Ausgabe April 1998

Nach Hannover: Neue Mitte oder alte Fehler

Ab sofort sei sie die „Neue Mitte Deutschlands“, sagt die SPD. Unter wahlkämpferischen Aspekten ist das im Grunde noch keine spektakuläre Aussage. So gut wie alle Parteien drängen in die gesellschaftliche Mitte, denn da sind die frei flottierenden Wählerstimmen. Sozialstrukturell sind es die flexiblen, politisch häufig eher ungebundenen „neuen Mittelschichten“, deren politische Präferenzen am Wahltag darüber entscheiden, welche der beiden großen Parteien ihrem volksparteilichen Anspruch am ehesten gerecht wird und über ihre Stammwählergruppen hinaus weitere Wähler an sich bindet. Zwar können sich die Parteien auf ihre Traditionswähler noch immer verlassen: Auch 1994 stimmten noch 60 Prozent der Arbeiter mit Gewerkschaftsbindung für die SPD und 74 Prozent der kirchennahen Katholiken für die Union. Das Problem dabei ist nur, daß es sich bei beiden Gruppen wenn auch nicht um aussterbende Spezies, so doch um stark schrumpfende gesellschaftliche Milieus handelt. Vor vier Jahren machten sie gerade noch 13 Prozent der SPD-Stimmen und 14 Prozent der Stimmen von CDU/CSU aus.

Ohne Mehrheiten in den parteiungebundenen Mittelschichten, die mittlerweile mehr als die Hälfte des Elektorats ausmachen, sind Wahlen daher schon lange nicht mehr zu gewinnen. Daß Erfolg oder Niederlage „von dem Ergebnis dieser Beeinflussung der Mittelschichten abhänge“, war Konrad Adenauer schon 1946 klar. Die sozialdemokratische Konkurrenz tat sich da schwerer, und bereits bei der Bundestagswahl 1953 erreichte die CDU in den Mittelschichten einen höheren Mobilisierungsgrad als die SPD selbst in der Arbeiterschaft. Im öffentlichen Bewußtsein konnte sich die Union damit so frühzeitig wie dauerhaft als die „große Volkspartei der Mitte“ etablieren. Das war ingeniös und erklärt zu guten Teilen, weshalb die Union – mit einer einzigen Ausnahme 1972 – bei Bundestagswahlen stets erfolgreicher abgeschnitten hat als die SPD. […]

 

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