Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Unterbringung von Abschiebehäftlingen, 17.7.2014
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C‑473/13
9 Frau Bero, die nach den Angaben des vorlegenden Gerichts mutmaßlich syrische Staatsangehörige ist, beantragte in Deutschland Asyl. Da dieser Antrag abgelehnt wurde, beantragte die Ausländerbehörde beim Amtsgericht Frankfurt am Main ihre Abschiebung aus Deutschland. Dieses Gericht ordnete am 6. Januar 2011 an, dass Frau Bero bis zum 17. Februar 2011 in Abschiebungshaft zu nehmen sei. Die von ihr dagegen eingelegte Beschwerde wurde vom Landgericht Frankfurt am Main zurückgewiesen.
10 Da es in Deutschland Aufgabe der Länder ist, die Abschiebungshaft zu vollziehen, brachte das Land Hessen Frau Bero in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt, einer gewöhnlichen Haftanstalt, unter. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass es im Land Hessen – anders als in anderen Bundesländern dieses Mitgliedstaats – keine spezielle Hafteinrichtung im Sinne der Richtlinie 2008/115 gebe.
11 Am 2. Februar 2011 wurde Frau Bero infolge einer Eingabe an die Härtefallkommission des Landes Hessen aus der Haft entlassen. Mit ihrer beim vorlegenden Gericht eingelegten Rechtsbeschwerde will sie die Feststellung erreichen, dass die Anordnung der Haft durch das Amtsgericht Frankfurt am Main und die Zurückweisung der Beschwerde durch das Landgericht Frankfurt am Main sie in ihren Rechten verletzt haben.
12 Der Bundesgerichtshof ist der Ansicht, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung des Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 abhänge.
13 Er hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ergibt sich aus Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 auch dann die Verpflichtung eines Mitgliedstaats, Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen, wenn solche Einrichtungen nur in einem Teil der föderalen Untergliederungen dieses Mitgliedstaats vorhanden sind, in anderen aber nicht?
Rechtssache C‑514/13
14 Herr Bouzalmate, ein marokkanischer Staatsangehöriger, reiste am 24. September 2010 illegal nach Deutschland ein und beantragte am 8. Oktober 2010 seine Anerkennung als Asylberechtigter.
15 Mit Bescheid vom 12. Januar 2012, der am 25. Januar 2012 bestandskräftig und vollziehbar wurde, wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge diesen Antrag ab und forderte den Betroffenen unter Androhung der Abschiebung in sein Heimatland auf, Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Am 2. März 2012 meldete die Stadt Geldern (Kreis Kleve), der Herr Bouzalmate zugewiesen worden war, ihn nach unbekannt ab.
16 Herr Bouzalmate wurde am 25. März 2013 festgenommen. Am 9. April 2013 wurde er vom Amtsgericht München wegen unerlaubten Aufenthalts zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten auf Bewährung verurteilt. Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft sprach der Betroffene weder bei der Ausländerbehörde des Landratsamts Kleve noch bei einer anderen Behörde vor.
17 Am 13. Juli 2013 wurde Herr Bouzalmate in München erneut festgenommen. Mit Bescheid vom 26. Juli 2013 ordnete das Amtsgericht München Abschiebungshaft für höchstens zehn Wochen ab dem 14. Juli 2013 an, also längstens bis zum 21. September 2013.
18 Nach einem Suizidversuch wurde Herr Bouzalmate am 12. September 2013 in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Aufgrund dessen stornierte die Ausländerbehörde des Landratsamts Kleve den für den 16. September 2013 bestimmten Termin für seine Abschiebung.
19 Nachdem die psychiatrische Behandlung von Herrn Bouzalmate am 20. September 2013 abgeschlossen war, ordnete das Amtsgericht München auf weiteren Antrag des Landratsamts Kleve mit Beschluss vom selben Tag die weitere Abschiebungshaft gegen Herrn Bouzalmate in der Justizvollzugsanstalt München, Abteilung Abschiebungshaft, bis zur möglichen Abschiebung an, längstens jedoch bis zum 19. Oktober 2013.
20 Herr Bouzalmate legte gegen den Beschluss des Amtsgerichts München beim Landgericht München I Beschwerde ein.
21 Da sich das Landgericht München I über die in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Inhaftierung der unter die Richtlinie fallenden Personen in speziellen Hafteinrichtungen im Unklaren ist, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ergibt sich aus Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 auch dann die Verpflichtung eines Mitgliedstaats, Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen, wenn solche Einrichtungen nur in einem Teil der föderalen Untergliederung dieses Mitgliedstaats vorhanden sind, in einem anderen, in dem nach den Vorgaben der föderalen Untergliederung dieses Mitgliedstaats die Haft vollzogen wird, aber nicht?
22 Auf Antrag des vorlegenden Gerichts hat die hierfür bestimmte Kammer geprüft, ob es erforderlich ist, die vorliegende Rechtssache im Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu entscheiden. Sie hat nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, diesem Antrag nicht stattzugeben.
23 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Oktober 2013 sind die Rechtssachen C‑473/13 und C‑514/13 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
24 Mit ihren Fragen möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat auch dann verpflichtet ist, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung dieses Staates in Abschiebungshaft zu nehmen, wenn er föderal strukturiert ist und die nach nationalem Recht für die Anordnung und Vollziehung einer solchen Haft zuständige föderale Untergliederung über keine solche Hafteinrichtung verfügt.
25 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 den Grundsatz aufstellt, dass die Inhaftierung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Abschiebung in speziellen Hafteinrichtungen erfolgt. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 sieht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, die als solche eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 86).
26 Wie die deutsche Regierung ausgeführt hat, ist Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 nicht in allen Sprachfassungen gleich formuliert. In der deutschen Fassung lautet diese Bestimmung: „Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.“ In den anderen Sprachfassungen nimmt diese Bestimmung keinen Bezug darauf, dass keine speziellen Hafteinrichtungen vorhanden sind, sondern darauf, dass ein Mitgliedstaat die Drittstaatsangehörigen „nicht“ in solchen Hafteinrichtungen unterbringen „kann“.
27 Nach Auffassung der deutschen Regierung lassen diese anderen Sprachfassungen des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 den nationalen Behörden größere Spielräume als die deutsche Fassung, so dass die Unmöglichkeit, die betreffenden Drittstaatsangehörigen in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen, auch darauf zurückzuführen sein könne, dass in der föderalen Untergliederung eines Mitgliedstaats, die nach innerstaatlichem Recht für die Vollziehung der Haft zuständig sei, keine spezielle Hafteinrichtung vorhanden sei.
28 Hierzu ist festzustellen, dass die in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Verpflichtung, die Haft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen, den Mitgliedstaaten als solche obliegt, und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen Verwaltungs- oder Verfassungsstruktur.
29 Die nationalen Behörden, die die zur Umsetzung von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 erlassenen nationalen Rechtsvorschriften anzuwenden haben, müssen daher in der Lage sein, die Haft in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen.
30 Ist die Anwendung der zur Umsetzung von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 erlassenen nationalen Rechtsvorschriften in einem Mitgliedstaat den Behörden einer föderalen Untergliederung übertragen, kann es somit keine hinreichende Umsetzung der Richtlinie 2008/115 durch diesen Mitgliedstaat darstellen, wenn die zuständigen Behörden in bestimmten föderalen Untergliederungen über die Möglichkeit verfügen, solche Unterbringungen vorzunehmen, in anderen dagegen nicht.
31 Diese Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bedeutet aber nicht, dass ein Mitgliedstaat, der wie die Bundesrepublik Deutschland föderal strukturiert ist, verpflichtet wäre, in jeder föderalen Untergliederung spezielle Hafteinrichtungen zu errichten. Es muss jedoch insbesondere durch Vereinbarungen über die Verwaltungszusammenarbeit sichergestellt werden, dass die zuständigen Behörden einer föderalen Untergliederung, die nicht über solche Hafteinrichtungen verfügt, die abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in speziellen Hafteinrichtungen in anderen föderalen Untergliederungen unterbringen können.
32 Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat auch dann verpflichtet ist, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung dieses Staates in Abschiebungshaft zu nehmen, wenn er föderal strukturiert ist und die nach nationalem Recht für die Anordnung und Vollziehung einer solchen Haft zuständige föderale Untergliederung über keine solche Hafteinrichtung verfügt.
[...]
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat auch dann verpflichtet ist, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung dieses Staates in Abschiebungshaft zu nehmen, wenn er föderal strukturiert ist und die nach nationalem Recht für die Anordnung und Vollziehung einer solchen Haft zuständige föderale Untergliederung über keine solche Hafteinrichtung verfügt.
Das vollständige Urteil finden Sie hier.