Ausgabe Mai 2002

Der zweite Stiefel

Es gibt diesen klassischen Witz von einem alten Juden, der jede Nacht durch zwei dumpfe Schläge an die Wand geweckt wird. Schuld daran ist sein Nachbar, der seine Stiefel in hohem Bogen von sich schleudert, wenn er von der Spätschicht nach Hause kommt. Eines Tages trifft der alte Mann seinen Nachbarn auf dem Gang und klagt über die allnächtliche Tortur. Als der Arbeiter an diesem Abend nach Hause kommt, wirft er aus Gewohnheit den ersten Stiefel an die Wand, dann fällt ihm das Gespräch mit dem alten Mann wieder ein. Behutsam zieht er den zweiten Stiefel aus, stellt ihn unter das Bett und legt sich schlafen. Zwei Stunden später wecken ihn verzweifelte Rufe aus dem Zimmer nebenan: "Wann werfen Sie denn endlich den zweiten Stiefel?"

Wenn ich die Reden der Kreml-Bürokraten höre, Interviews mit ihnen lese und ihre Fernsehauftritte sehe, muss ich aus irgendeinem Grund stets an jenen alten Juden denken. Schon eine ganze Zeit lang scheint es, als warteten die russischen Behörden auf allen Ebenen gespannt darauf, dass der zweite Stiefel endlich an die Wand knallt. Der erste Schlag erfolgte im letzten Sommer, als die Ölpreise zu fallen begannen. Die veränderte Wirtschaftskonjunktur schien plötzlich all die Probleme sichtbar zu machen, die zu lösen eineinhalb Jahre lang niemand auch nur versucht hatte.

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