Ausgabe Juni 1997

Chronik des Monats April 1997

2.4. - S l o w a k e i. Die Regierung meldet in einer in Bratislava veröffentlichten Erklärung Bedenken gegen den von Tschechien angestrebten Beitritt zur Nordatlantischen Allianz an. Seit der Auflösung der Tschechoslowakei (vgl. "Blätter", 2/1993, S. 134) sei das Verhältnis der beiden unabhängigen Republiken nicht bereinigt worden. Nach den Beitrittsbedingungen der NATO dürften neue Mitglieder keine ungelösten Konflikte mit ihren Nachbarn haben. Die Tschechische Republik erfülle mit ihrem Verhältnis zur Slowakischen Republik diese Bedingung nicht. 

R u ß l a n d / B e l a r u s. Der russische Präsident Jelzin und der weißrussische Präsident Lukaschenko unterzeichnen im Kreml einen "Vertrag über die Union von Belarus und Rußland". Artikel 1 stellt fest, jeder Partner der Union behalte seine staatliche Souveränität und Unabhängigkeit, die eigene Verfassung sowie die anderen Attribute der Eigenstaatlichkeit. In einer anschließenden Presseerklärung Jelzins heißt es, die Wirtschaft bilde das Herzstück der neuen Union, der Weg zu einem gemeinsamen Staatshaushalt und zu einer gemeinsamen Währung sei jedoch noch lang.

4.4. - U S A. Die Regierung kündigt in Washington noch für das laufende Jahr zwei neuartige unterirdische Tests mit nuklearem Material an. Das Energieministerium erklärt dazu, die Versuche in der Wüste von Nevada seien für die Sicherheit und Verläßlichkeit der Atomwaffenlager unabdingbar. Es handele sich um chemische und nicht um atomare Explosionen, bei denen nur eine geringe Menge Plutonium eingesetzt werde. Die Experimente stünden nicht im Widerspruch zum Atomteststopp Abkommen vom September v.J. (vgl. "Blätter", 11/1996, S. 1287). 4.-8.4.

B l o c k f r e i e B e w e g u n g. In Neu Dehli findet die 12. Ministerkonferenz der Blockfreien Bewegung (Movement of Non-Aligned Countries) statt, der 113 Mitgliedstaaten angehören. In seiner Eröffnungsrede setzt sich der indische Premierminister Deve Gowda für eine Reform der Vereinten Nationen und eine stärkere Vertretung der Blockfreien im Sicherheitsrat ein. In einem umfangreichen Schlußdokument ist u.a. die Forderung nach einer völligen Abschaffung atomarer Waffen enthalten. Auf einer Sondersitzung zur Palästina-Frage hält Palästinenserpräsident Arafat eine Rede. In einer anschließend verabschiedeten Erklärung werden die Mitgliedstaaten aufgerufen, ihre Beziehungen zu Israel bis zur Fortsetzung des Friedensprozesses "einzufrieren".

5.4. - Z a i r e. Durch Vermittlung der südafrikanischen Regierung und in Anwesenheit eines Sonderbotschafters der Vereinten Nationen und der Organisation für Afrikanische Einheit kommt es auf neutralem Boden zu ersten direkten Kontakten zwischen Vertretern der Regierung von Präsident Mobutu und der Allianz Demokratischer Kräfte zur Befreiung Kongo-Zaires (AFDL). Die Gespräche ohne feste Tagesordnung werden in den Union Buildings von Pretoria eröffnet und am 6.4. an geheimgehaltenem Ort im der Nähe der Hauptstadt fortgesetzt. In einer Erklärung der Bürgerkriegsparteien heißt es: "Beide Seiten haben sich auf Verhandlungen geeinigt, bei denen eine friedliche politische Lösung des Konflikts gefunden werden soll." Der Delegierte der Allianz lehnt einen sofortigen Waffenstillstand ab und betont, Fortschritt und Entwicklung in Zaire könnten nicht ohne Demokratisierung und Freiheit erreicht werden. - Am 9.4. fordert Allianz-Chef Kabila nach der Einnahme der Stadt Lubumbashi den Präsidenten ultimativ zum Rücktritt und zu Verhandlungen über die Modalitäten der Machtübergabe auf. Falls er von Mubutu keim Signal erhalte, würden seine Truppen den Vormarsch an allen Fronten fortsetzen.

6.4. - N a h e r O s t e n. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu trifft in den USA ein, um mit Präsident Clinton über den Fortgang des Friedensprozesses in der Region zu beraten. Netanjahu führt auch ein Gespräch mit dem jordanischen König Hussein, der sich zur medizinischen Behandlung im US-Bundesstaat Minnesota aufhält. Am Vorabend der Begegnung zwischen Clinton und Netanjahu erklärt der amerikanische Vizepräsident Gore in einem Vortrag, kein Land solle versuchen, die Gespräche zwischen Israeli und Palästinensern zu beeinflussen: "Druck von außen wirkt nur kontraproduktiv und untergräbt den Friedensprozeß." Über den endgültigen Status von Jerusalem müßten die beiden Parteien selbst entscheiden, strittige Punkte müßten durch Geben und Nehmen gelöst werden. - Am 8.4. kündigt Außenminister Primakow nach einem Gespräch mit dem libanesischen Regierungschef Ralik Hariri in Moskau neue Initiativen an, um der Rolle Rußlands im nahöstlichen Friedensprozeß größeres Gewicht zu verleihen. Hariri war auch von Präsident Jelzin zu einem Meinungsaustausch im Kreml empfangen worden.

E U. Die Außenminister der Mitgliedstaaten beraten auf einer Klausurtagung im niederländischen Seebad Noordwijk über eine Reform der Europäischen Union. Bundesaußenminister Kinkel erklärt im Anschluß vor der Presse, über die künftige Zusammensetzung der EU-Kommission habe es eine heftige Debatte, aber keinerlei Annäherung der gegensätzlichen Standpunkte gegeben.

9.4. - U N O. Generalsekretär Annan setzt sich vor der UN-Menschenrechtskommission in Genf für eine weltweite Stärkung der Menschenrechte ein und fordert die Mitgliedstaaten eindringlich zur Ratifizierung der entsprechenden Konventionen auf. Kriegerische Auseinandersetzungen träten meist in Regionen und Ländern auf, in denen die Menschenrechte mißachtet würden. In einem Vortrag erläutert Annan am gleichen Tag seine Vorstellungen von einem Reform der Vereinten Nationen. Der Generalsekretär spricht von einer Vertrauenskrise der Weltorganisation. Im Gegensatz zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg habe es nach dem Ende des Kalten Krieges keine internationale Friedenskonferenz gegeben, auf der das Fundament einer neuen Friedensordnung gelegt worden sei. Eine solche neue Struktur der internationalen Beziehungen müsse deshalb pragmatisch und tastend erarbeitet werden. Annan weist auf zwei nur schwer zu vereinbarende Phänomene hin: den Zerfall staatlicher Strukturen, so z.B. in der ehemaligen Sowjetunion und in Afrika, sowie die gleichzeitige Globalisierung fast aller Bezüge der internationalen Politik. In diesem Umfeld müsse die UNO ihre Instrumente der präventiven Diplomatie ausbauen und verstärkt mit Regionalorganisationen zusammenarbeiten. - Vom 16.-18.4. stattet Annan der Bundesrepublik einen Antrittsbesuch ab. Als Thema der Gespräche in Bonn wird der deutsche Wunsch nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat genannt. Nach der Zusammenkunft mit Annan erklärt Bundesaußenminister Kinkel am 16.4., die Frage des Vetorechts stehe dabei nicht im Vordergrund. - Am 25.4. verabschiedet die Generalversammlung in New York auf ihrer 10. "Notstandssondertagung" (Emergency Special Session) mit 134 gegen drei Stimmen (Israel, Mikronesien, USA) bei elf Enthaltungen eine Resolution, die von Israel einen Baustopp in Ostjerusalem verlangt. Als einziges Land der Europäischen Union enthält sich die Bundesrepublik der Stimme.

10.4. - B R D / I r a n. Die iranische Regierung beruft ihren Botschafter in Bonn zu Konsultationen nach Teheran zurück. Anlaß der demonstrativen Geste ist ein Urteil des Berliner Kammergerichts vom gleichen Tag, in dem auf die Beteiligung staatlicher Stellen des Iran an der Ermordung kurdischer Exilpolitiker im Berliner Restaurant "Mykonos" im September 1992 hingewiesen wird. Die iranische Führung droht der Bundesrepublik mit weiteren Konsequenzen, es kommt zu einer diplomatischen Kontroverse zwischen beiden Hauptstädten und zu Demonstrationen vor der deutschen Botschaft in Teheran. Später beschließt auch die Europäische Union, die Botschafter der Mitgliedstaaten aus dem Iran vorübergehend abzuberufen. - Am 16.4. vertritt das religiöse Oberhaupt des Iran, Ayatollah Khamenei, vor Offizieren die Ansicht, die deutsche Bundesregierung sei Opfer einer Verschwörung der USA und des Zionismus geworden und müsse dafür einen hohen Preis zahlen. - Am 17.4. verurteilt der Bundestag in Bonn die Verwicklung des Iran in das Attentat als "einen eklatanten Bruch des Völkerrechts". In der Debatte wird mehrheitlich festgestellt, die Politik des "kritischen Dialogs" mit dem Iran sei gescheitert.

11.4. - J a p a n. Das Unterhaus billigt mit großer Mehrheit ein Gesetz, das die Verlängerung von Pachtverträgen auf der Insel Okinawa für den Bedarf der amerikanischen Streitkräfte auch gegen den Willen der Bodenbesitzer möglich macht. Die bisher geltenden Verträge wären am 14. Mai d.J. ausgelaufen.

16.-17.4. - B R D / R u ß l a n d. Der russische Präsident Jelzin kommt zu einem Kurzbesuch in die Bundesrepublik. Jelzin, der in Baden-Baden den deutschen Medienpreis entgegennimmt und mit Bundeskanzler Kohl zusammentrifft, kündigt die Unterzeichnung einer Charta zwischen Rußland und der NATO für den 27. Mai d. J. in Paris an

17.4. - A l b a n i e n. Regierung und Opposition einigen sich nach langen Verhandlungen auf den 29. Juni d.J. als Termin für vorgezogene Parlamentswahlen (vgl. "Blätter", 5/1997, S. 516). Umstritten bleibt zunächst der Wahlmodus. Die Einigung wird durch den OSZE-Vermittler, den früheren österreichischen Bundeskanzler Vranitzky, in Tirana bekanntgegeben.

18.4. - W E U. Der Generalsekretär der Westeuropäischen Union, Jose Cutileiro, bezeichnet in Wien eine Vollmitgliedschaft aller EU-Staaten in WEU und NATO als "sehr wünschenswert". Cutileiro trifft während seines Aufenthalts in der österreichischen Hauptstadt mit Bundespräsident Klestil, Bundeskanzler Klima und anderen Kabinettsmitgliedern zusammen. 

B R D / P o l e n. Bundeskanzler Kohl empfängt in Bonn den polnischen Präsidenten Kwasniewski zu einem Meinungsaustausch. Kwasniewski wiederholt in einer Rede vor der Konrad-AdenauerStiftung den Wunsch Polens nach baldiger Aufnahme in die Nordatlantische Allianz und die Europäische Union. Für Polen sei ein gleichberechtigter Status für die neuen NATO-Mitglieder wichtig, eine Mitgliedschaft "zweiter Klasse" wäre nicht hinnehmbar.

20.4. - B u l g a r i e n. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen (vgl. "Blätter", 4/1997, S. 388) erhält ein von der Union Demokratischer Kräfte (SDS) geführtes Bündnis 52% der Stimmen und 137 von 240 Parlamentssitzen. Auf die bisher mit absoluter Mehrheit regierenden Sozialisten entfallen 22% der Stimmen und 58 Sitze. Im Parlament vertreten sind ferner die Allianz der Nationalen Rettung (19 Sitze) sowie die Euro-Linke (14 Sitze).

21.4. - F r a n k r e i c h. Staatspräsident Chirac macht von seinen Vollmachten nach Art. 12 der Verfassung Gebrauch, löst die Nationalversammlung vorzeitig auf und setzt Neuwahlen für den 25. Mai (1. Wahlgang) und den 1. Juni d.J. (2. Wahlgang) an. Zur Begründung verweist der Präsident in einer Fernsehansprache auf die Tragweite der Veränderungen, "die in den nächsten fünf Jahren erfolgen werden": "Um diese neue Etappe anzugehen, brauchen wir eine erneuerte Mehrheit, die über die dafür notwendige Zeit verfügt." Zu den "wichtigen Entscheidungen" der nächsten Monate gehöre "der Übergang zur einheitlichen Währung, die wir unbedingt brauchen, wenn wir uns als eine große wirtschaftliche und politische Macht festigen wollen, mit einem Euro, der vergleichbar ist mit dem Dollar und dem Yen".

22.4. - R u ß l a n d / C h i n a. Staats und Parteichef Jiang Zemin reist zu einem Gipfeltreffen mit Präsident Jelzin nach Moskau. Die beiden Präsidenten vereinbaren am 23.4. ein außenpolitisches Dokument, in dem sie sich für eine multipolare Weltordnung aussprechen. (Vgl. Dokumententeil in diesem Heft)

22.-23.4. - N A T O. Der Militärausschuß der Allianz verabschiedet auf einer Sitzung in Brüssel Berichte zu den zwölf Beitrittskandidaten, die als Entscheidungsgrundlage für spätere Beschlüsse des NATO-Rats dienen sollen. Weitere Themen der Sitzung sind die interne Reform der Allianz sowie der Ausbau der "Partnerschaft für den Frieden".

24.4. - B R D / T s c h e c h i e n. Der tschechische Präsident Havel wertet in einer Rede vor dem Bundestag in Bonn die deutschtschechische Erklärung vom 20. Dezember 1996 (Text in "Blätter", 2/1997, S. 247 ff.) als historische Chance zur Aussöhnung zwischen beiden Völkern. Die Erklärung sei kein "Zauberstab", doch habe sie Befreiung von der "Angst vor der Wahrheit" gebracht. Bundespräsident Herzog geht am 29.4. vor beiden Kammern des Parlaments in Prag auf die Rede Havels ein und weist auf die vielfältigen Berührungspunkte tschechischer und deutscher Geschichte hin. Während die Betroffenen die Vergangenheit meist aus einer subjektiven Perspektive betrachteten, müßten sich die Historiker um eine objektive Sichtweise bemühen.

29.4. - A b r ü s t u n g. Das Übereinkommen über das Verbot und die Vernichtung chemischer Waffen vom Januar 1993 tritt in Kraft (vgl. "Blätter", 1/1997, S. 4). Bis zum Stichtag hatten 88 Unterzeichnerstaaten den Vertrag ratifiziert, darunter die Bundesrepublik (Hinterlegung der Urkunde am 12. August 1994) sowie vier der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates (China, Frankreich, Großbritannien, USA). Das russische Parlament hatte in einer Erklärung vom 25.4. eine Ratifizierung bis zum Herbst 1997 in Aussicht gestellt und als Grund der Verzögerung fehlende Haushaltsmittel für die Vernichtung der vorhandenen Waffenbestände genannt.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo