsidenten. Der Organisation gehören gegenwärtig 184 Mitgliedstaaten an. Das Präsidium lehnt am 21.9. ab, die Frage der Aufnahme Taiwans ("Republic of China") in der Versammlung zu erörtern und einen entsprechenden Punkt in die Tagesordnung einzufügen. - Am 26.9. äußern sich die Präsidenten Clinton (USA) und Jelzin (Rußland) im Rahmen der traditionellen Generaldebatte. Clinton verteidigt seine Politik gegenüber Haiti und gibt Kenntnis von einer amerikanisch-russischen Vereinbarung, die Plutoniumproduktion bis zum Jahre 2000 einzustellen. Jelzin schlägt ein Abkommen der fünf nuklearen Großmächte zur Beendigung der Produktion und Wiederaufbereitung spaltbaren Matehals für militärische Zwecke vor. Bundesaußenminister Kinkel spricht am 27.9. als amtierender Ratspräsident der europäischen Union, der italienische Außenminister Martino am 29.9. in seiner Eigenschaft als amtierender Vorsitzender der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). 

N a h e r O s t e n. Ein Jahr nach Abschluß der Grundlagenvereinbarung über die palästinensische Autonomie (vgl. "Blätter", 11/1993, S. 1292 f.) unterzeichnen der israelische Außenminister Peres und der PLO-Vorsitzende Arafat in der norwegischen Hauptstadt eine "Erklärung von Oslo". Der israelische Rundfunk berichtet, die PLO bestehe zunächst nicht mehr darauf, Ostjerusalem in internationale Hilfsprojekte für die Palästinenser in den besetzten Gebieten einzubeziehen.

15.9. - H a i t i. Der amerikanische Präsident Clinton fordert die Militärmachthaber auf Haiti über das Fernsehen ultimativ zum sofortigen Rücktritt auf, anderenfalls werde Gewalt angewendet (vgl. "Blätter", 9/1994, S. 1034). - Am 16. 9. kündigt das Weiße Haus überraschend eine Reise des ehemaligen Präsidenten Carter nach Haiti an, Carter, der vom ehemaligen Stabschef General Powell und vom Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses Senator Nunn begleitet wird, verhandelt mehrere Tage in Port-au-Prince. Eine am 18.9. getroffene Vereinbarung mit der Junta sieht den Rücktritt der gegenwärtigen Militärführung, unter ihnen Juntachef Cedras, bis zum 15. Oktober d.J. und die Rückkehr des im Januar 1991 gewählten und im September 1991 gestürzten Präsidenten JeanBertrand Aristide vor. Vor diesem Termin soll das Parlament zusammentreten und eine Amnestie für die Putschisten beschließen (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen"). - Am 19.9. wird in New York der Rücktritt des UN-Sondergesandten für Haiti, Dante Caputo (Argentinien), mitgeteilt. Caputo werfe den USA vor, vor ihren Entscheidungen die Vereinten Nationen nicht ausreichend konsultiert zu haben. Am gleichen Tag landen die ersten US-Truppen auf Haiti. In Washington heißt es dazu, Aufgabe der Truppe sei die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung und die Gewährleistung der Machtübergabe an Präsident Aristide. - Am 29.9. beschließt der UN-Sicherheitsrat auf Antrag der Vereinigten Staaten, die gegenüber Haiti verhängten Sanktionen aufzuheben. Der Beschluß, der mit 13 Stimmen bei zwei Enthaltungen (Brasilien und Rußland) gefaßt wird, soll mit der Rückkehr von Präsident Aristide in Kraft treten.

25.9. - B a y e r n. Die alleinregierende Christlich-Soziale Union unter Ministerpräsident Edmund Stoiber verteidigt bei den Landtagswahlen trotz geringer Stimmenverluste ihre absolute Mehrheit. Die oppositionelle SPD unter ihrer erstmals angetretenen Spitzenkandidatin Renate Schmidt legt zu. Die FDP (bisher 5,2% der Stimmen) scheitert an der Fünf-Prozent-Klausel. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis entfallen (Angaben in %) auf die im Landesparlament vertretenen Parteien: CDU 52,8 (1990: 54,9), SPD 30,1 (26,0), Bündnis 90/Die Grünen 6,1 (6,4). Die Wahlbeteiligung liegt bei 67,9% (65,9%). Zusammensetzung des neuen Landtages (204 Abgeordnete): CDU 120 (127), SPD 70 (58), Bündnis 90/Die Grünen 14 (12). (Zu den Ergebnissen der Wahl vom 14. Oktober 1990 vgl. "Blätter" 1/1991, S. 125.)

27.-28.9. - U S A / R u ß l a n d. Nach einem kurzen Aufenthalt bei den Vereinten Nationen in New York kommt der russische Präsident Jelzin zu einem Gipfeltreffen mit Präsident Clinton nach Washington. Die beiden Präsidenten unterzeichnen eine "Gemeinsame Erklärung über strategische Stabilität und nukleare Sicherheit" ("Joint Statement on Strategic Stability and Nuclear Security") sowie Vereinbarungen über Handel und Investitionen. Jelzin und Clinton kommen überein, unmittelbar nach der noch ausstehenden Ratifizierung des START-II-Vertrages durch beide Seiten die laut Vertrag zu verschrottenden Waffensysteme kampfunfähig zu machen ("... to remove them from combatstatus").

29.9. - N A T O. Die Außenminister der Mitgliedstaaten treten am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York zu einer Sondersitzung zusammen und benennen den belgischen Außenminister Willy Claes als neuen Generalsekretär der Organisation. Claes tritt die Nachfolge des am 13. August d.J. in Brüssel verstorbenen Manfred Wörner (BRD) an. - Vom 29.-30.9. findet in der spanischen Stadt Sevilla ein informelles Treffen der NATOVerteidigungsminister statt. In Presseberichten heißt es, das Bündnis wolle künftig in Bosnien gegenüber den Serben eine "robustere Gangart" einschlagen, um seine Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen und den Friedensplan durchzusetzen. Meinungsverschiedenheiten habe es im Hinblick auf eine "Osterweiterung" der NATO gegeben. Erstmals seit dem Ausscheiden Frankreichs aus der militärischen Kommandostruktur im Jahre 1966 nimmt ein französischer Verteidigungsminister an der Zusammenarbeit teil.

4.10. - S ü d a f r i k a. Präsident Mandela erklärt auf einem Empfang im Weißen Haus in Washington, der wirtschaftliche Druck auf die regierende Minderheit in Südafrika habe den von seinem Vorgänger de Klerk eingeleiteten demokratischen Wandel wesentlich beeinflußt. Nach dem Kampf um die politische Gleichberechtigung gehe es jetzt darum, den Kampf gegen die Armut und Unwissenheit zu gewinnen. Mandela hält sich auf Einladung von Präsident Clinton zu seinem ersten Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten auf.

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