Ausgabe Juni 2021

Umkämpfte Patente: Die globale Impfstoff-Apartheid

Ein Mitarbeiter des britischen Gesundheitswesens bereitet in einem Impfzentrum in London eine Dosis des Impfstoffs von Pfizer vor, 15. Mai 2021 (IMAGO / ZUMA Wire)

Bild: Ein Mitarbeiter des britischen Gesundheitswesens bereitet in einem Impfzentrum in London eine Dosis des Impfstoffs von Pfizer vor, 15. Mai 2021 (IMAGO / ZUMA Wire)

Als Mitte Mai 2020 die Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wegen der Coronapandemie erstmals seit ihrer Gründung im Jahr 1948 nur virtuell stattfinden konnte, versprachen die Regierungen der reichen Industriestaaten dem „Rest“ der Welt ihre Solidarität bei der Bekämpfung von Covid-19 und eine globale gerechte Verteilung von Impfstoffen. Auf einem nachfolgenden Gipfeltreffen der EU bekräftigte Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit vielen hehren Worten dieses Versprechen. Schon damals stießen diese Ankündigungen bei manchen Beobachter*innen auf große Skepsis, weil die konkret beschlossenen Maßnahmen zu ihrer Umsetzung höchst unzureichend erschienen.

Die Skepsis war leider nur zu berechtigt: Im Spätherbst 2020 wurden für die ganze Welt der Egoismus und Nationalismus offensichtlich, mit dem die G 7-Staaten und die EU bei der Produktion, Beschaffung und (Nicht-)Verteilung von Impfstoffen bis heute vorgehen. Bis zum 15. Mai dieses Jahres – genau ein Jahr nach der WHO-Generalversammlung von 2020 – hatten sich die G 7-Staaten inklusive der EU über die Hälfte aller bis dato verfügbaren Impfdosen gesichert, obwohl sie nur 13 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Auch über die Hälfte aller bereits verabreichten Impfungen erfolgte in diesen Ländern, während in 130 der 194 UNO-Staaten noch keine einzige Person geimpft wurde.

Insgesamt hatten bis Mitte Mai dieses Jahres 820 Millionen Menschen weltweit zumindest den ersten schützenden Stich in den Oberarm bekommen. Davon leben 88 Prozent in den Industriestaaten des Nordens und nur 0,2 Prozent in den 50 nach UNO-Definition ärmsten, weil nach UN-Definition „am wenigsten entwickelten“ Ländern. Bleibt es bei dieser globalen Impfstoff-Apartheid können alle Menschen in den G 7-Staaten sowie in Israel, Australien und Neuseeland bis spätestens Ende des Jahres vollständig geimpft sein, im „Rest“ der Welt jedoch maximal ein Fünftel der Bevölkerung.

Weil sie genau diese Situation befürchteten, hatten Indien und Südafrika bereits im September 2020 bei der Welthandelsorganisation (WTO) die vorübergehende Aussetzung der Patentrechte der großen Pharmakonzerne beantragt, um so eine deutlich erhöhte globale Produktion und beschleunigte gerechte Verteilung von Impfstoffen zu ermöglichen. Eine derartige Aussetzung im Fall einer internationalen Gesundheitsnotlage lässt das seit 1994 existierende Abkommen zum Schutz handelsbezogener geistiger Eigentumsrechte (Trade Related Aspects of Intellektuell Property Rights, TRIPS) ausdrücklich zu. Der indisch-südafrikanische Antrag wird zwar von über 120 WTO-Mitgliedstaaten unterstützt, wurde jedoch von den G7-Staaten, der EU sowie Australien, Norwegen und Brasilien in sechs Beratungs- und Verhandlungsrunden seit September 2020 blockiert. Nachdem die Biden-Administration Anfang Mai ihren Widerstand aufgab und sich für eine Aussetzung der Patente aussprach, schwenkten auch Australien und die EU-Mitglieder Frankreich und Polen auf diese Linie ein. Doch die EU-Kommission und die deutsche Bundesregierung bekräftigten ausdrücklich ihre Ablehnung. Eine Aussetzung von Patentrechten bringe „kurzfristig keine Lösung“, so Bundesaußenminister Heiko Maas ausgerechnet auf dem Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt. Er erwarte „nicht, dass bei einer Patentfreigabe in Palästina, in Mali oder am Amazonas die Impfstoffproduktionen aus dem Boden sprießen“ – eine denkbar unqualifizierte, ja zynische Aussage, nachdem auch wegen des Widerstandes der Bundesregierung seit Einbringung des indisch-südafrikanischen Antrag in der WTO bereits acht Monate verstrichen sind. Für den 7. Juni ist nun die nächste Verhandlungsrunde bei der WTO in Genf anberaumt.

Die Gegenwehr der Pharma-Lobby

Die Kurskorrektur der Biden-Administration erfolgte, nachdem die USA – im Unterschied zur EU– zunächst alle verfügbaren Impfstoffe für die eigene Bevölkerung eingesetzt und Exporte in andere Länder verweigert hatten. Ausschlaggebend war nach Darstellung von US-Diplomat*innen zum einen die Einschätzung in Washington, dass die USA von einer Fortdauer der Pandemie außerhalb ihrer eigenen Grenzen wegen des starken Reise-und Handelsverkehrs mit Brasilien, Indien und anderen Corona-Hotspots in Lateinamerika und Asien noch stärker betroffen wären als die EU-Staaten. Zum anderen wolle man den Impfstoff-Angeboten, die Russland und China den Ländern des Südens machen, etwas entgegensetzen.

Die Kurskorrektur der Biden-Administration stieß prompt auf Kritik der Pharmaindustrie in den USA wie in Europa. Haupteinwand gegen eine Aussetzung der Patentrechte: Die Pharmaindustrie würde, nachdem sie Milliarden in Forschung und Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gesteckt habe, um ihre Gewinne geprellt. Damit entfalle auch der Anreiz für künftige Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten der Konzerne.

Zumindest im Fall der Corona-Impfstoffe sind diese Behauptungen falsch. Nach Recherchen der Zürcher Wochenzeitung „WOZ“ zur Entwicklung der Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna kamen die dafür benötigten Gelder fast ausschließlich aus öffentlichen Steuerkassen der USA, Frankreichs und zuletzt auch der übrigen EU-Staaten. Die Impfstoffe von Moderna und Biontech gehen auf einen Durchbruch im Jahr 1961 zurück: Wissenschaftler*innen gelang es nach jahrelanger Forschung an öffentlichen Einrichtungen in den USA und Frankreich die Messenger-RNA (mRNA) nachzuweisen, eine Art Bote, der genetische Informationen in die Zellen des Körpers bringt und damit dort den Aufbau von Proteinen ermöglicht. Doch erst 1990, als zu diesem Thema bereits tausende öffentlich zugängliche Artikel erschienen waren, konnten Forscher*innen an der Universität im US-Bundesstaat Wisconsin diesen Aufbau von Proteinen erstmals nachweisen, nach dem Einspritzen von mRNA bei Mäusen. 1993 waren Forscher*innen des französischen Gesundheitsministeriums schließlich mit dem Versuch erfolgreich, mittels mRNA in Mäusen Proteine von Viren nachzubilden, gegen die das Immunsystem Antikörper bildet.

In den 90er Jahren waren diese Erfolge der bis dato ausschließlich mit öffentlichen Geldern finanzierten Grundlagenforschung Thema zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Kongresse. Daher ist die auch von der Pharmaindustrie sowie von Medien und Politiker*innen in Deutschland verbreitete Darstellung falsch, die mRNA-Forschung sei eine Art brachliegendes Feld gewesen, das Moderna und Biontech erst zum Blühen gebracht hätten. Die heutigen Hersteller von Impfstoffen gegen Covid-19 stiegen erst später ein. Den Anfang machte im Jahr 2000 das Tübinger Unternehmen CureVac, das mit einer Zulassung seines Impfstoffs durch die EU bis Ende Juni 2021 rechnet. Biontech kam erst 2008 und Moderna 2010 dazu. An der Gründung dieser Unternehmen waren Professoren führend beteiligt, die die Ergebnisse ihrer bis dato öffentlich finanzierten Forschung nun mit den Impfstoffen in viel Geld umwandeln: bei Biontech Ugur Sahin, Onkologe an der Universität Mainz, und bei Moderna Timothy Springer und Derrick Rossi von der Harvard-Universität sowie Robert Langer vom Massachusetts-Institut für Technologie (MIT).

Diese Unternehmen konnten die wissenschaftlichen Erfolge der 1960 bis 1990er Jahre, die nie patentiert wurden, einfach übernehmen. 2014 stellte Biontech die ungarische Professorin Katalin Kariko an, die nach 25jähriger, öffentlich finanzierter mRNA-Forschung an der Universität von Pennsylvania eine Methode entwickelt und patentiert hatte, um die mRNA so zu modifizieren, dass sie in den Körper gelangen kann, ohne Entzündungen hervorzurufen. Ihr Patente wurde von Biontech übernommen. Den letzten wichtigen Schlüssel zur Entwicklung ihrer Impfstoffe holten sich Biontech und Moderna aus den vom US-Gesundheitsministerium mit Steuergeldern finanzierten National Institutes of Health (NIH): Lizenzen für die 2016 von dem NIH-Virologen Barney Graham an der Universität von Texas entwickelte Methode, stabile Spikeproteine von Viren nachzubilden. Dank dieses Durchbruchs kann mit der mRNA auch der Bauplan von Corona-Spikeproteinen in den Körper geschleust werden, damit das Immunsystem Antikörper bildet.

Ob und wie viel die Firmen für Lizenzen bezahlt haben, beantworten sie auch auf mehrfache Anfrage nicht. Anhaltspunkte finden sich allerdings in ihren Berichten für die US-Börsenaufsicht. Darin erwähnten Moderna und Biontech/Pfizer lediglich das Patent zur modifizierten mRNA, um Entzündungen auszuschalten. Moderna zahlte dafür laut eigenem Geschäftsbericht lediglich einen „tiefen einstelligen“ Prozentsatz seiner Verkaufsumsätze. Das sei der übliche Preis, erklärt Jorge Contreras, Patentspezialist und Professor an der Universität Utah.

Nach der Übernahme der Ergebnisse von Forschungen und Entwicklungen, die seit den 1960er Jahren mit vielen Milliarden US-Dollar, Francs und Euros aus öffentlichen Kassen finanziert wurden, hat Moderna seit dem Börsengang 2016 bis 2019 lediglich zwei Mrd. US-Dollar für eigene Forschung ausgegeben – wovon wiederum ein Teil öffentlich finanziert wurde – und Biontech maximal eine Mrd. Dollar. Das sind die gesamten Ausgaben, nicht alles davon ist in die Entwicklung von Corona-Impfstoffen geflossen.

Im Jahr 2020 wendete Biontech/Pfizer zwar 1,5 Mrd. zur Entwicklung des Impfstoffes auf, erhielt jedoch zugleich von den Regierungen Deutschlands und der USA Subventionen in Höhe von 1,9 Mrd. US-Dollar. Moderna gab im letzten Jahr überhaupt keine eigenen Finanzmittel für die Impfstoffentwicklung aus, erhielt dafür vom US-Gesundheitsministerium aber drei Mrd. Dollar. Schließlich bestellten Staaten weltweit bei Moderna und Biontech/Pfizer bereits bis Ende 2020 über eine Mrd. Impfdosen – noch bevor sie die Wirksamkeit des Impfstoffs kannten. Diese Übernahme des Risikos ist eine weitere riesige öffentliche Subvention.

Gesundheit – vom Gut zur Ware

Biontech/Pfizer und Moderna werden daher bereits im laufenden Jahr mit den Corona-Impfstoffen weit mehr verdienen, als sie selbst für Forschung und Entwicklung ausgegeben haben. Laut den im Mai veröffentlichten Geschäftsberichten verzeichnete Biontech/Pfizer bereits im ersten Quartal 2021 einen gewaltigen Umsatzsprung auf 2,05 Mrd. Euro – im Vergleich zu 27,7 Mio. im ersten Quartal 2020. Der Gewinn betrug 1,13 Mrd. Euro. Für das Gesamtjahr 2021 erwartet das Unternehmen einen Umsatz von mindestens 26 Mrd. Euro und einen Gewinn von über 6 Mrd. Moderna steigerte seinen Umsatz im ersten Quartal auf 1,9 Mrd. US-Dollar, gegenüber nur acht Mio. 2020, und machte einen Gewinn von 1,2 Mrd. – nach einem Verlust von 124 Mio. im ersten Quartal 2020.

Die Patentierung von überlebenswichtigen Medikamenten und Impfstoffen ist der politisch und moralisch skandalöseste Ausdruck der Umwandlung des öffentlichen Gutes Gesundheit zu einer privatwirtschaftlich gehandelten, rein profitorientierten Ware. Diese Umwandlung begann spätestens in den 1980er Jahren.

Damals setzten US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Maggy Thatcher das neoliberale Mantra der Chicago-Boys auch in den Gesundheitssystemen ihrer Länder durch: Deregulierung, Privatisierung und Gewinnmaximierung durch Abbau der öffentlich finanzierten Einrichtungen und Vorsorge lautete die Devise.

Ende der 80er Jahre drückten die USA und Großbritannien mit Unterstützung oder zumindest Duldung anderer Industriestaaten auch bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Kurswechsel durch: weg von Präventionsmaßnahmen durch die Schaffung gesundheitsfördernder Lebensumstände sowie den Aufbau und die Unterstützung öffentlicher Gesundheitssystemen vor allem in den ärmeren Ländern hin zu einer immer stärker an den Interessen von Pharmakonzernen orientierten technischen Gesundheitspolitik.

Zudem sorgten die USA 1993 dafür, dass die Pflichtbeiträge der 194 Mitgliedstaaten an die WHO eingefroren wurden. Deren Anteil am Budget der WHO sank seitdem kontinuierlich – von damals über 80 Prozent auf heute gerade noch 20 Prozent. Heute ist die WHO zu 80 Prozent abhängig von Spenden wohlhabender Regierungen, Stiftungen und Pharma-Unternehmen. Fast alle diese Spenden sind zweckgebunden.

1994 wurde auf Drängen der Vereinigten Staaten und unterstützt von der EU, Japan und anderen Industriestaaten das TRIPS-Abkommen vereinbart, dessen Ratifizierung seitdem Bedingung für eine Mitgliedschaft in der WTO ist. Vorausgegangen war eine mehrjährige Lobbykampagne von dreizehn US-Unternehmen, initiiert und angeführt vom Pharmakonzern Pfizer, die die Maximierung von Privilegien an geistigem Eigentum zur Top-Priorität der US-Handelspolitik machte. In den Folgejahren verhinderten die Pharmakonzerne unter Berufung auf ihre im TRIPS-Abkommen verbrieften Patentrechte, dass Indien, Südafrika und andere Länder preislich erschwingliche Generika für Aids-Präparate in besonders von Aids betroffenen afrikanische Staaten exportieren konnten. Erst 2001 wurde die Klausel mit der Möglichkeit zur zeitweisen Aussetzung der Patentrechte in das TRIPS-Abkommen eingefügt.

An sämtlichen Entscheidungen im Rahmen der WTO war aus Europa nur die EU-Kommission beteiligt. Der Deutsche Bundestag wie die nationalen Parlamente der anderen EU-Staaten und auch das EU-Parlament haben ihre Mitwirkungspflichten an der Außenwirtschaftspolitik schlicht nicht wahrgenommen. Das gilt auch für alle anderen Handelsverträge, die die EU-Kommission seit 1994 im Rahmen der WTO und ihres Vorgängers GATT (Allgemeines Zoll und Handelsabkommen) abgeschlossen hat. Dabei handelt es sich um einen demokratischen Dauerskandal mit – wie die Coronakrise zeigt – verheerenden Auswirkungen auf die Gesundheit von Milliarden von Menschen.

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