Ausgabe Dezember 2005

Reaktionäres Lehrstück

Es gibt grundsätzlich zwei Weisen, mit denen sich das Kino der Realität nähern kann und die ihre je immanenten Regeln haben: Zum einen kann es in die Wirklichkeit eindringen, ihr Inneres mit dem Zweck bloßlegen, die Folgen einer (fehlgeleiteten) Entwicklung deutlich werden zu lassen. Zu diesem Zweck ist es nötig, diese Realität zur Richtschnur der Darstellung zu nehmen; die erzählte Geschichte muss in einer bestimmten Weise „wahr“ sein. Die andere Möglichkeit könnte man mit dem Begriff „Allegorie“ charakterisieren; hier tritt die bewusste Konstruktion an die Stelle des Vorfindbaren. Die erzählte Geschichte soll als ein Lehrstück dienen, etwas beweisen, ein höheres Wissen um die Gesetze des menschlichen Daseins vermitteln.

Natürlich gibt es die verschiedensten Ausprägungen dieser künstlerischen Alternativen, auch solche, die sich einander annähern. Im Falle von Lars von Triers beiden ersten Filmen seiner Amerika-Trilogie, Dogville von 2003 und dem gerade erschienenen Manderlay, kann es dagegen keinen Zweifel geben: Es sind Lehrfilme der reinsten Art. In ihnen wird die Handlung auf einer im Studio aufgebauten Spielfläche „aufgeführt“, auf der die Orte (Zimmer, Höfe etc.) nur durch Kulissenfragmente und Grundrisse auf dem Bühnenboden angedeutet sind. Nicht vorhandene Türen werden gestisch geöffnet und geschlossen, der Soundtrack liefert das Geräusch dazu.

Sie haben etwa 30% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 70% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo