Ausgabe Dezember 1995

Chronik des Monats Oktober 1995

1.10. - P o r t u g a l. Die regierenden Sozialdemokraten (Partido Social Democrata/PSD) müssen bei den Parlamentswahlen mit 34% der Stimmen eine Niederlage hinnehmen und in die Opposition gehen. Die Sozialistische Partei (Partido Socialista/PS), seit zehn Jahren in der Opposition, verfehlt mit fast 44% der Stimmen nur knapp die absolute Mehrheit. Der Parteivorsitzende der Sozialisten, Antonio Guterres, tritt an die Spitze eines Minderheitskabinetts und erklärt dazu, er werde mit den Oppositionsparteien Vereinbarungen von Fall zu Fall treffen. Der bisherige Ministerpräsident Anibal Cavaco Silva (PSD) teilt am 10.10. mit, er werde für die Nachfolge von Präsident Mario Soares kandidieren, dessen Mandat im März 1996 ausläuft.

2.10. - B R D / U n g a r n. Bundeskanzler Kohl und der ungarische Ministerpräsident Horn unterzeichnen in Bonn eine "Gemeinsame Erklärung", in der es u.a. heißt: "Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn gehen davon aus, daß insbesondere der angestrebte Beitritt Ungarns zur Europäischen Union und zur NATO im beiderseitigen Interesse liegt und zugleich ein wichtiger Beitrag zur Sicherheit und Stabilität in ganz Europa darstellt."

3.10. - J u g o s l a w i e n. Vertreter der kroatischen Regierung und der kroatischen Serben erzielen eine vorläufige Vereinbarung über die Wiedereingliederung des von Serben kontrollierten Ostslawoniens in den kroatischen Staatsverband. Während einer unbefristeten Übergangsperiode sollen internationale Beobachter in der Region stationiert werden. An den Verhandlungen über die Vereinbarung in der Ortschaft Erdut hatten UN-Vermittler Stoltenberg und der amerikanische Diplomat Galbraith teilgenommen. - Am 4.10. greifen NATO-Kampfflugzeuge erneut Luftabwehrstellungen der bosnischen Serben an (vgl. "Blätter", 11/1995, S. 1284). Zur gleichen Zeit verhandelt der amerikanische Bosnien-Vermittler Holbrooke in Sarajewo und Belgrad über einen allgemeinen Waffenstillstand. Am 5.10. gibt der amerikanische Präsident Clinton in Washington den Abschluß eines Waffenstillstands zwischen den bosnischen Muslimen, Kroaten und Serben bekannt. Die Waffenruhe solle am 10.10. beginnen, anschließend seien Friedensgespräche zwischen den Kriegsparteien vorgesehen. In New York veröffentlicht das Hauptquartier der Vereinten Nationen am gleichen Tag eine Mitteilung über die Verkleinerung des Blauhelm-Kontingents in Bosnien. Von den bisher 30 500 Soldaten sollten zunächst 9 500 abgezogen werden. - Am 8.10. konferieren die Verteidigungsminister Gratschow (Rußland) und Ferry (USA) in Genf über die Modalitäten einer Beteiligung russischer Soldaten an einer geplanten multinationalen Friedenstruppe für Bosnien. Strittig bleibt die Frage einer gemeinsamen Kommandostruktur. - Am 9.10., kurz vor Inkrafttreten des Waffenstillstands, greifen NATO-Kampfflugzeuge mit lasergesteuerten Bomben erneut einen Kommandobunker der bosnischen Serben bei Tuzla an. - Am 12.10. führen der bosnische Ministerpräsident Silajdzic und Außenminister Sacirbey in Brüssel Gespräche mit der Kommission der Europäischen Union. Silajdzic fordert eine international konzertierte Aktion für den Wiederaufbau Bosniens, an der sich neben der EU auch die USA, Japan und die islamischen Länder beteiligen sollten. - Am 17.10. erklärt Holbrooke auf einer Sitzung der Bosnien-Kontaktgruppe in Moskau, sein Land werde keiner Vereinbarung zustimmen, die die NATO-Kommandostruktur für amerikanische Truppen in Bosnien nicht gewährleiste.

- U S A / K a s a c h s t a n. Beide Regierungen schließen in Washington ein Abkommen über die Stillegung des früheren sowjetischen Atomtestgeländes Semipalatinsk in Kasachstan, das als das größte Versuchsgelände der Welt gilt. Die USA stellen für die notwendigen Versiegelungsarbeiten einen Betrag von bis zu 171 Mio. Dollar zur Verfügung.

5.10. - N a h e r O s t e n. Der syrische Außenminister Faruk el Scharaa bezeichnet gegenüber seinem amerikanischen Kollegen Christopher in Washington den vollständigen Rückzug der Israelis vom Golan und aus der sogenannten Sicherheitszone im Libanon als Voraussetzung für einen Friedensschluß zwischen Syrien, dem Libanon und Israel. Der von Israel angebotene Teilrückzug genüge nicht. - Am 7.10. teilt der israelische Außenminister Peres nach einem Treffen mit dem PLO-Vorsitzenden Arafat in Erez mit, Israel werde noch im Oktober d.J. mit dem Abzug seiner Truppen aus dem Westjordanland beginnen. Der Abzug ist Teil des erweiterten Autonomieabkommens. Arafat fordert erneut die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen aus israelischer Haft. - Vom 29.-31.10. findet in der jordanischen Hauptstadt Amman eine Wirtschaftkonferenz statt. Themen sind die Entwicklung von Industrie und Handel, Infrastruktur, Investitionen und Finanzen in der Nahostregion und in Nordafrika. Die Konferenz steht unter der Schirmherrschaft der Präsidenten Rußlands und der USA.

5.-6.10. - N A T O. Die Verteidigungsminister der 16 Mitgliedstaaten treffen zu einem vertraulichen Meinungsaustausch in Williamsburg (Virginia / USA) zusammen. Erörtert wird u.a. die Frage, wie Rußland und andere Staaten, die der Nordatlantischen Allianz nicht angehören, an der militärischen Überwachung eines Friedensprozesses in Bosnien beteiligt werden können. In Presseberichten heißt es, ein "Doppelkommando" in Kooperation mit den Vereinten Nationen werde ausgeschlossen. Die geplante Aktion in Bosnien solle keinesfalls länger als ein Jahr dauern. - Am 20.10. tritt Generalsekretär Willy Claes mit sofortiger Wirkung zurück (zum Amtsantritt vgl. "Blätter", 11/1994, S. 1290). Dem sozialistischen Politiker werden Beteiligung bzw. Mitwisserschaft an einer Korruptionsaffäre während seiner Tätigkeit als belgischer Wirtschaftsminister in den Jahren 1988/89 vorgeworfen. Zuvor hatte das belgische Parlament mit 97 von 150 Stimmen in geheimer Abstimmung der Anklageerhebung gegen Claes zugestimmt, der jedoch alle Beschuldigungen bestreitet.

6.10. - I s r a e l. Das Parlament in Jerusalem ratifiziert mit der hauchdünnen Mehrheit von 61 gegen 59 Stimmen das zwischen Israel und den Palästinensern geschlossene Autonomieabkommen (vgl. "Blätter", 11/1995, S. 1286). Ministerpräsident Rabin (Arbeitspartei) hatte die Abstimmung zuvor mit der Vertrauensfrage verbunden.

11.10. - B u n d e s r e g i e r u n g. Bundesverteidigungsminister Rühe teilt nach einem Treffen mit Bundeskanzler Kohl und Bundesaußenminister Kinkel mit, die Bundesrepublik wolle sich mit 3 000 bis 4 000 Mann an der geplanten multinationalen BosnienFriedenstruppe beteiligen. Damit werde die Bundeswehr etwa zehn Prozent der Truppe stellen. Das Bundeskabinett faßt am 24.10. in Bonn einen entsprechenden Beschluß.

13.10. - B u n d e s r a t. Die vom Bundestag beschlossene Änderung des Grundgesetzes über die automatische Ankoppelung der Abgeordnetenbezüge an die Besoldung von obersten Bundesrichtern (vgl. "Blätter", 11/1995, S. 1286) findet im Bundesrat keine Mehrheit und kann daher nicht in Kraft treten. Von den 16 Bundesländern stimmen nur zwei (Bayern und Sachsen) dem Gesetz zu. Niedersachsen und Schleswig-Holstein stimmen mit Nein, die übrigen Bundesländer enthalten sich der Stimme.

- A b r ü s t u n g. Ohne einen Beschluß über das weltweite Verbot von "Anti-Personen-Minen" geht in Wien die Konferenz zur Überprüfung des VN-Waffenübereinkommens zuende (zur Eröffnung vgl. "Blätter", 11/1995, S. 1286). Die Beratungen sollen Anfang 1996 fortgesetzt werden. Verabschiedet wird ein Zusatzprotokoll über Laserwaffen ("Protocol an Blinding Laser Weapons"), das Einsatz und Weitergabe solcher Waffen beschränkt. - Am 20.10. kündigen die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA in einer gemeinsamen Erklärung ihre Absicht an, im ersten Halbjahr 1996 dem Vertrag über eine kernwaffenfreie Zone im Südpazifik vom 6. August 1985 (Vertrag von Rarotonga; Auszüge in "Blätter", 9/1985, S. 1139 ff.) beizutreten. - E U. Als erster baltischer Staat stellt Lettland einen formellen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Der lettische Präsident Ulmanis erklärt dazu, man sei sich der Schwierigkeiten auf dem Weg nach Brüssel bewußt. - Am 24.10. erklärt Kommissionspräsident Santer vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, die Kommission sehe keine Möglichkeit, vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg wegen der französischen Kernwaffenversuche im Pazifik zu klagen. Die Entscheidung der Kommission sei einstimmig getroffen worden.

14.-20.10. - B l o c k f r e i e B e w e g u n g. In der kolumbianischen Stadt Cartagena findet das 11. Gipfeltreffen der Blockfreien Bewegung statt, der nach der Aufnahme von Turkmenistan 112 Staaten angehören. Nach dem Ende des Kalten Krieges, so heißt es in einem "Ruf von Kolumbien" ("The Call from Columbia"), hätten sich viele Konflikte verschärft, ökonomische Fortschritte seien nur wenigen zugute gekommen und die Armut wachse unaufhaltsam. Die größten Waffenproduzenten nützten die Konjunktur aus, um ihre Exporte zu steigern. Den Industriestaaten des Westens werden "neokoloniale und protektionistische Tendenzen" vorgeworfen. Die Erklärung enthält außerdem die Forderung nach einer Demokratisierung der Organisation der Vereinten Nationen.

16.10. - Ö s t e r r e i c h / R u ß l a n d. Der stellvertretende russische Außenminister Sergej Krylow konferiert in Wien mit Generalsekretär Wolfgang Schallenberg vom österreichischen Außenministerium. Schallenberg erklärt anschließend vor der Presse, Österreich habe Rußland formell als "Fortsetzerstaat" der Sowjetunion anerkannt. Rußland stimme seinerseits der These zu, daß die Auslegung der Österreichischen Neutralität "ausschließlich" eine Sache Österreichs sei. Krylow bezeichnet vor der Presse den mit Österreich im Jahre 1955 abgeschlossenen Staatsvertrag der ehemaligen vier Besetzungsmächte als ein "politisches Dokument".

22.10. - B e r l i n. Verluste für die Große Koalition aus CDU und SPD, Gewinne für die Grünen und die PDS sind das Ergebnis der Wahlen zum Abgeordnetenhaus; die FDP (bisher 18 Abgeordnete) scheitert mit 2,5% der Stimmen an der Fünf-Prozent-Klausel. Die PDS, die in Westberlin nur rd. 2% der Stimmen erhält, ist im Ostteil der Stadt mit rd. 33% stärkste Partei. Die Wahlbeteiligung liegt bei 68,3% (1990: 80,8%). Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis (Angaben in %) entfallen auf die im Landesparlament vertretenen Parteien: CDU 37,4 (1990: 40,4), SPD 23,6 (30,4), PDS 14,6 (9,2), Bündnis 90/Grüne 13,2 (9,3). Zusammensetzung des neuen Abgeordnetenhauses (206 Abgeordnete, bisher 241 Abgeordnete): CDU 87 (101), SPD 55 (76), PDS 34 (23), Grüne 30 (23). (Zu den Wahlen vom 2. Dezember 1990 vgl. "Blätter", 2/1991, S. 255.)

22.-24.10. - U N O. Zum 50. Jahrestag des Inkrafttretens ihrer Charta halten die Vereinten Nationen in New York einen "Jubiläumsgipfel" ab. Die Mehrzahl der gegenwärtig 185 Mitglieder entsendet ihre Staats- oder Regierungschefs, die Bundesrepublik läßt sich durch Bundesaußenminister Kinkel vertreten. In einer zum Abschluß angenommenen Erklärung ("Declaration on the Occasion of the 50th Anniversary of the United Nations") wird an das Ziel der Organisation erinnert, "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren". Dieses Ziel sei heute ebenso wichtig wie vor 50 Jahren. Die Charta der Vereinten Nationen (Text in "Blätter", 10/1973, S. 1119 ff.) wurde auf der Konferenz von San Francisco (25. April bis 26. Juni 1945) ausgearbeitet und ist am 24. Oktober 1945 in Kraft getreten.

23.-24.10. - U S A / R u ß l a n d. Der amerikanische Präsident Clinton und der russische Präsident Jelzin treffen sich in Hydepark (New York) zu einem Meinungsaustausch. Jelzin erklärt bei dieser Gelegenheit noch einmal die russische Bereitschaft, an der Überwachung einer Friedenslösung in Bosnien teilzunehmen. Mit der Ausarbeitung von Einzelheiten seien die beiden Verteidigungsminister Perry und Gratschow beauftragt.

27.10. - N A T O / W E U. Die Nordatlantische Vertragsorganisation und die Westeuropäische Union schließen in Brüssel eine Vereinbarung ('Memorandum of Understanding'), die der WEU und ihren Mitgliedstaaten die Nutzung des NATO-Kommunikationssystems ermöglicht. Beide Organisationen haben ihren Sitz in der belgischen Hauptstadt.

30.10. - K a n a d a. Die Bevölkerung der französischsprachigen Provinz Quebec stimmt mit äußerst knapper Mehrheit (50,6 gegen 49,4%) für ein Verbleiben im kanadischen Staatsverband. Es handelt sich um die zweite Volksabstimmung innerhalb von 15 Jahren (vgl. "Blätter", 6/1980, S. 643). Der Premierminister von Quebec, Jacques Parizeau, der sich für eine Loslösung der Provinz ausgesprochen hatte, kündigt seinen Rücktritt an.

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