Ausgabe November 1995

Unter Blinden ist der Einäugige König

Wie gut man ist, das hängt davon ab, wie schlecht die anderen sind. Verglichen mit der SPD sind die Grünen ein Hort der Stabilität, ein Ausbund an Solidarität und eine Arena für Streitkultur. Verglichen mit der CDU sprüht die Partei vor Originalität. Und verglichen mit der FDP ist sie eine Volkspartei. Wir sehen also: alles ist relativ. Auch die Einschätzung der grünen Partei.

Ob und wie ihr Bild strahlt, das hängt auch ab vom Hintergrund, vor dem man es betrachtet. Der Hintergrund kann sich schnell verändern – und auf ihn hat die grüne Partei keinen Einfluß.

Es bringt daher nicht sehr viel, wenn man nur vergleichsweise solidarisch, vergleichsweise ökologisch, vergleichsweise diskussionsfreudig und vergleichsweise frisch und munter ist. Das kann nämlich auch heißen, daß man eigentlich schon ziemlich fad und ziemlich matt ist. Es kommt immer auf das Vergleichsobjekt an. Und wer beim Vergleich mit anderen nicht auf die Unterschiede, sondern auf die Ähnlichkeiten achtet, der bekommt möglicherweise ganz andere Eindrücke: Der kommt vielleicht darauf, daß die grüne Partei so konfliktscheu wird wie die CDU, so nachgiebig wird wie die SPD und so beliebig wie die FDP. Und er mag sich dann fragen, ob es das ist, was Joschka Fischer meint, wenn er sagt: „Wir werden regierungsfähig“.

November 1995

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