Ausgabe August 1996

Chronik des Monats Juni 1996

1.6. - T s c h e c h i e n. Aus den zweitägigen Parlamentswahlen (31.5./1.6.) geht die Demokratische Bürgerpartei (ODS) des Ministerpräsidenten Vaclav Klaus mit fast 30% der Stimmen (68 Mandate) erneut als stärkste Partei hervor. Die von der ODS geführte bürgerlichkonservative Koalition verfehlt jedoch mit 99 von 200 Mandaten die absolute Mehrheit. Große Gewinne verzeichnen die oppositionellen Sozialdemokraten (CSSD), die die Zahl ihrer Mandate um 45 auf 61 erhöhen können. Eine große Koalition wird sowohl von der Bürgerpartei wie auch von den Sozialdemokraten abgelehnt. Klaus erhält von Präsident Havel den Auftrag zur Bildung eines Minderheitskabinetts.

- U k r a i n e. Präsident Kutschma teilt in Kiew mit, die letzten der mehr als 4000 Atomsprengköpfe seien in das benachbarte Rußland transportiert worden. Damit erfülle die Ukraine termingerecht einen entsprechenden Vertrag mit Rußland und den USA (vgl. "Blätter", 3/1994, S. 266) und werde zum kernwaffenfreien Territorium. Kutschma appelliert an andere Atommächte, dem Beispiel seines Landes zu folgen.

2.6. - I s r a e l. Das Kabinett bereitet auf einer Sitzung unter Vorsitz des scheidenden Premiers Peres die Übergabe der Geschäfte an den künftigen Premierminister Netanyahu vor. In Presseberichten heißt es, Peres habe sich bei dieser Gelegenheit skeptisch über die Direktwahl des Regierungschefs durch die Bevölkerung geäußert (vgl. "Blätter", 7/1996, S. 774).- Am 17.6. bildet Netanyahu eine Koalition, die im Parlament über 62 der 120 Sitze verfügt.

3.6. - G U S. Die Präsidenten Armeniens, Aserbeidschans, Georgiens und Rußlands treffen in der südrussischen Stadt Kislowodsk zu einem "Kaukasus Gipfel" zusammen. In einer gemeinsamen "Erklärung über internationale Eintracht sowie wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit im Kaukasus" verurteilen die vier Staatschefs aggressiven Separatismus, religiösen Extremismus und Terror in allen Formen.

3.-4.6. - N A T O. Erstmals seit Gründung der Allianz im Jahre 1949 finden Tagungen von NATO-Gremien in Berlin statt. Zunächst tagt der Nordatlantikrat (3.6.), dem sich eine Zusammenkunft des Nordatlantischen Kooperationsrates (4.6.) anschließt. Der Nordatlantikrat befaßt sich mit den Richtlinien für ein neues alliiertes Streitkräftekommando (Combined Joint Task Forces/CJTF) und setzt eine Politische Koordinierungsgruppe (Policy Coordination Group/PCG) ein. An der Zusammenkunft des Kooperationsrates nimmt auch der amtierende Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Schweizer Außenminister Cotti, teil. - Am 13.6. finden in der belgischen Hauptstadt Tagungen der Verteidigungsminister sowie des VerteidigungsplanungsAusschusses und der Nuklearen Planungsgruppe statt. Der russische Verteidigungsminister Gratschow unterbreitet seinen NATO-Kollegen am 14.6. konkrete Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit. Im Anschluß an die Zusammenkunft in Brüssel erklärt Bundesverteidigungsminister Rühe, es seien Vorschläge von ausreichender Substanz gemacht worden, um den Dialog in der Sache weiter zu führen. Das Bündnis habe Rußland eingeladen, im europäischen NATO Hauptquartier einen ständigen Verbindungsstab einzurichten. Am 25.6. unterstützt der amerikanische Präsident Clinton vor den Präsidenten Brozauskas (Litauen), Meri (Estland) und Ulmanis (Lettland) in Washington den Wunsch dieser Länder nach einer Mitgliedschaft in der NATO. Sie könnten jedoch nicht die ersten sein, die aufgenommen würden. Am gleichen Tag heißt es in einer Stellungnahme aus Kiew, die Ukraine strebe einen "assoziierten Status mit der NATO" an. Der NATO-Vertrag kenne zwar gegenwärtig diesen Status nicht, doch sei er in einer "völlig anderen geschichtlichen Situation" unterzeichnet worden und daher veraltet. 4.6. - O A S. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) distanziert sich mit Mehrheit von dem verschärften Handelsembargo der USA gegenüber Kuba. Eine entsprechende Resolution wird auf der 26. Generalversammlung der Organisation in Panama City mit 23 Stimmen bei einer Gegenstimme (USA) und zehn Enthaltungen angenommen.

8.6. - O S Z E. Botschafter Giancarlo Aragona (Italien) wird zum neuen Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ernannt. Aragona ist Nachfolger des deutschen Diplomaten Wilhelm Höynck, der sein Amt nach dreijähriger Tätigkeit (vgl. "Blätter", 6/1993, S. 646) am 14.6. aufgibt.

- C h i n a. Auf dem Testgelände Lop Nor findet ein unterirdischer Kernwaffenversuch statt. Gleichzeitig heißt es in Peking, die Volksrepublik China werde sich ab September d.J. an einem Testmoratorium beteiligen.

10.6. - G r o ß b r i t a n n i e n / I r l a n d. In Anwesenheit des britischen Premierministers Major und des irischen Premierministers Bruton beginnen im Konferenzzentrum von Stormont Castle bei Belfast "All-Parteien-Gespräche" über die Lösung des Nordirland-Konflikts; den Vorsitz führt der ehemalige US Senator Mitchell. Für die Beteiligung von Vertretern der Sinn Fein, die von den Gesprächen ausgeschlossen bleiben, hatten Großbritannien und Irland die Wiederaufnahme des Waffenstillstands durch die Irisch-Republikanische Armee (IRA) zur Bedingung gemacht.

12.6. - B a d e n - W ü r t t e m b e r g. Der neue Landtag (zur Zusammensetzung vgl. "Blätter", 5/1996, S. 517 f.) wählt mit 81 von 155 Stimmen Erwin Teufel (CDU) wiederum zum Ministerpräsidenten. Die Entscheidung fällt erst im zweiten Wahlgang. Teufel steht an der Spitze einer Koalition von CDU und FDP.

13.-14.6. - J u g o s l a w i e n. Unter Vorsitz des italienischen Außenministers Dini erörtert eine Ministerkonferenz in Florenz die Durchführung des Friedensprozesses in Bosnien entsprechend dem Abkommen von Dayton vom Dezember v.J. (vgl. "Blätter", 2/1996, S. 133). Mehr als 20 Staaten sind durch ihre Außenminister vertreten. In einer Schlußerklärung wird das weitere Verbleiben des bosnischen Serbenführers Radovan Karadzic in einer öffentlichen Funktion ("public authority") als "unakzeptabel" bezeichnet. Karadzic wird aufgefordert, sich von der politischen Bühne zurückzuziehen. Am Rande der Konferenz wird am 14.6. ein umfangreiches "Abkommen über subregionale Rüstungskontrolle" unterzeichnet. Der Vertrag, dessen Anwendungsgebiet sich auf die Republiken Bosnien-Herzogowina und Kroatien sowie auf die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) erstreckt, trägt auch die Unterschriften der Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Rußlands und der USA. - Am 25.6. teilt Bundesrat Cotti (Schweiz) in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien mit, die Wahlen in Bosnien-Herzogowina auf gesamt-, teilstaatlicher und kommunaler Ebene sollten wie geplant am 14. September d.J. stattfinden. Die Bedingungen für freie Wahlen seien zwar nicht vorhanden, doch gebe es zu deren Durchführung keine überzeugende Alternative. Ein Aufschub der Wahlen könne den zentrifugalen Kräften in Bosnien Auftrieb geben und zu unkontrollierbaren Entwicklungen führen.

16.6. - R u ß l a n d. Im ersten Wahlgang zur Präsidentschaft in der Russischen Föderation kann keiner der Kandidaten die vorgeschriebene absolute Mehrheit erreichen. Der amtierende Präsident Boris Jelzin liegt mit 35% der Stimmen vor dem kommunistischen Kandidaten Gennadij Sjuganow mit knapp 32%. Es folgen Alexander Lebed (14,7), Grigorij Jawlinskij (7,4) und Wladimir Schirinowskij (5,8). Zu den fünf weiteren Kandidaten, die unter 1% liegen, gehört auch der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow. Ein zweiter Wahlgang wird für den 3. Juli d. J. angesetzt. - Am 18.6. ernennt Präsident Jelzin den früheren General Lebed zu seinem Sicherheitsberater und zum Sekretär des Sicherheitsrats. Gleichzeitig wird Verteidigungsminister Pawel Gratschow aus dem Amt entlassen. Später werden weitere führende Militärs ihrer Posten enthoben. - E U. Der britische Außenminister Rifkind schreibt in einem Beitrag für die Zeitung "Scotland on Sunday" zur Krise in der Europäischen Union (vgl. "Blätter", 7/1996, S. 774), das Verbot britischer Rindfleischexporte habe wenig dazu beigetragen, das Ansehen der Union "in unserem Land zu fördern". Es herrsche "große Frustration darüber, daß einige unserer Partner den Eindruck erweckt haben, bei der Beurteilung des BSE Themas mehr auf politische Rhetorik als auf wissenschaftliche Fakten zu setzen". - Vom 21.-22.6. tritt zum Abschluß der italienischen Präsidentschaft (1. Halbjahr 1996) der Europäische Rat in Florenz zusammen. Den anschließend veröffentlichten "Schlußfolgerungen des Vorsitzes" ist eine Reihe von Erklärungen beigegeben. In einer "Erklärung zu Rußland" heißt es, der Rat messe "der steten Fortentwicklung einer engen Beziehung und einer vertieften Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Rußland grundlegende Bedeutung bei. Die Regierung in Moskau werde aufgerufen, "das Wirtschafts- und Kooperationsabkommen, das die Grundlage für diese Beziehungen bildet, bald zu ratifizieren, damit es sobald wie möglich in Kraft treten könne. Der Rat befaßt sich außerdem mit dem "BSE-Konflikt und akzeptiert ein dazu von Großbritannien vorgelegtes "Rahmenprogramm" zur schrittweisen Lockerung des Exportverbots. Die Kommission wird aufgefordert, "entsprechende Entscheidungsvorschläge vorzulegen".

17.6. - A b r ü s t u n g. Die in Genf tagende ständige Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament/CD, bisher 38 Mitglieder) wird um 23 auf 61 Mitglieder erweitert. Zu den Neuaufgenommenen gehören Finnland, Österreich und die Schweiz, der Irak, Israel, Südafrika und Vietnam, die beiden koreanischen Staaten sowie Belarus (Weißrußland) und die Ukraine. Die neuen Konferenzteilnehmer verpflichten sich, für die Dauer von zwei Jahren Konsensentscheidungen nicht durch einen Einspruch zu blockieren. Am 28.6. legt ein Ad-hoc-Ausschuß der Abrüstungskonferenz einen unter Vorsitz des niederländischen Diplomaten Jaap Ramaker ausgearbeiteten Entwurf eines Vertrages über ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen (Comprehensive Test Ban Treaty/CTBT) vor. In Presseberichten heißt es, die endgültige Annahme sei vor allen am Einspruch Indiens gescheitert. Die Verhandlungen über eine Kompromißformel sollten am 29. Juli d.J. in Genf fortgesetzt werden.

- F r a n k r e i c h / U S A. Die Zeitung "Washington Post" berichtet über ein geheimes Abkommen zwischen beiden Ländern das den Austausch von Daten über computersimulierte Versuche mit Kernwaffen vorsehe. Die Vereinbarung sei nach zweijährigen Verhandlungen am 4.6. unterzeichnet worden. In Paris und Washington wird eine Stellungnahme zu dem Zeitungsbericht abgelehnt.

22.-23.6. - N a h e r O s t e n. Auf Einladung Ägyptens, SaudiArabiens und Syriens treffen sich die Mitgliedstaaten der Arabischen Liga in Kairo zu einer Gipfelkonferenz, um den Fortgang des Nahost-Friedensprozesses zu beraten; der Irak ist nicht eingeladen. In einer Schlußerklärung fordern die Teilnehmer Israel zu weiteren Verhandlungen auf. Jede Abweichung vom Prinzip "Land gegen Frieden" werde den Prozeß gefährden, wofür allein Israel die Verantwortung zu tragen habe. Die Erklärung verurteilt alle Versuche, den arabischen Charakter und den legalen Status Jerusalems zu verändern und wiederholt die Forderung nach einem vollständigen Rückzug Israels aus allen besetzten Gebieten. - Am 25.6. heißt es nach einer Unterredung des amerikanischen Außenministers Christopher mit dem neuen israelischen Ministerpräsidenten Netenyahu in Jerusalem die israelische Regierung sei bereit, den Dialog mit den Palästinensern fortzusetzen und Gespräche mit Syrien und dem Libanon ohne Vorbedingungen zu führen. In jedem Falle müsse Israels Sicherheit gewährleistet sein.

23.6. - C h i n a / B R D. Die Regierung der VR China sagt einen geplanten Besuch von Bundesaußenminister Kinkel in Peking ab. Unmittelbarer Anlaß ist eine Entschließung des Deutschen Bundestages vom 20.6., in der das Chinesische Vorgehen in Tibet verurteilt und die Bundesregierung aufgefordert wird, sich für einen Dialog der chinesischen Regierung mit dem Dalai Lama sowie der tibetischen Exilregierung einzusetzen. Die chinesische Botschaft in Bonn hatte die Resolution als Verleumdung und als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik bezeichnet.

27.-29.6. - W i r t s c h a f t s g i p f e l. Die Gruppe von sieben westlichen Industriestaaten (G-7) trifft sich in der französischen Stadt Lyon zu ihrem 22. Gipfel. Neben einem umfangreichen Kommuniqué wird eine gesonderte Erklärung veröffentlicht, die die Bekämpfung des Terrorismus als absolute Priorität bezeichnet. Konkrete Maßnahmen sollen auf einer Ministerkonferenz in Paris beschlossen werden. Das Kommuniqué fordert eine Reform der Organisation der Vereinten Nationen, die eine "fundamentale Rolle" bei der internationalen Zusammenarbeit spielen müsse. Die Gipfelteilnehmer treffen am 29.6. mit dem russischen Ministerpräsidenten Tschernomyrdin zusammen; Präsident Jelzin hatte mit Hinweis auf seine Wahlkampfverpflichtungen abgesagt.

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