Ausgabe November 1996

Chronik des Monats September 1996

1.9 - N a h e r O s t e n. Nach dem Eingreifen der irakischen Armee in die innerkurdischen Auseinandersetzungen im Norden des Landes (vgl. "Blätter", 10/1996, S. 1158) ordnet Präsident Clinton für die in der Golfregion stationierten amerikanischen Streitkräfte eine erhöhte Alarmbereitschaft an. In Bagdad heißt es dazu, Präsident Hussein habe bereits den Befehl zum Rückzug der Truppen aus der Stadt Erbil gegeben. Die türkische Nachrichtenagentur Anatolien meldet ergänzend, die irakische Armee habe die Kontrolle über die Stadt an Milizen der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) übergeben. - Am 2.9. bezeichnet ein Regierungssprecher in Washington den Rückzug der irakischen Truppen aus Erbil als belanglos. In der Nacht zum 3. 9. werden 27 Marschflugkörper von amerikanischen Schiffen und Flugzeugen aus auf Ziele im Südirak abgefeuert. Präsident Clinton kündigt die Ausdehnung der von den USA und ihren Alliierten nach Ende des Golfkrieges eingerichteten Flugverbotszone über dem Irak bis zu den südlichen Vororten Bagdads an. Damit solle die Fähigkeit der irakischen Streitkräfte, offensive Operationen auszuführen, begrenzt werden. Präsident Hussein reagiert mit der Erklärung, die irakischen Streitkräfte würden die Flugverbotszonen im Norden und im Süden des Landes nicht mehr anerkennen und fremde Flugzeuge angreifen. - Am 3.9. bezeichnet der russische Außenminister Primakow bei einem Besuch in der Schweiz die amerikanischen Luftangriffe gegen irakische Ziele als kontraproduktiv und von der Wahlkampfatmosphäre in den USA beeinflußt. Die Entwicklung in Kurdistan werde unnötig kompliziert, was eine verstärkte Destabilisierung einer höchst labilen Region bewirken könne. In einer Stellungnahme des französischen Außenministeriums heißt es, der Irak habe mit seinem militärischen Eingreifen in Kurdistan keine Resolution der Vereinten Nationen verletzt, sondern lediglich im Rahmen seiner Souveränitätsrechte gehandelt. - Am 4.9. findet im israelisch palästinensischen Verbindungsbüro am Grenzübergang Erez die immer wieder verschobene Begegnung zwischen Ministerpräsident Netanyahu und Palästinenserpräsident Arafat statt. Netanyahu betont Israels Verpflichtung zum Friedensprozeß, Arafat unterstreicht seinen Willen, mit der neuen israelischen Regierung zusammenzuarbeiten. - Am 5.9. greifen türkische Kampfflugzeuge kurdische Stützpunkte im Nordirak an. In Presseberichten heißt es, die Türkei strebe die Einrichtung einer "Sicherheitszone" in den kurdischen Gebieten an. US-Außenminister Christopher beginnt am gleichen Tag eine Europareise, um den Regierungen in London, Paris und Bonn das amerikanische Vorgehen gegen den Irak zu erläutern. - Am 9.9. trifft Ministerpräsident Netanyahu zu Gesprächen mit der amerikanischen Regierung in Washington ein. Im Mittelpunkt steht der Fortgang des Friedensprozesses im Nahen Osten, darunter die Wiederaufnahme der ausgesetzten israelisch-syrischen Verhandlungen. Netanyahu erklärt in diesem Zusammenhang, eine Rückgabe der Golan-Höhen an Syrien komme derzeit nicht in Frage (vgl. "Blätter", 10/1996, S. 1156). - Am 12.9. beschuldigt die irakische Regierung das benachbarte Kuwait, mit der Bereitschaft, amerikanischen Bombern die Zwischenlandung zu erlauben, einen Akt des Krieges zu begehen. Der Irak behalte sich die "legitime Selbstverteidigung" mit allen Mitteln vor. Auf Anordnung von Präsident Clinton, der sich auf einer Wahlkampfreise in Arizona befindet, gehen die Vorbereitungen für einen weiteren Militärschlag gegen den Irak weiter. Der Flugzeugträger "Enterprise" erhält Befehl, die amerikanische Präsenz in der Golfregion zu verstärken. - Am 13.9. heißt es in einer Stellungnahme aus Bagdad, die Angriffe auf Flugzeuge der USA und ihrer Alliierten im Norden und Süden des Landes seien "ausgesetzt". Die Entscheidung bedeute keine Anerkennung der Flugverbotszonen, die internationalem Recht widersprächen. - Am 18.9. genehmigt der israelische Verteidigungsminister Mordechai den Bau von 1800 Wohnungen in jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Mordechai führt am gleichen Tag in Erez ein Gespräch mit Arafat. - Am 24.9. löst die Fertigstellung und Öffnung eines unterirdischen Tunnels in der Nähe der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem durch die israelischen Behörden heftige Proteste der palästinensischen Bevölkerung aus. In den besetzten Gebieten kommt es zu teilweise bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der israelischen Armee und der palästinensischen Polizei mit Todesopfern und Verwundeten auf beiden Seiten. Ministerpräsident Netanyahu, der sich auf einer Europareise befindet, verkürzt seinen Aufenthalt in Bonn und kehrt vorzeitig nach Israel zurück. - Am 28.9. befaßt sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York auf Antrag Saudiarabiens mit der angespannten Situation und verlangt Schutz und Sicherheit für die palästinensische Bevölkerung sowie die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen auf der Basis der geschlossenen Vereinbarungen und die Einhaltung der gesetzten Termine. Die USA lassen die Resolution 1073 (1996) (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen" im vorliegenden Heft) bei Zustimmung der übrigen 14 Ratsmitglieder durch Stimmenthaltung passieren. - Am 29.9. lädt Präsident Clinton zu einem Gipfel nach Washington ein. Neben Netanyahu und Arafat erhalten auch der ägyptische Präsident Mubarak und König Hussein von Jordanien eine Einladung.

- R u ß l a n d. Ministerpräsident Tschernomyrdin teilt in Moskau mit, Präsident Jelzin billige das von seinem Sicherheitsberater Lebed ausgehandelte Friedensabkommen über Tschetschenien (vgl. "Blätter", 10/1996, S. 1157) in vollem Umfang. Vor seiner Reise in den Nordkaukasus erklärt Tschernomyrdin, der Einmarsch der russischen Truppen in Tschetschenien Ende 1994 "hatte und hat schwere Folgen". Die bisherigen Bemühungen zur Beilegung der Krise seien nicht konsequent genug gewesen. Sicherheitsberater Lebed gibt auf einer Pressekonferenz die Zahl der in Tschetschenien ums Leben gekommenen Personen mit 80 000 an; rund 240 000 Menschen seien verletzt worden. Bei den meisten Opfern handele es sich um Zivilisten. Lebed befürwortet gleichzeitig die territoriale Integrität Rußlands. - Am 10.9. überträgt Jelzin für die Zeit einer bevorstehenden Herzoperation einen Teil seiner Kompetenzen auf Ministerpräsident Tschernomyrdin. In einer Meldung der russischen Agentur Interfax heißt es, dies gelte zunächst für die Aufsicht über die "Schlüsselministerien", nicht jedoch für das Kommando über die Atomwaffen.

4.9. - B R D / R u ß l a n d. Der russische Außenminister Primakow führt in Bonn ein Gespräch mit Bundesaußenminister Kinkel. bei dem es u.a. um die nach wie vor unterschiedlichen Auffassungen über die geplante Osterweiterung der NATO geht. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz erklärt Primakow, Deutschland sei nicht nur eine europäische Macht, sondern eine Weltmacht. Rußland wolle deshalb mit Deutschland nicht nur über europäische Angelegenheiten reden. Ein aktuelles Thema sei der Irak. Kinkel vertritt die Ansicht, Entscheidungen über die neue europäische Sicherheitsarchitektur sollten nicht in einem "konfrontativen Prozeß" getroffen werden. - Am 7.9. besucht Bundeskanzler Kohl den erkrankten russischen Präsidenten Jelzin. Bei dem Gespräch der beiden Politiker in der Residenz Jelzins außerhalb von Moskau kommt auch die geplante Osterweiterung der NATO zur Sprache. Ein für Mitte Oktober d.J. geplanter Staatsbesuch von Bundespräsident Herzog in Moskau wird am 30.9. auf unbestimmte Zeit verschoben.

8.9. - J a p a n. Die Bevölkerung von Okinawa befürwortet mit großer Mehrheit die Reduzierung der amerikanischen Militarpräsenz auf der Insel. An einer entsprechenden Volksbefragung beteiligen sich 60% der Stimmberechtigten, die mit fast 90% für einen Teilabbau in den nächsten Jahren eintreten.

10.9. - A b r ü s t u n g. Die 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen billigt in New York auf einer ihrer letzten Sitzungen den im Rahmen der Abrüstungskonferenz in Genf ausgearbeiteten Vertrag über das Verbot von Nuklearversuchen ("Comprehensive Nuclear Test-Ban Treaty"). Die entsprechende Resolution 50/245 wird mit 158 gegen drei Stimmen (Bhutan, Indien und Libyen) bei fünf Enthaltungen (Kuba, Libanon, Mauritius, Syrien und Tansania) angenommen. Vor der Abstimmung bekräftigt Indien noch einmal seine ablehnende Haltung und läßt erklären, es werde "den ungerechten Vertrag" niemals unterzeichnen. Schon am ersten Tag der von UN Generalsekretär Boutros Ghali in seiner Eigenschaft als Depositar des Vertrages einberufenen Zeichnungskonferenz werden am 24.9. in New York 65 Unterschriften geleistet. Zu den Erstunterzeichnern gehört neben den fünf Atommächten China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und den USA auch die Bundesrepublik. (vgl. Chronik und Dokumentation in "Blätter", 10/1996)

12.9. - F r a n k r e i c h. Der französische Präsident Chirac befürwortet während eines Aufenthalts in Warschau den polnischen Wunsch nach Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Union. Das Jahr 2997 müsse diesen Prozeß unmittelbar einleiten. Für Paris werde Polen in der Union "die Schwester Frankreichs aus dem Osten" sein.

14.9. - J u g o s l a w i e n. Unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) finden Wahlen auf dem Territorium von Bosnien-Herzegowina statt. Gewählt werden Präsidium und Parlament des Gesamtstaates, Präsidium und Nationalversammlung der Serbischen Republik (Republika Srpska), das Repräsentantenhaus der Bosnisch-Kroatischen Föderation sowie die parlamentarischen Körperschaften der Kantone. Das vorläufige Wahlergebnis wird trotz festgestellter Unregelmäßigkeiten am 26.9. von der OSZE bestätigt. Das künftige Staatspräsidium besteht aus dem bosnischen Präsidenten Alija Izetbegovic, dem kroatischen Vertreter Kresimir Zubak und dem serbischen Vertreter Momcilo Krajisnik. Der Vorsitz, der nach dem Rotationsprinzip wechselt, geht zunächst an Präsident Izetbegovic, der bei der Wahl die meisten Stimmen erhalten hatte.

16.9. - T ü r k e i. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilt die Türkei im Zusammenhang mit dem Vorgehen der türkischen Streitkräfte gegen Bewohner der kurdischen Ortschaft Kelkci (Provinz Diyarbakir) in den Jahren 1992 und 1993, Die Armee habe die Menschenrechte auf schwerwiegende Weise verletzt. Sieben kurdischen Familien werden Entschädigungszahlungen zugesprochen.

- R u m ä n i e n / U n g a r n. Die Ministerpräsidenten Vacaroiu (Rumänien) und Horn (Ungarn) unterzeichnen in Timisoara (Temesvar) einen Grundlagenvertrag, der die gegenseitige Anerkennung der gemeinsamen Grenze vorsieht und Bestimmungen über die Rechte der Minderheiten enthält. Beide Seiten verzichten ausdrücklich auf territoriale Ansprüche dem Nachbarn gegenüber.

17.9. - U N O. Mit der Wahl von Botschafter Ismail Razeli (Malaysia) zum Präsidenten beginnt in New York die 51. Generalversammlung. Die umfangreiche Tagesordnung umfaßt 155 Punkte. Während der Generaldebatte begründet Außenminister Kinkel am 25.9. noch einmal den Anspruch der Bundesrepublik auf einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat, der von einer "großen Zahl von Mitgliedern" unterstützt werde. "Die Zeit rückt näher, in der die Generalversammlung entscheiden muß."

22.9. - G r i e c h e n l a n d. Die Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) unter dem amtierenden Ministerpräsidenten Konstantinos Simitis (zum Amtsantritt vgl. "Blätter", 3/1996, S. 262) geht aus den vorzeitig angesetzten Parlamentswahlen als stärkste Partei hervor. An zweiter Stelle liegt die Partei "Nea Dimokratia" unter ihrem Spitzenkandidaten Militiades Evert.

25.9. - U k r a i n e. Der Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrates Horbulin erklärt in Kiew, sein Land behalte sich vor, eigene neue Raketensysteme mit einer Reichweite von bis zu 500 km zu entwickeln. Falls es die eigene Sicherheit erfordere, müßten die eingegangenen Verpflichtungen revidiert werden. Horbulin fügt hinzu, er habe das Thema bei einem Besuch in Washington mit amerikanischen Regierungsstellen erörtert. - Am 26.9. teilt das Außenministerium mit, die Ukraine sei als Beobachter in die Blockfreie Bewegung aufgenommen worden.

26.9. - N A T O. Die Verteidigungsminister der Allianz führen in der norwegischen Stadt Bergen einen Meinungsaustausch mit dem russischen Verteidigungsminister Rodionow (zum Amtsantritt vgl. "Blätter", 9/1996, S. 1028). Nach der Zusammenkunft, an der auch NATO-Generalsekretär Solana teilnimmt, erklärt Rodionow, Rußland sei angesichts der Erweiterungspläne des Bündnisses besorgt und alarmiert. Nach wie vor sei man in Moskau von den friedlichen Absichten der NATO nicht überzeugt.

27.9. - A f g h a n i s t a n. Einheiten der islamistischen Taliban-Milizen dringen in die Hauptstadt Kabul ein. In Presseberichten heißt es, Präsident Burhanuddin Rabbani sei zusammen mit den Regierungstruppen geflüchtet. Der frühere Präsident Mohammad Najibullah (vgl. "Blätter", 6/1992, S. 644 f.) wird aus einem Gebäude der Vereinten Nationen entführt und öffentlich hingerichtet. Taliban-Führer Mullah Mohammad Omar setzt eine Übergangsregierung ein und er klärt, Afghanistan werde künftig ein strikt islamischer Staat sein. Der UN Sicherheitsrat appelliert in einer durch seinen Präsidenten am 28.9. in New York abgegebenen Erklärung an die Bürgerkriegsparteien, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten und in einen politischen Dialog einzutreten.

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