Dokumente zum Zeitgeschehen

»Abschied von der Vergangenheit«

Ergebnisse des Forschungsprojekts der Göttinger Universität für Demokratieforschung zum Umgang der Grünen mit Pädophilie, 12.11.2014

Im Jahr des Bundestagswahlkampfes entbrannte eine breite politische Debatte über die Frage, wie die Grünen in ihren Anfangsjahren zum Thema Pädosexualität standen. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat auf Bitten von Bündnis 90/Die Grünen ein Forschungsprojekt zur Pädophilie-Debatte in und im Umfeld der grünen Partei durchgeführt. Um diese Debatte angemessen zu verstehen, wurden sowohl ihre historischen Wurzeln als auch ihr konkreter Verlauf, ihre Hintergründe und Akteure eingehend untersucht. Dabei wurden um- fangreiche Literatur- und Archivrecherchen durchgeführt. Wesentliche Zwischenergebnisse und Überlegungen sind im Verlauf des Projekts publiziert worden. Eine ausgiebige Analyse der damaligen Debatte bei den Grünen, in ihrem organisatorischen Vor- und Umfeld sowie im gesellschaftlichen Diskurs insgesamt ist nunmehr in einem Sammelband publiziert worden. Vorliegend werden die Erkenntnisse und Ergebnisse der Untersuchung dargelegt. Auf eine Angabe von Verweisen und Nachweisen wird an dieser Stelle verzichtet und dazu ebenso auf den Sammelband sowie auf den ausführlichen Zwischenbericht verwiesen. Gleiches gilt für das wissenschaftliche Vorgehen wie auch für die Darlegung der verwendeten Begrifflichkeiten. 

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Der Eklat von Lüdenscheidt als Wendepunkt

Die Beschlussfassung des nordrhein-westfälischen Landtagswahlprogramms von 1985 offenbarte diese organisatorischen Mängel in aller Deutlichkeit. Es war die dortige Landesarbeitsgemeinschaft SchwuP, die im September 1984 den Antrag einreichte, die §§ 174–176 StGB zu streichen. Die Landesdelegiertenkonferenz überwies den Antrag daraufhin an eine kurzfristig einberufene Arbeitsgruppe „Sexualität und Herrschaft“. Diese legte ein Papier vor, welches die vorhandenen strittigen Positionen nochmals offenlegte und auch als solche kennzeichnete. Die Delegierten erhielten zudem von der SchwuP als auch von der opponierenden Landesarbeitsgemeinschaft der Frauen ausführliches Informationsmaterial. In einer polarisierten dreistündigen Debatte billigte die Landesdelegiertenkonferenz sodann mit Mehrheit in geheimer Abstimmung den vorliegenden Text als sogenanntes Arbeitspapier, womit sich auch eine in der Sache eigentlich gegenteilig eingestellte Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Frauen einverstanden erklärte, da dieses aus ihrer Sicht die Voraussetzung sei, um die Diskussion hernach überhaupt führen zu können. Die spitzfindige Unterscheidung zwischen Arbeitspapier und dem ohnehin über 600 Seiten fassenden Wahlprogramm, welches die Wendung übernahm „daß einvernehmliche sexuelle Beziehungen grundsätzlich nicht kriminalisiert werden dürfen. Umstritten ist nur das WIE“, verstanden zum Teil noch nicht einmal die Parteimitglieder. Der darauf folgende öffentliche Aufschrei und die Drohung etlicher Kreisverbände, den Wahlkampf einzustellen, veranlasste den Landesverband schließlich zu einer programmatischen Revision. Diese war gleichwohl – vorwiegend aus formalen Gründen und wegen des Festhaltens an identitären Demokratievorstellungen – in einigen Kreisverbänden hoch umstritten.

Eine besondere Aufmerksamkeit bekam die Debatte um das nordrhein-westfälische Programm auch deswegen, weil wenige Wochen nach der Programmrevision ein grüner Kommunalpoli- tiker mit dem begründeten Verdacht festgenommen wurde, ein zweijähriges Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Die Grünen wirkten dadurch als Partei, in der straffällig gewordene Pädosexuelle ihre Forderungen einbringen und Funktionen übernehmen konnten. Freilich, wir wissen heute, dass es sich nicht um den einzigen Grünen gehandelt hat, dem ein solches Verbrechen zur Last gelegt wird.

Die Gesamtschau über die Grünen Programme zeigt, dass die vorhandenen Beschlüsse und Entscheidungen mehr als lediglich Einzelfälle sind, allerdings sind eben auch keineswegs alle Programme von solchen Forderungen durchsetzt gewesen. Zumeist sind keine entspre- chenden Beschlüsse nachweisbar beziehungsweise zeigten sich die Grünen reichlich desinteressiert, was Fragen der Pädosexualität anging. So sind die allermeisten im Zuge der Forschungsarbeit durchgesehenen kommunalen Wahlprogramme davon ebenso wenig tangiert wie auch die Mehrzahl der Landeswahlprogramme keine Hinweise beinhalten, dass das The- ma Pädosexualität irgendeine Rolle gespielt haben könnte. Für Hessen, Bayern und mit Abstrichen Berlin lässt sich zudem zeigen, dass entsprechende Forderungen sogar ausdrücklich zurückgewiesen wurden.

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Abschied von der Vergangenheit

Anfang der 1990er Jahre vollzog sich eine Parteitransformation der Grünen. Radikalökologen, Ökosozialisten und auch manch pragmatisch gesonnenen Grüne verließen die Partei, die sich durch die Fusion mit dem ostdeutschen Bündnis 90 dann weiterwandelte. In Zuge dessen lösten sich die Grünen zugleich von einigen politischen Debatten der 1980er Jahre. Einst zentrale wie auch bald als abseitig empfundene Positionen gerieten in Vergessenheit oder wurden unter dem Druck der politischen Verhältnisse marginalisiert. Darüber rekonstituierte sich die Partei gleichsam und richtete ihre immer noch vorhandenen Grundüberzeugungen an den sich gewandelten politischen An- und Herausforderungen aus.

Dadurch wurde dieser Teil der programmatischen Vergangenheit der Grünen von vielen der älteren Mitglieder vergessen oder verdrängt. Für die jüngeren war hingegen kaum vorstellbar, dass ihre Partei sich einmal so positioniert hatte. Obwohl nahezu sämtliche Abhandlungen über die Grünen bis in die frühen 1990er Jahre hinein zumindest die Debatte um das nordrhein- westfälische Wahlprogramm von 1985 aufgriffen und obwohl Mitte der 1990er Jahre die CSU die Grünen mit ihrer pädosexuellen Vergangenheit konfrontierte und der Parteivorstand der Grünen damals ein Argumentationspapier zur Entkräftung der Vorhaltungen herausgab, hielt das kollektive Gedächtnis der Grünen die Erinnerung an diesen Teil ihrer Geschichte nicht lebendig. Dies spiegelte sich in der Debatte 2013 im ebenso ratlosen wie irritiertem Auftritt der Funktionsträger der Partei als auch im den oft pikierten Reaktionen gerade der älteren Mitglieder wider, wenn diese sich überhaupt an die hier behandelte Episode der eigenen poli- tischen Vergangenheit erinnern konnten oder wollten.

Der zuweilen lapidare Verweis auf den damaligen Zeitgeist und der Mangel an offenen, nachdenklichen und selbstkritischen Erklärungsversuchen standen im deutlichen Gegensatz zu den geschichtspolitischen Ansprüchen und Forderungen, welche vor allem die Altvorderen der Grünen stets für sich proklamiert haben, als sie in den 1960er und 1970er Jahren das hartnäckige Schweigen der Elterngeneration über deren Vergangenheit beklagten und einer scharfen Kritik mit aufklärerischer Verve unterzogen. Grüne hatten auch deswegen ihre politischen Ziele mit Prinzipien der politischen Moral verbunden. Dieser hohe Anspruch bekam 2013 durch die Debatte Risse und zwar unabhängig davon, ob es in der grünen Kerngeneration nennenswert Pädophilie-Befürworter gegeben hat.

Allerdings ist ebenso bemerkenswert, wie wenig die Debatte auch abseits der Grünen selbst in Erinnerung geblieben ist, wie stark mediale Vertreter oder politische Gegner ihre Auseinandersetzung mit der Pädosexualität bei den Grünen an Opportunitäten ausrichten. Die CDU, die bis zum Tag der Bundestagswahl geradezu im Zustand der Dauerempörung war, allen voran ihr hessischer Landesverband, gab mit Blick auf die schwarz-grüne Koalitionsoption in Hessen die scharfe Kritik an den Grünen auf. In den Medien verlor man ebenfalls weitgehend die Lust daran, Details der programmatischen Verirrungen weiter zu identifizieren oder bedauerte schlicht den Abgang jener Personen, die aus unterschiedlichen Gründen mit der Debatte in Verbindung stehen. Ob Volker Beck mit seinem von taktischen Motiven gekennzeichneten, aber am Ende nicht autorisierten Text in einem Sammelband, ob Jürgen Trittin mit seiner presserechtlichen Verantwortung für ein kommunales Wahlprogramm oder Daniel Cohn-Bendit mit seiner geradezu selbstgefälligen und auch im damaligen Kontext unverantwortlichen biographischen Prosa, sie alle fehlten in der Zwischenzeit den Journalisten in Berlin wie jetzt ebenfalls – im Falle Cohn-Bendits – in Paris.

Eine vollständige Zusammenfassung der Studie finden Sie hier (pdf).